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Veröffentlicht am 20.08.2021

Lebenslange Sehnsucht nach Aufmerksamkeit und Liebe

Die Überlebenden
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Alex Schulman, geboren 1976 in Schweden, ist in seiner Heimat als Journalist, Autor mehrerer autobiografischer Bücher über seine Familie, Blogger, Podcaster und aus Fernsehen und Radio sehr populär. Sein ...

Alex Schulman, geboren 1976 in Schweden, ist in seiner Heimat als Journalist, Autor mehrerer autobiografischer Bücher über seine Familie, Blogger, Podcaster und aus Fernsehen und Radio sehr populär. Sein Romandebüt "Die Überlebenden" war in seinem Heimatland ein großer Erfolg, wobei schwedische Leser Teile seiner Familiengeschichte in dieser fiktionalen Erzählung wiederfinden.

Drei Brüder
Zu Beginn eine filmreife Szene: Drei Männer in schwarzen Anzügen und Krawatten sitzen in einer Juninacht auf der Steintreppe vor einem abgelegenen, verwitterten roten Sommerhaus am See und halten sich weinend im Arm. Neben ihnen steht die Urne mit der Asche ihrer Mutter, die sie nach deren letztem Willen im See verstreuen sollen. Benjamin, der mittlere der Brüder, hat die Polizei und einen Krankenwagen gerufen, denn kurz zuvor hätten sich Nils, der ältere, und Pierre, der jüngste, fast totgeschlagen. Was ist geschehen?

"Was sich hier auf der Steintreppe abspielt, das Weinen der drei Brüder, die geschwollenen Gesichter und all das Blut, ist nur der letzte Ring auf dem Wasser, der äußerste, der am weitesten vom Einschlagpunkt entfernt ist." (S. 13)

Eine außergewöhnliche Struktur
Alex Schulman erzählt den Roman konsequent aus Benjamins Sicht. In zwei Teilen, untergliedert in insgesamt 24 Kapitel, wechseln sich zwei Zeitebenen ab. In der Gegenwartsebene wird der Tag der Urnenbeisetzung im Zweistundenrhythmus rückwärts erzählt. Dazwischen gibt es Episoden aus der Kindheit, später aus dem jugendlichen und dem Erwachsenenleben der Brüder, durch Schlüsselwörter verzahnt. Beide Ebenen nähern sich kontinuierlich an, bis sie zuletzt verschmelzen.

Bei den Erlebnissen im ersten Teil aus dem letzten Sommer am See sind die Brüder dreizehn, neun und sieben Jahre alt. Die idyllische Umgebung steht in diametralem Kontrast zum überwiegend düsteren Alltag einer dysfunktionalen Familie, in der die Kinder nur selten die ersehnte Aufmerksamkeit und Liebe der Eltern erhalten. Vom Alkohol vernebelt demonstrieren die Eltern meist Desinteresse, sind launisch und unberechenbar, verhängen sadistische Strafen und riskieren leichtfertig das Leben ihrer Kinder. Krassestes Beispiel dafür ist ein vom Vater ausgerufener Schwimmwettbewerb, bei dem die Brüder fast ertrinken, die Eltern sich jedoch inzwischen ins Haus zurückgezogen und die drei vergessen haben.

Unterschiedliche Strategien
Benjamin ist der sensibelste unter den Brüdern, der Familienseismograf, der die Stimmungen präzise auslotet und sogar vorhersieht. Nils, begabt und Hoffnungsträger der Eltern, zieht sich so weit als möglich in seine eigene Welt zurück. Pierre wird mit den Jahren brutal und aggressiv nach außen, behält aber wie die anderen einen weichen, verletzlichen Kern.

Das fehlende Puzzleteil
Alex Schulman geht in "Die Überlebenden" den Fragen nach, wie es zur Entfremdung der Brüder kommen konnte und was das Leben in einer dysfunktionalen, von Schweigen bestimmten Familie auslöst. Selten hat mich ein Roman auf den letzten Seiten derart überrascht wie dieser, obwohl ich beim Lesen von Beginn an eine unerklärliche Unruhe verspürte. Erst ganz zum Schluss wurde mir klar, dass ein fehlendes Puzzleteil dafür verantwortlich war.

Diese genial angelegte Wendung, die gekonnte Verzahnung der Zeitebenen, die erschütternden Kindheitserlebnisse und die stark verdichtete, mit beklemmenden Bildern unterlegte Erzählweise werden mir dauerhaft im Gedächtnis bleiben. Ich freue mich auf weitere Romane von Alex Schulman!

