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Veröffentlicht am 15.09.2016

Eine Tochter verkehrter Widerspenstigkeit

Die Schönheitskönigin von Jerusalem
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„Das ist ein Wunder, dachte ich, das reinste Wunder, da spüre ich die Liebe genau dort, wo Bekki es mir versprochen hat: zwischen Brüsten und Bauch, dort, wo mein Herz sitzt.“

Inhalt

Auf den Frauen der ...

„Das ist ein Wunder, dachte ich, das reinste Wunder, da spüre ich die Liebe genau dort, wo Bekki es mir versprochen hat: zwischen Brüsten und Bauch, dort, wo mein Herz sitzt.“

Inhalt

Auf den Frauen der Familie Ermoza scheint ein bitterer Fluch zu liegen. Ihre Männer bringen ihnen keine Liebe entgegen und sie selbst können für ihre Töchter keine Herzenswärme empfinden. So ist das Leben der Frauen aus drei verschiedenen Generationen geprägt von Distanziertheit, Unwillen und Unverständnis innerhalb ihrer Ehe. Jede versucht damit auf ihre eigene Weise klarzukommen und keiner gelingt es, ihrem inneren Gefängnis zu entfliehen. Nur die jüngste Tochter der Familie rollt das Leben und Wirken ihrer Altvorderen auf und entlarvt die traurigen Lebenslügen, mit denen sich ihre Mutter, ihre Großmutter und ihre Urgroßmutter herumgeschlagen haben. Sie wird es schaffen, dass auch der Mann an ihrer Seite nicht nur seine Pflicht erfüllt, sondern auch ihr Herz erfreut und sie achtet.

Meinung

Nach anfänglichen Leseproblemen auf den ersten einhundert Seiten, die mich nur schwer in die Geschichte hineingebracht haben, entwickelte sich dieser monumentale Gesellschaftsroman zu einer hochinteressanten Familientragödie, die mich mit jeder weiteren Leseminute mehr und mehr gefesselt hat. Besonders fasziniert hat mich die Vielschichtigkeit der Erzählung, welche die verschiedenen Lebensentwürfe der Hauptprotagonistin Luna Ermoza, ihrer Mutter Rosa und später die ihrer Tochter Gabriela schildert. Allesamt gehen einen selbstbestimmten Lebensweg und werden doch beschnitten von den klassischen Rollenbildern innerhalb der Familie. Gefangen zwischen gesellschaftlichen Zwängen, historischen Kriegsereignissen und den innerfamiliären Problemen mit ihren Männern. Darüber hinaus bekommen auch die Nebendarsteller wie Schwestern, Brüder und Väter eine wichtige Position, die es dem Leser ermöglicht, die Geschehnisse unter objektiven Gesichtspunkten zu betrachten. Der Autorin gelingt es aber nicht nur einen Roman über verpasste Chancen, traurige Liebesbeziehungen und konfliktbehaftete Mutter-Töchter-Beziehungen zu verfassen, sondern vielmehr ein umfassendes Werk über eine traditionelle, einst angesehene Unternehmerfamilie im alten Jerusalem. Die historischen Ereignisse werden symbiotisch eingeflochten und beanspruchen und lenken die Geschicke der Beteiligten, die selbst am Übergang zwischen der „alten“ und der „neuen“ Welt beteiligt sind und damit umzugehen lernen.

Fazit

Ich vergebe volle Punktzahl und spreche eine Leseempfehlung für alle aus, die gern intensive, sprachliche niveauvolle Romane lesen und sich auf die Ereignisse in einem Buch einlassen können. Denn hier lohnt sich das Dranbleiben auf jeden Fall, genauso wie das konzentrierte Lesen. Besonders hervorheben möchte ich die Detailtreue, die bildhafte Sprache und die sehr interessanten Einblicke in ein Familienleben jenseits der heutigen Vorstellungen und auch jenseits des heutigen, unbeschwerten Rollenverständnisses zwischen Mann und Frau.

