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Veröffentlicht am 22.09.2022

Vom Umgang mit der Wahrheit

Tod einer Untröstlichen
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David Rieff, der Sohn von Susan Sontag, beschreibt die letzten Monate ihres Lebens, vom Verdacht im März 2004, dass die Krebserkrankungen zurück sei, bis zu ihrem Tode im Dezember desselben Jahres. Bereits ...

David Rieff, der Sohn von Susan Sontag, beschreibt die letzten Monate ihres Lebens, vom Verdacht im März 2004, dass die Krebserkrankungen zurück sei, bis zu ihrem Tode im Dezember desselben Jahres. Bereits zweimal hatte sie eine scheinbar tödlich verlaufende Krebserkrankung überstanden und wollte sich auch mit den schlechten Prognosen ihrer Leukämie nicht einfach abfinden.

Ihr Sohn schildert eindringlich, wie sie zwischen Hoffen, Verdrängen und Einsicht schwankt. Indem die Leser direkt angesprochen werden, verstärkt sich diese Eindringlichkeit. Immer wieder schreibt er, dass sie sich verzweifelt an die Hoffnung klammerte, dass mit einer radikalen, schmerzhaften Behandlung eine Chance auf Handlung bestünde. Dass sie ohne diese (falsche) Hoffnung aufgegeben hätte. Aber ist es richtig, falsche Hoffnungen zu unterstützen? Diese Frage stellt sich Rieff oft in seinem Text. Er philosophiert über den Tod:

"Wenn Stephen Timer [einer von Sontags Ärzten] imstande gewesen wäre, das Leben meiner Mutter zu retten, hätte sie sich dann damit abgefunden, später an etwas anderem zu sterben? Werden wir anderen uns damit abfinden, wenn wir an der Reihe sind?" (S. 150)

Sontag sprach sich in ihrem bekannt Essay "Krankheit als Metapher", den sie 1977 nach ihrer ersten Krebserkrankung veröffentliche, gegen die Verwendung von Krebs als Metapher für ein bestimmtes Verhalten der Patientinnen aus, das ursächlich für die Krankheit sein sollte. Sie machte Mut, sich zu informieren, sich an weitere Ärzte zu wenden, die Krankheit Krebs beim Namen zu nennen. Und sie schrieb, dass die Verwendung von Kriegsmethaphern bei der Bekämpfung dieser Erkrankung nichts zu suchen habe.

Sontag schrieb ihre erste Genesung von einem metastasierten Brustkrebs ihrer guten Informiertheit zu, die sie dazu bewog, eine bestimmte Behandlung bei bestimmten Ärzten und eine bestimmte Nachbehandlung durchzuführen. Daher war für sie dieses Wissen um ihre Krankheit auch in 2004 unbedingt notwendig. Sie erlag der Annahme, dass eine Information eine Veränderung bewirken würde. (S. 57) "Wonach suchte meine Mutter? Antwort: Nach dem, worauf Verurteilte immer hoffen - auf Strafmilderung, Aufschub." (ebd.)

Es geht in großen Teilen um die Frage, wie weit es einer Patientin nützt, ihr Hoffnungen zu machen, die so minimal sind, dass sie praktisch nicht existieren. Sie zu bestärken, obwohl sie selbst weiß, dass es dieses Mal keine Chance auf Heilung geben wird und dass weitere Behandlungen unsagbar schmerzhaft sein werden. Rieff nennt sich selbst an einer Stelle "Komplize[n] der Illusion" (S. 135)

Es ist einerseits ein sehr persönlicher Einblick in das Verhältnis von Mutter und Sohn, aber vor allem geht es um diese allumfassende Unsicherheit. Dazu kommt die Nennung der verschiedenen Ärzte, Kliniken, Behandlungen und trügerischer Informationsbroschüren. Ich weiß nicht, ob es dieses Buch wirklich gebraucht hätte. Vielleicht war es für Daniel Rieff wichtig, um mit dem Sterben und dem Tod seiner Mutter umgehen (nicht aber abschließen) zu können. "Vor allem fühle ich mich schuldig. Es ist die 'Grundhaltung' dessen, der weiterlebt." (S. 158)

160 Seiten, übersetzt von Reinhard Kaiser.

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Veröffentlicht am 30.06.2022

Frauenschicksal in Jaipur

Die Hennakünstlerin
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Lakshmi hat das Unmögliche getan, sie hat ihren Ehemann verlassen und damit Schande über ihre Familie gebracht. Allein und mittellos schlägt sie sich von ihrem Dorf bis nach Jaipur durch. Aufgrund ihrer ...