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Veröffentlicht am 02.07.2021

Wie gut kennen wir unsere Nächsten?

Tiefer Fjord
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Thriller lese ich eher selten, aber hier haben mich Autorin und Übersetzer neugierig gemacht. Ruth Lillegraven lernte ich 2019 beim Gastlandauftritt Norwegens auf der Frankfurter Buchmesse bei einem „Kaffeslabberas“ ...

Thriller lese ich eher selten, aber hier haben mich Autorin und Übersetzer neugierig gemacht. Ruth Lillegraven lernte ich 2019 beim Gastlandauftritt Norwegens auf der Frankfurter Buchmesse bei einem „Kaffeslabberas“ kennen, damals als Autorin preisgekrönter Lyrik, des Romans "Sichel" in Form eines Langgedichts und von Kinderbüchern. Dass sie 2018 auch einen Psycho-Thriller geschrieben hat, der nun unter dem Titel "Tiefer Fjord" auf Deutsch erschien, hat mich bei dieser 1978 geborenen, sehr zurückhaltenden Frau überrascht, ebenso wie Hinrich Schmidt-Henkel als Übersetzer, der beispielsweise die sehr literarischen Roman von Tarjei Vesaas fantastisch ins Deutsche übertragen hat.

In der Tat ist "Tiefer Fjord" in vielerlei Hinsicht ein besonderer Thriller. Der norwegische Originaltitel Alt er mitt (Alles ist mein) ist einem Gedicht des schwedischen Literaturnobelpreisträgers Pär Lagerkvist (1891 - 1974) entnommen, den ein Protagonist ahnungsvoll zitiert:

Alles ist mein, alles wird mir genommen, schon bald wird mir alles genommen. (S. 171)

Risse in der Fassade
Clara Lofthus und Haavard Fougner sind ein junges Vorzeigepaar mit einer Villa im Osloer Westen und Zwillingen. Beide sind beruflich sehr engagiert und erfolgreich, Clara als Juristin im Justizministerium, Haavard als Kinderarzt in Norwegens größtem Krankenhaus Ullevål. Ihre Vergangenheit könnte jedoch unterschiedlicher nicht sein: Während Clara eine traumatisierende Kindheit auf einem Hof in West-Norwegen verbrachte, kam Haavard in Oslo mit dem sprichwörtlichen goldenen Löffel im Mund zur Welt.

Hinter der Fassade ihrer Ehe klaffen tiefe Risse. Für Haavard ist die willensstarke und kompromisslose Clara längst nicht mehr das ungezähmte, erfrischend andere „Naturkind“, sondern die „Eiskönigin“, die seit einem Unfall vor 30 Jahren nicht mehr weinte. Haavard dagegen ist zwar nach außen warm und umgänglich, bei Nähe jedoch kühl. Die Affäre mit seiner Kollegin Sabiya ist nicht seine erste.

Eines verbindet Clara und Haavard jedoch: ihr Engagement gegen Kindesmisshandlung. Clara arbeitet an einem Gesetzesvorschlag zur verschärften Überwachung und Meldepflicht, Haavard wird mit Fällen dieser Art bei der Arbeit konfrontiert. Als wieder einmal ein gewalttätiger, pöbelnder pakistanischer Einwanderer mit seinem sterbenden Kind kommt, will er nicht mehr tatenlos zusehen. Kurze Zeit später ist der Vater tot…

Ein Psycho-Thriller mit ungeheuerem Sog
"Tiefer Fjord" hat genau, was für mich einen Thriller lesenswert macht: eine extrem spannende Handlung mit für mich völlig unvorhersehbaren Wendungen und interessante Themen wie Kindesmisshandlung und Rassismus. Dazu gibt es tiefe Einblicke in den norwegischen Verwaltungs- und Politikbetrieb, den Ruth Lillegraven aus langjähriger Arbeit im Verkehrsministerium bestens kennt, und traumhafte Beschreibungen ihrer Heimat West-Norwegen. Auch die Erzählweise hat mir sehr zugesagt: 75 kurze Kapitel aus der Sicht verschiedener Ich-Erzählerinnen und -Erzähler, meist Clara und Haavard, und verschiedene Zeitebenen bis zurück zu Claras Geburt. Eine völlig untergeordnete Rolle spielt dagegen die Polizei. Alles ist perfekt konstruiert, vielleicht zu perfekt, um wirklich so passiert zu sein, aber das hat mich nicht gestört.