Veröffentlicht am 09.08.2023

Der Selbstwert ist ein relativer Begleiter

Die Einladung
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Der Sommer hat für Alex vielversprechend begonnen: ein luxuriöses Sommerhaus in den Hamptons, ein spendabler älterer Freund, der ihr schöne Kleider kauft und sie finanziell aushält. Beinahe hätte ...

Der Sommer hat für Alex vielversprechend begonnen: ein luxuriöses Sommerhaus in den Hamptons, ein spendabler älterer Freund, der ihr schöne Kleider kauft und sie finanziell aushält. Beinahe hätte sie darüber ihre echten Probleme vergessen können: ein fordernder Ex-Freund, ihre Tablettenabhängigkeit, das leere Bankkonto, die verlorene Wohnung und ihr ungebrochenes Interesse an Drogen und Alkohol.
Doch ein kleiner, unangepasster Fehltritt ihrerseits bedeutet das Ende des sorglosen Daseins, denn ihr Freund Simon setzt sie einfach vor die Tür und erbittet sich Abstand. Erst da wird ihr schlagartig bewusst, wie nah am Abgrund ihr Leben verläuft. Ihr fragiler Lebensentwurf macht sie zum Spielball für stärkere Charaktere, treibt sie in jene bedingungslose Abhängigkeit, die abgebrühte Anpassungsfähigkeit erfordert. Doch ihr ist es egal, solange Simon sie am Ende der Woche wieder bei sich aufnimmt – und dafür muss sie nichts weiter tun, als die schier endlosen Tage bis zur nächsten Party zu überstehen …

Meinung:
Nachdem mich „The Girls“ gut unterhalten hat, bin ich nach dem Lesen der Leseprobe auf das neue Buch der kalifornischen Autorin Emma Cline aufmerksam geworden. Ihr gewählter Rahmen in der Welt der High-Society sprach mich zwar nicht unmittelbar an, die geschilderte Story schien aber vielversprechend. Und so habe ich ohne spezielle Erwartungshaltung mit der Lektüre begonnen.
Die Handlung selbst ist irgendwie belanglos, denn sie widmet sich der tagtäglichen Ausweglosigkeit der Protagonistin und ihrem aktionsarmen „Vor-sich-hin-Dümpeln“. Aber die Geschichte zog mich dennoch unweigerlich in ihren Bann. Dabei hat mich vor allem die Erzählperspektive fasziniert, denn der Leser bekommt alles ungefiltert aus erster Hand präsentiert und kann mit der unreifen, provokanten Alex erleben, wie es sich anfühlen muss, ein derart gestörtes Leben aufrecht zu erhalten. Dieses irrige Verhalten, die Skrupellosigkeit, die ständigen Ängste – kurzum das Bild der Hauptfigur von sich selbst aber auch von anderen, hat mich nachhaltig beeindruckt und eine große Lesefreude erzeugt. Was dort wem und weswegen passiert, ist vollkommen unerheblich – es geht um den sukzessiven Verfall eines Individuums, um Kurzschlusshandlungen ebenso wie um Berechnung, um tiefste Verzweiflung und absolute Ohnmacht, um rauschhafte Erlebnisse gepaart mit bitteren Wahrheiten.
Das schillernde Porträt einer geschundenen Seele, die aus welchen Gründen auch immer, kontinuierlich auf ihren Zerfall zusteuert. Sehr gern hätte ich noch mehr aus ihrer Vergangenheit erfahren, wäre durch Rückblenden etwas schlauer geworden, insbesondere was die Motivation hinter den Aktionen betrifft, doch die im Nebel bleibende, zurückliegende Zeit ist so unbestimmt und zerstörerisch, wie Alex selbst.