Lakshmi hat das Unmögliche getan, sie hat ihren Ehemann verlassen und damit Schande über ihre Familie gebracht. Allein und mittellos schlägt sie sich von ihrem Dorf bis nach Jaipur durch. Aufgrund ihrer Kenntnisse über Heilkräuter und Hennakunst, gelingt es ihr, aus bescheidenen Anfängen einen florierenden Ein-Frau-Betrieb aufzubauen. Ihre Einnahmen ermöglichen es ihr sogar, den Bau eines eigenen Hauses in Auftrag zu geben und sich damit ihren Lebenstraum zu erfüllen. Kurz vor ihrem Einzug erscheint jedoch ihre 13 Jahre jüngere Schwester, von dessen Existenz sie bisher nichts wußte. Und Radha ist nicht allein gekommen, sie wird von Lakshmis Ehemann begleitet, vor dem diese vor langer Zeit geflohen war. Damit - man kann es sich denken - verläuft der Lebensplan der Hennakünstlerin in ganz andere Bahnen, als bisher geplant.

Die Autorin beschreibt das Leben der Frauen im Indien der 1950er Jahre sehr anschaulich, dabei beschränkt sie sich nicht nur auf die höheren Klassen, sondern bezieht auch die armen und ärmsten Frauen mit ein. Das hat mir gut gefallen. Die Männer spielen ihre Rollen eher im Hintergrund, obwohl sie in fast allen Belangen das Sagen haben. Dennoch kann man erkennen, wie geschickt einige Frauen die Fäden ziehen. Die Themen Gewalt gegen Frauen, Unterdrückung, Zwangsverheiratung und Abhängigkeit werden hier deutlich angesprochen. Die Protagonistin zeigt, dass es auch andere Wege geben kann. Allerdings muss ich leider sagen, dass mich das Buch nicht packen konnte. Es war in den USA ein riesiger Erfolg, aber ich war weder von der Geschichte fasziniert, noch vom Sprachstil. Auch war mir die Protagonistin Lakshmi nicht sympathisch, die sich ständig (unnötig) mit Selbstvorwürfen überschüttet. Die Geschichte erstreckt sich über 14 Monate und setzt mit der Reise der jungen Radha ein. Die Fluchtgeschichte ihrer älteren Schwester, die mich sehr interessiert hätte, wird nur in kurzen Rückblicken erzählt.

Vielleicht tue ich dem Buch Unrecht, es kommt ja auch oft darauf an, was man gerade vorher gelesen hat und ich habe bisher auch keine weitere "indische" Literatur gelesen. Wer eine vorhersehbare Emanzipationsgeschichte lesen möchte und in die farbenprächtige Welt Indiens eintauchen möchte, ist hier genau richtig.

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Veröffentlicht am 28.03.2022

Auf dem schlüpfrigen Parkett der Politik

Rheinblick
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Die SPD hat mit großer Mehrheit die vorgezogenen Bundestagswahlen 1972 gewonnen, der beliebte Willy Brandt tritt seine zweite Amtszeit an. In Bonn brodelt es auf dem politischen Parkett. Es geht um Posten ...

Die SPD hat mit großer Mehrheit die vorgezogenen Bundestagswahlen 1972 gewonnen, der beliebte Willy Brandt tritt seine zweite Amtszeit an. In Bonn brodelt es auf dem politischen Parkett. Es geht um Posten und Pöstchen, um Intrigen, kleine und große Geheimnisse. Vor diesem Hintergrund agiert Hilde Kessel, die das Restaurant Rheinblick gegenüber vom Bundestag betreibt und die tägliche Politik hautnah miterlebt. In einer Bonner WG lebt die Krankenschwester Sonja, die unversehens ebenfalls mit dem aktuellen politischen Geschehen in Kontakt kommt - und zwar mit dem Kanzler selbst. Die wichtigen Koalitionsverhandlungen stehen an und Willy Brandt kann nicht daran teilnehmen. Wer steht auf seiner Seite und wer denkt nur an das eigene Vorankommen in Bonn?