Völlig unverständlich ist für mich allerdings die Wahl des Covers, das keinerlei Bezug zu Titel oder Inhalt hat. Warum nicht ein Fjord oder zumindest Wasser?

Es geht weiter
Da der Thriller als Mehrteiler angelegt ist – der zweite Band erschien soeben in Norwegen unter dem Titel "Av mitt blod" –, werden längst nicht alle Handlungsstränge aufgelöst. Hoffentlich geht es auch auf Deutsch bald weiter!

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Veröffentlicht am 10.06.2021

Wenn es raucht, blubbert, zischt und speit

Wieso? Weshalb? Warum? Erstleser, Band 2: Vulkane
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Nicht alle Kinder lieben Geschichten so sehr, dass sie dafür die Mühen des Lesens auf sich nehmen. Manche von ihnen lassen sich jedoch von Erstleser-Sachbüchern verführen. Im Ravensburger Verlag gibt es ...

Nicht alle Kinder lieben Geschichten so sehr, dass sie dafür die Mühen des Lesens auf sich nehmen. Manche von ihnen lassen sich jedoch von Erstleser-Sachbüchern verführen. Im Ravensburger Verlag gibt es seit über 20 Jahren die Reihe "Wieso? Weshalb? Warum?" mit verschiedenen Unterreihen für unterschiedliche (Vor-)Lesealter und Bedürfnisse. Neu hinzugekommen ist nun die Unterreihe "Erstleser" mit zunächst vier Bänden: "Dinosaurier", "Vulkane", "Wale und Delfine" sowie "Weltraum". Im Vordergrund steht hier das Lesetraining, das mit interessantem, kindgerecht aufbereitetem Sachwissen, mit Rätseln, Quiz, Stickern und einem selbstgebastelten Lotto richtig Spaß machen soll.

Wie bei Erstleserbücher üblich, sind die Bände in großer Fibelschrift gedruckt, die Zeilen kurz und im Flattersatz gesetzt, es gibt kaum Nebensätze, die vier Hauptkapitel und zahlreichen Unterkapitel sind jeweils mit einer Frage überschrieben und das Textverständnis wird durch unzählige Fotos und Illustrationen erleichtert.

Die vier Hauptkapitel, die jeweils fünf bis sechs Doppelseiten umfassen, sind übersichtlich in vier Farben gehalten. Im Band "Vulkane" heißen sie:

Was ist ein Vulkan?
Wo gibt es ganz besondere Vulkane?
Wie leben Menschen mit Vulkanen?
Welche Vulkane stellen Rekorde auf?

Auf jedes Hauptkapitel folgt eine Doppelseite mit Leserätseln, am Ende des Bandes ein Lesequiz, die Lösungen und eine Bastelvorlage für ein Leselotto. Die Doppelseite mit den Island-Stickern in der Mitte des Buches hätte es für mich nicht gebraucht, macht aber sicher vielen Kindern Spaß. Sehr nett ist der kleine grüne Drache, der in Sprechblasen witzige, überraschend einfache Erklärungen zu komplizierten Sachverhalten gibt.

Natürlich bleibt es bei einem Sachbuch über Vulkane nicht aus, dass schwierige Wörter wie Tsunami, Magmakammer, Seitenschlot, Schlackenkegel oder Geysir vorkommen und auch der berühmte isländische Vulkan Eyjafjallajökull darf nicht fehlen. Soweit sich die Begriffe nicht anhand der anschaulichen Bilder von selbst erschließen, sind also hin und wieder die Erwachsenen gefragt. Da Kinder jedoch erfahrungsgemäß bei Themen, die sie fesseln, über sich hinauswachsen, eignet sich der sehr lebendige Band für die zweite Lesestufe ab Mitte der zweiten Klasse und die gesamte Grundschulzeit oder zum Vorlesen ab sechs.

Veröffentlicht am 09.06.2021

Die eigene Hölle

Die Beichte einer Nacht
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Die eigene Hölle

"Ich setze mich zu Ihnen, Schwester. Das ist nicht erlaubt, ich weiß es. Aber ich mache es trotzdem – ich habe so lange nicht mehr auf einem Stuhl gesessen, an einem Tisch mit einer Lampe ...