Fazit: Ich vergebe 4,5 Lesesterne (aufgerundet 5) für diesen Roman, der mit einem facettenreichen Menschenporträt punkten kann und sich vorrangig der psychischen Komponente widmet. Weder die Handlung noch die Schauplätze sind dominant, sondern einzig die diffizile Persönlichkeit einer jungen Frau. Das offene Ende hat mich nur kurz befremdet, denn eigentlich passt es ganz gut – jeder Leser kann eine eigene Interpretation entwickeln und wird nicht widerlegt werden. Dieser Roman würde mir auch als Verfilmung zusagen, vor allem weil mittels Bildmaterial die Diskrepanz zwischen der Welt der Schönen und Reichen und der zerrütteten Alex, die nur eine Fassade aufrecht erhält, noch deutlicher zu Tage treten würde.

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Veröffentlicht am 04.09.2021

Walters neues Refugium

Barbara stirbt nicht
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„Es war nicht ihre Art, morgens auf dem Badezimmerboden herumzuliegen, aber sie sagte nichts weiter dazu und hielt die Augen geschlossen. Man musste ja auch nicht über alles reden.“

Inhalt

Barbara und ...

„Es war nicht ihre Art, morgens auf dem Badezimmerboden herumzuliegen, aber sie sagte nichts weiter dazu und hielt die Augen geschlossen. Man musste ja auch nicht über alles reden.“

Inhalt

Barbara und Walter Schmidt sind ein eingespieltes Team, nach über 50 Ehejahren nicht verwunderlich, der eine kann nicht ohne den anderen, selbst wenn es eine ganze Litanei an Dingen gibt, die stören, und jeder ein abgestecktes Refugium besitzt, zu dem der andere vielleicht eingeladen ist aber bitte schön niemals mitzuwirken hat. Walter hat den Hund und Barbara die Küche, doch als Barbara eines morgens umfällt und nicht wieder auf die Beine kommt, sieht sich der miesepetrige Walter doch gezwungen, die Küche zu betreten. Nicht weil er ein hungriger Gourmet ist, sondern weil Barbara ja etwas essen muss, um wieder zu Kräften zu kommen. Verbissen und mit allerlei Hürden meistert er den abstrakten neuen Alltag, denn was er am meisten fürchtet sind die Blicke und Handlungen der anderen, wenn die erst mal herausfinden, wie es um seine Frau wirklich steht. Aber auch Walter muss einsehen, dass es ihm weiterhilft, wenn die Bäckereifachverkäuferin ihm erklärt, wie man Kaffee kocht und der Fernsehkoch, wie das Essen zubereitet wird. Zu gern würde er die Küchenarbeit in absehbarer Zeit wieder abgeben, doch er muss einsehen, dass seine Frau nun nicht mehr so schnell einsatzbereit sein wird, wenn sie doch nur wieder gesund werden wird, wenn sie doch nur wieder essen würde …

Meinung

Ich bin ein großer Fan der Autorin und habe ihre beiden Romane „Baba Dunjas letzte Liebe“ und „Der Zopf meiner Großmutter“ sehr genossen, weil sie es vermag ihre eigentlich abschreckenden Charaktere trotz ihrer Widerborstigkeit irgendwie sympathisch erscheinen zu lassen. Und diesem Stil bleibt die in Berlin lebende Autorin auch mit ihrem neuesten Buch treu, denn wenn man sich einen Typ Mann nicht zu Hause wünscht, dann ist es einer wie Walter Schmidt.

Umso begeisterter bin ich dann, wenn mich der Erzählstil schon auf den ersten Seiten so überzeugen kann, dass ich innerhalb weniger Stunden schon fast die Hälfte des Buches gelesen habe.

Der Text lebt von einer gewissen Situationskomik und vom Blick des Walter Schmidt auf die jeweilige Lage. Er ist einer, der sich nicht so leicht geschlagen gibt, der ganz klare Prioritäten pflegt und den seine Kinder irgendwie permanent nerven und nur wenig interessieren, der aber im Kern ein gutes Wesen hat, welches er nur ausgesprochen gut zu verbergen weiß.