"Bühlerhöhe" von Brigitte Glaser habe ich sehr gern gelesen. Mit "Rheinblick" habe ich mich schwerer getan. Die Gegensätzlichkeit der Schauplätze von Politiker-Restaurant und Studenten-WG (inklusive Taxi fahrendem Mitbewohner) ist geschickt gewählt, so können viele damals aktuelle Themen angesprochen werden. Das ist durchaus interessant, allerdings waren mir insgesamt die politischen Rangeleien an Hildes Tresen zu viel. Es gab dadurch durchaus Längen im Roman. Da half auch der eingestreute Mord nicht, um eine durchgehende Spannung zu erzeugen.

Der Schreibstil von Glaser hat mir gut gefallen und die Fakten sind wunderbar in die fiktive Geschichte um Hilde und Sonja eingeflochten. Die Figuren und ihre Probleme sind glaubhaft, allerdings bleiben Sonja und Hilde für mich etwas blass. Die Verbindung zwischen Sonja und Willy Brandt erschien mir zudem etwas konstruiert. Max und Konrad aus der WG haben mir besser gefallen und waren mir irgendwie näher.

Überzeugend der Anhang: Soundtrack, Literaturverzeichnis und Glossar.

Insgesamt ein Einblick in die interessante Politikgeschichte von 1972, gut recherchiert und geschrieben, allerdings mit Längen. Wer sich vor dem Geklüngel zwischen SPD und CDU an Hildes Tresen nicht fürchtet, den erwartet eine durchaus unterhaltsame Zeitreise.

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Veröffentlicht am 28.07.2021

Schwacher Serienauftakt

Die Verlorenen
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Die Hunter-Reihe hat mich zu einem Beckett-Fan gemacht, der Auftakt zur neuen Serie mit Jonah Colley hätte es nicht vermocht.

Als der Elitepolizist Jonah Colley nachts am Londoner Slaughter Quay seinen ...

Die Hunter-Reihe hat mich zu einem Beckett-Fan gemacht, der Auftakt zur neuen Serie mit Jonah Colley hätte es nicht vermocht.

Als der Elitepolizist Jonah Colley nachts am Londoner Slaughter Quay seinen alten Freund Gavin treffen will, entdeckt er mehrere Tote und wird selbst übel zusammengeschlagen. Zu allem Unglück wird Colley selbst verdächtigt, mit der Tat in Zusammenhang zu stehen. Bald kommt ihm der Verdacht, dass alles mit dem Verschwinden seines kleinen Sohnes Theo vor zehn Jahren zu tun hat. Für Theos Tod gibt Colley sich selbst die Schuld und plagt sich seit damals mit Vorwürfen.

Zunächst passt das Cover ganz wunderbar zum Inhalt, denn die Lagerhalle am Slaughter Quay spielt eine wichtige Rolle im Buch. Beckett kann nach wie vor flüssig schreiben, versteht es Spannung aufzubauen und Atmosphäre zu schaffen. Aber dafür fehlt es in diesem Buch an Tiefe, sowohl im Inhalt als auch bei den Charakteren. Die bleiben nämlich alle sehr blaß. Einige haben nur Statistenfunktion, andere treten auf und wieder ab, wie im Theater, nur um immer wieder ganz ähnliche Szenen zu spielen. Insgesamt fehlt für mich ein schlüssiger roter Faden. Ja, es passt dann alles irgendwie, aber das hätte man auch eleganter machen können. Es wirkt sehr szenisch auf mich. Jonah Colley ist als Protagonist eher enttäuschend, er humpelt von einer unlogischen Handlungsweise in die nächste und erscheint wenig tatkräftig.

Der Thriller hat durchaus Spannung aufgebaut, man will wissen, wie es weitergeht. Ich habe das Buch auch schnell gelesen, hatte mir aber einen handwerklich wesentlich besseren Thriller erhofft. So bleibt das Buch nur knapper Durchschnitt. Die nächsten Teile werde ich mir höchsten ausleihen, daher drei Sterne.

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Veröffentlicht am 27.06.2021

Haben wir eine Wahl?