Die eigene Hölle

"Ich setze mich zu Ihnen, Schwester. Das ist nicht erlaubt, ich weiß es. Aber ich mache es trotzdem – ich habe so lange nicht mehr auf einem Stuhl gesessen, an einem Tisch mit einer Lampe drauf." (S. 7)

Mit diesen Worten beginnt die Ich-Erzählerin Heleen eine ungeschönte Lebensbeichte und bricht nach sieben Monaten in einer Nervenheilanstalt ihr Schweigen. Anders als der deutsche Romantitel "Die Beichte einer Nacht" es nahelegt, sind es zwei Nächte, in denen Heleen einer Nachtschwester ungeschönt ihr Leben erzählt, hauptsächlich, um sich selbst Klarheit zu verschaffen:

"Ich liege da und will begreifen – ich suche und finde immer wieder andere Gründe, warum das Unglück geschehen musste. Aber den ursächlichen Grund finde ich nicht." (S. 164)

Die handarbeitende Schwester bleibt völlig stumm, nur Randbemerkungen lassen ihre Reaktionen erahnen. Dass der Tag zwischen den beiden Nächten eine Veränderung für Heleen bringt, legt nahe, dass die Zuhörerin wider Willen aufmerksam lauscht - bis Heleen nach zwei Nächten mit den Worten endet:

"Schwester! Was machen Sie jetzt? Beten Sie? Für mich?" (S. 263)

Aufstieg und Fall einer schönen Frau
Als ältestes von zehn Kindern einer durch einen Unfall des Vaters verarmten niederländischen Bürgersfamilie muss Heleen früh Verantwortung übernehmen, besonders für die jüngste Schwester Lientje. Ein Ausweg scheint nach nur sechs Schuljahren die Arbeit im Schneideratelier einer Französin. Dort lernt sie einen Handelsvertreter kennen, der ihr den Weg in die Stadt ebnet:

"Meine Wahl war nicht falsch. Ich bereue sie nicht." (S. 78)

Mit Ehrgeiz, Fleiß und dank ihrer Schönheit schafft sie den beruflichen, später auch den gesellschaftlichen Aufstieg, immer bemüht, „nicht billig zu sein“, bleibt aber trotz ihrer Männerbekanntschaften zutiefst einsam. Mitte 20 beginnt ihre Angst vor dem Alter und sie geht eine kurze, traumatische Ehe mit einem reichen Kunstkritiker ein:

"Bis heute ist mir unklar, warum ich ihn geheiratet habe. Ich muss taub und blind gewesen sein - oder so müde, dass mir alles egal war außer meiner eigenen Bequemlichkeit". (S. 121)

Als das Glück dann in Person des Sportlehrers Hannes doch noch vor ihrer Tür steht, kann ihm nicht trauen. Die Liebe macht sie verletzlich, ihr Selbstvertrauen leidet unter ihrer vergehenden Schönheit und das Drama nimmt seinen Lauf.

Ein Roman mit Sog
"Die Beichte einer Nacht" konnte ich, einmal begonnen, nicht mehr aus der Hand legen. Die faszinierende Erzählform in Kombination mit der von Beginn an heraufziehenden Katastrophe, die genaue Innenperspektive einer tragischen Frauenfigur, die detaillierte Beschreibung des sozialen Umfelds und aller Figuren sowie die Anklage gegen die zeitgenössische Psychiatrie machen für mich diesen unbekannten Klassiker zu einer unbedingt lesenswerten Entdeckung.

Kein bisschen verstaubt
Als der Roman der niederländischen Jüdin Marianne Philips (1886 – 1951) im Jahr 1930 unter dem Titel "De Biecht" erschien, war er Teil einer Therapie im Rahmen einer Psychoanalyse. 1913 hatte die Autorin wegen einer Wochenbett-Depression bereits sechs Monate in einer Nervenklinik verbracht. Auch sonst finden sich zahlreiche Parallelen zur Biografie der politisch bei den Sozialdemokraten engagierten dreifachen Mutter, wie ihre Enkelin, die Historikerin Judith Belinfante, in ihrem sehr lesenswerten Nachwort erklärt. Welch ein Glück, dass der Diogenes Verlag diesen so modern anmutenden Klassiker nun auf Deutsch zugänglich macht. Die wegen seiner Außergewöhnlichkeit zwiegespaltenen Kritiken der Zeitgenossen werden sich heute bestimmt nicht wiederholen.

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Veröffentlicht am 23.04.2021

Irisches Duell

Der Abstinent
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Das Erscheinen der deutschen Übersetzung "Der Abstinent" von Ian McGuires neuestem Roman trifft zeitlich mit beängstigenden Nachrichten über Unruhen in Nordirland zusammen. Seit dem Karfreitagsabkommen ...