Man kann diese kleine Erzählung auch gut für diverse charakterliche Verfehlungen bemühen und sie unter psychologischem Aspekt betrachten, man kann sie aber auch einfach auf die leichte Schulter nehmen und unverbesserlich wie Walter selbst daran glauben, dass sich alles irgendwie fügen wird und das Barbara ganz gewiss nicht sterben wird, wenn er nur weitermacht und ihren Part übernimmt.

In dem Buch kam einmal der Punkt, da habe ich mich gefragt, ob die Autorin noch die Kurve kriegt, denn so ironisch und humorvoll auch der Schlagabtausch zwischen den Protagonisten von statten geht, so traurig ist doch die Gesamtsituation, wenn man einsehen muss, dass der geliebte Ehepartner nicht mehr lange da sein wird und dass das nächste Weihnachtsfest gewiss schon das letzte gemeinsame ist.

Aber ihr gelingt es wirklich den Leser auch zuletzt noch zu überraschen, ohne dass sich ihre Figuren ändern, ohne das das große Fiasko eintritt und so bleibt das Ende zwar einerseits offen, andererseits ist aber alles gesagt, was es hier anzumerken gibt.

Fazit

Ich vergebe 4,5 Lesesterne, die ich gerne zu 5 Sternen aufrunde. Selten habe ich einen Roman gelesen, der mich trotz dieser traurigen Gesamtsituation so gut unterhalten konnte und geschickt an allen Sentimentalitäten vorbeiführt. Hier kommt weder Mitleid auf, noch übersteigertes Wunschdenken, weil natürlich zwischen den Zeilen alles steht, was eigentlich wichtig ist, dass vordergründig Wichtige aber vielmehr in der korrekten Zubereitung des Leibgerichts liegt .

Es hat mich überzeugt, dass die Autorin ihren eckigen, kratzbürstigen Hauptprotagonisten bis zum Schluss so bleiben lässt, wie er nun mal den Rest seines bisher langen Lebens war. Und dennoch begegnet dem Leser irgendwie ein veränderter Mensch, der sich auf Grund seiner Lage und des verschobenen Gleichgewichts, auf andere Pfeiler stützen muss. Ich bin jedenfalls froh, dass der Walter Schmidt hier zwischen den Buchdeckeln bleibt, kann aber auch nachvollziehen, warum Barbara 50 Jahre plus mit diesem sehr speziellen Herrn verbracht hat und nun ebenfalls auf ein zufriedenes Leben zurückblicken kann.

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Veröffentlicht am 09.07.2021

Alles auf Start

Der Brand
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„Der Verlust trifft sie tief. Bald gibt es niemanden mehr, der ihnen vorausgeht. Peters Eltern leben beide nicht mehr, Edith ist seit 11 Jahren tot und nun Viktor. Nach Ruth werden sie die Nächsten sein; ...

„Der Verlust trifft sie tief. Bald gibt es niemanden mehr, der ihnen vorausgeht. Peters Eltern leben beide nicht mehr, Edith ist seit 11 Jahren tot und nun Viktor. Nach Ruth werden sie die Nächsten sein; es ist sinnlos, darüber zu klagen. Einmal werden sie alle bezwungen sein.“

Inhalt

Die langjährige Ehe von Rahel und Peter durchläuft wieder einmal eine schwierige Phase und der Sommerurlaub, soll die Kluft zwischen ihnen überbrücken. Doch als kurz vor der Abreise der Vermieter ihrer Urlaubsunterkunft anruft und ihnen mitteilt, dass ihr Domizil leider einem Brand zum Opfer gefallen ist, hängt alles in der Schwebe. Stattdessen verbringen sie die nächsten 3 Wochen in der Uckermark und hüten den Hof von Ruth und Viktor, nachdem dieser einen Schlaganfall erlitten hat und seine Frau ihn zur Kur begleiten möchte. Dort bekommen sie auch Besuch von ihren beiden erwachsenen Kindern und verbringen dennoch viele Stunden des Tages allein, ohne Worte füreinander und auf der Suche nach Berührungspunkten, die nach so vielen kleinen Verletzungen untereinander, die Bruchstellen kitten könnten. Sicher, sie haben jahrelang aneinander festgehalten, sind durch viele gute und schlechte Zeiten gegangen, doch nun ist die Hälfte des eigenen Lebens um und man fragt sich ernsthaft, ob es das wert gewesen ist oder nicht. So wie bisher möchte Rahel nicht weitermachen aber ein Leben ohne Peter ist für sie ebenfalls unvorstellbar …