Schicksal
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"Bei keiner Wahl, die wir treffen, verstehen wir bis ins Letzte, was sie für uns bedeutet." (S. 251)

Zeruya Shalev verwebt in ihrem Roman die Schicksale zwei israelischer Frauen, die durch einen Mann ...

"Bei keiner Wahl, die wir treffen, verstehen wir bis ins Letzte, was sie für uns bedeutet." (S. 251)

Zeruya Shalev verwebt in ihrem Roman die Schicksale zwei israelischer Frauen, die durch einen Mann verbunden sind. Meno, Vater der einen und erster Ehemann der anderen, muss erst sterben, damit die Frauen zu einanderfinden. Die Architektin Atara, Ende Vierzig, möchte mit der ersten Frau ihres Vaters Kontakt aufnehmen. Die 90-jährige Rachel kämpfte einst gemeinsam mit Meno im Untergrund für die Befreiung Palästinas von den Briten. Die Leben der beiden Frauen kreuzen sich mehrfach. Jede Begegnung verändert das Schicksal der Israelinnen und läßt sie intensiv über ihre Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft nachdenken.

Die Handlung wird abwechselnd aus der Sicht von Atara und Rachel erzählt und dadurch erscheinen alle anderen Personen sehr subjektiv gezeichnet. Rachels Anteil an der Handlung ist wesentlicher geringer, als der von Atara. Das läßt sich aber damit erklären, dass das Schicksal Atara in der Gegenwart übel mitspielt, während Rachel im wesentlichen aus ihrer Vergangenheit berichtet. Sie zehrte ihr ganzes Leben von ihrem Kampf in der Lechi, einer radikalen Untergrundorganisation, die gegen die Mandatsherrschafft der Briten in Palästina vor der Staatsgründung Israels kämpfte. Sie trauert quasi täglich um ihre gefallenen Kameraden und stellt ihre Leidenschaft für den Kampf sogar über die eigene Familie.

Atara wurde zeitlebens von ihrem Vater, bis auf wenige Ausnahmen, lieblos behandelt und ist auch in ihrer zweiten Ehe nicht grundsätzlich glücklich, sondern hat ständig etwas an ihrem Mann auszusetzen und stellt wiederum ihr Kind aus erster Ehe und den gemeinsamen Sohn über die Ehe. Die Beziehungsgefüge sind in beiden Familien kompliziert und belastet.

Aus diesen Verhaltensweisen erwächst das titelgebende "Schicksal". Der Roman besticht durch teilweise sehr schöne poetische Passagen. Andere Textteile haben mir gar nicht gefallen. Insgesamt konnte er mich aber nicht überzeugen. Die Charaktere sind mir allesamt, bis auf Rachels jüngeren Sohn, unsympathisch. Sie bleiben teilweise auch unnahbar, weil sie wie durch einen Filter, nur durch die Augen von Rachel und Atara auf die Lesenden wirken können. Es gibt durchaus einen Spannungsbogen im Roman, der jedoch für mich nicht aufgelöst wurde und zu viele Fragen offen ließ.

Auch weckte der Klappentext falsche Erwartungen an die Handlung in mir. Es geht hier weniger um die Untergrundorganisation Lechi und die Liebe, als vielmehr um zwei Frauen, die aufgrund ihrer Entscheidungen fatale Ereignisse in Gang setzten und setzen. Weite Teile des Roman handeln von Ataras Schuldzuweisungen an sich selbst und andere, von ihrer Trauer und Selbstreflexion. Das war für mich ermüdend zu lesen, weil sie sich oft im Kreis gedreht hat und immer wieder das Gleiche gedacht und gesagt hat.

Ich kann für diesen Roman nur sehr bedingt eine Leseempfehlung aussprechen, weil er mich nicht erreicht hat. Er wird sicherlich Anhänger:innen finden, aber wer sich einen spannenden Roman über die Lechi, gespickt mit einer romantischen, tragischen Liebesgeschichte erhofft, ist hier falsch. Wer aber einen sprachlich ansprechenden Roman über die seelischen Leiden zweier Israelinnen lesen möchte, wird diese Geschichte vielleicht mit anderen Augen lesen als ich. Drei Sterne für "Schicksal".


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