Das Erscheinen der deutschen Übersetzung "Der Abstinent" von Ian McGuires neuestem Roman trifft zeitlich mit beängstigenden Nachrichten über Unruhen in Nordirland zusammen. Seit dem Karfreitagsabkommen vom 10. April 1998 einigermaßen befriedet, werden sie nun, exakt 23 Jahre später, von militanten protestantisch-loyalistischen Gruppierungen erneut angeheizt. Aktuelle Gründe sind die Unzufriedenheit über den Bexit-Sonderstatus Nordirlands und eine Nicht-Ahndung von Corona-Verstößen während der Beisetzung eines ehemaligen IRA-Terroristen durch Politiker der katholisch-republikanische Sinn-Fein-Partei.

Nationalismus und Terrorismus
Viel weiter in die Geschichte des Konflikts zurück reicht Ian McGuires düsterer historischer (Kriminal-)Roman. Er beginnt nach der großen irischen Hungersnot Mitte des 19. Jahrhunderts und unmittelbar nach dem Scheitern des Aufstands von 1867 unter Federführung der Fenians, einer geheimen Bruderschaft im Kampf für die irische Unabhängigkeit und Vorgängerorganisation der IRA. Ausgangspunkt für die fiktive Handlung ist ein historisch verbürgtes Ereignis vom 22.11.1867: die Hinrichtung der drei sogenannten "Manchester Martyrs", Mitglieder der Fenians, für den Mord an einem Polizisten.

Zwei Iren auf verschiedenen Seiten
James O’Connor, 34-jähriger Ire, Polizist aus Dublin, arbeitet seit neun Monaten als Constable in Manchester, vorrangig als Kontaktmann für Fenian-Spitzel. Nach dem Tod seines Sohnes, dann vor etwa eineinhalb Jahren seiner Frau, war er dem Alkohol verfallen, lebt nun aber abstinent und nutzt in Manchester seine letzte Chance. Als Ire ist er dem Spott der neuen Kollegen ausgesetzt, sie sticheln, provozieren und misstrauen ihm. Er sitzt zwischen allen Stühlen. Seine Warnung vor einer öffentlichen Hinrichtung stößt bei seinen Vorgesetzten auf Ablehnung:

"Die Soldaten zu holen, war ein Fehler, denkt O’Connor. Gewalt wird das Problem mit den Fenians nicht lösen, und der Anblick der Truppen lässt die Leute glauben, wir befänden uns im Krieg. Solche Machtdemonstrationen führen zu nichts Gutem, man gießt nur Öl ins Feuer. Akribische Ermittlungen und Fingerspitzengefühl, das wird diesen Kampf entscheiden, nicht protzig zur Schau gestellte Grausamkeit. Doch Protz und Grausamkeit sind den Engländern nun mal am liebsten." (S. 15/16)

Kurz nach der Hinrichtung trifft der junge amerikanische Bürgerkriegsveteran Stephen Doyle in Manchester ein. Er ist gebürtiger Ire wie O’Connor, hat wie dieser Armut, Verlust und Gewalt erlebt, und soll im Auftrag einflussreicher amerikanischer Iren die Bruderschaft unterstützen. Sein vorrangiges Ziel ist das Aufspüren und Liquidieren von Verrätern, aber auch ein denkwürdiger Anschlag ist geplant. James O’Connor und Stephen Doyle werden zu Kontrahenten auf Leben und Tod.

Sehr lesenswert
"Der Abstinent" ist der dritte Roman des 1964 geborenen britischen Literaturwissenschaftlers und Autors Ian McGuire und folgt auf "Nordwasser", 2016 für den Man Booker Prize nominiert. Beide Romane sind geprägt von kompromissloser Brutalität und Gewalt, "Nordwasser" noch deutlich mehr, aber nie um ihrer selbst oder um der Spannung Willen. Das scharf beobachtete, sparsam im Präsens beschriebene, überaus packende Duell der beiden Männer vor der rußigen und schmutzigen, lauten und übelriechenden Kulisse einer frühindustriellen Stadt hat mich gepackt und begeistert. Bis nach Pennsylvania führt der mörderische Kampf und findet einen äußerst ungewöhnlich erzählten Ausgang.

Überrascht hat mich eine editorische Notiz im Impressum: „Auf Seite 313 beleidigt Stephen Doyle einen Schwarzen rassistisch.“ Wenn solche Hinweise üblich werden – welches Buch, vor allem welcher Klassiker, kann dann zukünftig noch ohne Warnhinweis erscheinen?

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