Meinung

Obwohl ich von der Autorin schon ein anderes Buch im Regal stehen habe, war dies mein erster Kontakt mit der 1975 in Neu-Kaliß geborenen Schriftstellerin, die mittlerweile in meiner Heimatstadt Leipzig lebt. Eine Geschichte, so authentisch und tiefgründig, wie das Leben selbst, obwohl hier nichts weiter passiert als das Porträt einer ganz normalen, in die Jahre gekommenen Ehe wiederzugeben und dieses in allen Facetten darzustellen. Beziehungen wie die zwischen Peter und Rahel kenne ich aus dem Bekanntenkreis zur Genüge, manch eine Ehe übersteht auch diese Zeit, wenn die Kinder groß sind und man neue Pflichten als Großeltern übernimmt und manche Ehe tut das eben nicht. Diese Erzählung lebt von einer scharfen Beobachtungsgabe und ehrlicher, wenn auch schmerzhafter Konfrontation mit den Gefühlen, die nicht mehr das sind, was sie einst waren und dennoch nichts von ihrer Präsenz eingebüßt haben.

Erzählt wird der Roman von Rahel selbst, der Ehefrau, die so schwer damit zu kämpfen hat, dass ihr Peter plötzlich keine körperliche Nähe mehr möchte und die Gespräche von einst dem großen Schweigen gewichen sind. Gleichermaßen spürt der Leser aber auch das Ringen der beiden Ehepartner selbst, ob es ihnen nicht doch noch einmal möglich sein wird, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Den Text und auch die Story würde ich als authentisch, ruhig und eher schlicht charakterisieren, sie ist lebensnah und ehrlich, beschönigt nichts und stellt auch keine Anklagen. Dennoch dreht es sich um psychische Verletzungen, um die Veränderungen innerhalb einer Paarbeziehung und die ganz normalen Sorgen von Eltern, deren erwachsene Kinder Entscheidungen treffen, die sie selbst nicht sonderlich gutheißen. Die leisen Zwischentöne dominieren das Buch und machen es zu einem einprägsamen Leseerlebnis.

Kritikpunkte finde ich auf den ersten Blick keine und dennoch konnte mich der Inhalt meist nur auf der Verstandesebene erreichen und weniger über die emotionale Seite. Ganz stark hat sich mir der Gedanke aufgedrängt, dass ich für die Beweggründe der Erzählerin einfach noch zu jung bin und das Leben, wie sie es wahrnimmt, stellenweise ganz anders sehe. Beim Lesen dominiert eine gewisse Melancholie, ein Einpegeln auf die Gegenwart, die man sich so nicht unbedingt wünscht, aber deren radikale Veränderung die Rahmenbedingungen nicht aushebeln würde. Diese Art der Anpassung, auf die ersten Alterserscheinungen, das Fügen in längst bekannte Gewissheiten und die Einkehr nach Innen, um dem Äußeren wieder mehr Reiz zu verleihen, sind alles Möglichkeiten, die ich derzeit nur schwer nachvollziehen kann. Und obwohl ich ein absoluter Verfechter von Langzeitbeziehungen bin, und sehr gut nachvollziehen kann, warum man an einer solchen Partnerschaft festhält, scheint mir die Ehe von Rahel und Peter vielmehr eine partnerschaftliche Verbindung zu sein, als tatsächlich noch Liebe.

Fazit

Ich vergebe 4,5 Lesesterne für diesen stillen, ehrlichen Bindungsroman, der einen sehr persönlichen Blickwinkel einer Mittfünfzigerin auf ihre Ehe wirft. Es finden sich zahlreiche Parallelen zu normalen, alltäglichen Beziehungen, die jeder kennt oder zu kennen glaubt. Der Leser erfährt nichts Neues, kann sich aber intensiv mit den Überlegungen der Protagonisten auseinandersetzen. Vielleicht sollte man selbst zur gleichen Altersgruppe gehören oder sogar schon jenseits dieses Jahrzehntes sein, um tatsächlich mitfühlen zu können, um die implizierten Gedanken auch wirklich nachvollziehen zu können. Mir fiel es hier tatsächlich schwer, mich mit der Protagonistin auf einer Ebene zu sehen, obwohl der Text wahrscheinlich genau darauf abzielt – ein Buch für Frauen, Mütter, Lebenserfahrene, mit einem ähnlichen Background und den entsprechenden Erfahrungswerten. Wenn man allerdings über diese Grundthematik nachdenkt, sich vielleicht sogar täglich mit ihr auseinandersetzt, dann könnte ich mir diesen Text als echtes Seelenbuch vorstellen, als eine literarische Vorlage für all das Ungesagte zwischen Partnern, welches dennoch Hoffnungen weckt und über schwierige Lebensphasen hinweghelfen kann. Also ein Lesetipp ist es allemal.

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Veröffentlicht am 11.02.2021

Kim Jiyoung, eine Frau wie jede

Kim Jiyoung, geboren 1982
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„Es gibt viele Menschen, die die Augen vor der Tatsache verschließen, dass Dinge wie Wirtschaftsflaute, hohe Preise, ein schlechter Arbeitsmarkt oder persönliche Lebensnöte Mann und Frau gleichermaßen ...

„Es gibt viele Menschen, die die Augen vor der Tatsache verschließen, dass Dinge wie Wirtschaftsflaute, hohe Preise, ein schlechter Arbeitsmarkt oder persönliche Lebensnöte Mann und Frau gleichermaßen treffen.“

Inhalt

Für Chong Daehyon ist es erschreckend, dass seine Frau nach der Geburt des ersten gemeinsamen Kindes ernstlich an einer Depression erkrankt und in bestimmten Momenten ihre Stimme und den Charakter ändert, um stellvertretend für andere zu sprechen. Er geht mit ihr zu einem Therapeuten, der die Ursachen dieser Veränderung herausfinden soll, doch der ist sich ziemlich sicher, dass es für Kim Jiyoung keine Medikamente gibt, denn was die junge Frau durchlebt, hat er selbst an seiner eigenen Frau wahrgenommen und die Gründe sind kein festgeschriebenes Krankheitsbild, sondern die akute Verzweiflung der Frauen immerzu zwischen allen Stühlen zu sitzen und egal welche Entscheidung sie treffen, es ist niemals die richtige. Sie sind gebildet, sie sind höflich und zuvorkommend, sie sind engagiert in ihrem Beruf und ganz bewusst Mutter geworden, doch die Rolle, die sie für die Gesellschaft spielen gesteht ihnen keinen Platz zu und orientiert sich an übernommenen Denkmustern und fehlender Bereitschaft, Frauen als einen wesentlichen Bestandteil der Welt wahrzunehmen …

Meinung

Die junge koreanische Autorin Cho Nam-Joo hat mit diesem Roman ein Statement abgegeben, dem man mit zunehmender Begeisterung folgen kann, weil ihre Gesellschaftskritik weder anmaßend, noch schockierend, noch unbedeutsam erscheint, sondern sich an schlichten, unabwendbaren Fakten orientiert, die sie mittels Quellentexten direkt in die Geschichte einbaut. Sie selbst hat es so erlebt, ebenso wie tausende andere. Im Nachwort gibt sie in einem schlichten Satz wieder, was es eigentlich mit diesem Stück zeitgenössischer Literatur auf sich hat: „Die ganze Zeit über, in der ich diesen Roman schrieb, hatte ich Mitleid mit ihr und war bedrückt. Doch ich weiß, dass sie genauso aufgewachsen ist und keinen anderen Weg gewusst hat.“ Und der Erfolg des Buches, welches sich weltweit schon über zwei Millionen mal verkaufte und mittlerweile erfolgreich verfilmt wurde gibt ihr jene Stimme, die ihre Protagonistin so gerne hätte, ein Wort welches nicht nur eine leere Phrase ist, sondern wirklich Veränderungen herbeizuführen vermag.

Der Schreibstil des Buches ist eher distanziert, man spürt die Emotionen weniger direkt als vielmehr unterschwellig im Verhalten der Akteure. Dieser Abstand zwischen den tatsächlichen Gefühlen wie Wut, Scham, Verletzlichkeit, Unverständnis und Anpassung wird aber gerade durch diese sachliche Intonation sehr generalistisch und präsent. Denn die Autorin führt sehr langsam und Schritt für Schritt an diese geballten Vorwürfe heran, die sie eigentlich nicht als solche entlarvt und die dennoch genau das sind: Vorwürfe, warum es auch in der Gegenwart nicht möglich ist, als Frau freie Entscheidungen zu treffen. Dabei klagt sie nicht nur eine Person an, sondern de facto das Zusammenspiel aller Faktoren, welches sich möglicherweise durch Erziehung und Konsequenz ergibt.

Sie geht auch zurück in die Generation der Mütter und Großmütter, die sich bei der Geburt eines Mädchens schon schlecht fühlten und später sogar zu Abtreibungen angehalten wurden, damit dem Land um Himmels Willen keine männlichen Nachkommen vorenthalten werden. Sie thematisiert das stigmatisierte Heranwachsen der Mädchen, die schon als kleine Kinder all jene Fähigkeiten beigebracht bekommen, die sie später als gute Frau und Mutter beherrschen müssen. Sie macht ebenso deutlich, dass sich die Bildungschancen zwar für beide Geschlechter gebessert haben, aber Geld und Einfluss eine große Rolle spielen, wer, wann, welchen Posten oder welche Ausbildung bekommt. Spätestens wenn die Frauen sich für eine eigene Familie entscheiden, ist ihr berufliches Fortkommen ad acta gelegt, denn die Männer in der Gesellschaft wollen keine arbeitenden Mütter und staatliche Unterstützung bleibt aus, ganz im Gegenteil, sie ist entweder nicht bezahlbar oder nicht lohnenswert, und wenn die Frau dennoch arbeiten möchte, lassen sich weder die Zeiten noch das geringe Einkommen damit vereinbaren. Warum sollte denn eine Mutter arbeiten gehen, wenn doch der Mann der Versorger ist?

Fazit

Ich vergebe sehr gute 4,5 Lesesterne für diesen fiktiven Roman, der so viele Wahrheiten auf wenigen Zeilen hervorzuheben vermag. Der Wert einer Frau, ihr Wirken in der Welt, ihr tatsächlicher Einfluss außerhalb der Familie – all das wird auf bedrückende Art und Weise vermittelt.

Die Geschichte selbst umspielt eine gewisse Zeitlosigkeit, eine Einfachheit, die jeder irgendwo kennt und in mehr oder weniger hohem Maße bestätigen kann. Dadurch wird der Text universell und eignet sich für fast jeden Leser, egal ob für die Verfechter der Frauenrechte oder für Männer, die die Sorgen und Nöte der eigenen Frau nicht verstehen, wenn diese plötzlich Mutter geworden ist. Möglicherweise wird so ein Roman in entsprechenden Kulturen, die eher rückschrittlich orientiert sind, noch mehr Aufruhr verursachen, denn in vielen kleinen Nebensätzen ergießt sich das ganze Ausmaß der Kritik, die hier schön sachlich und wohldosiert verpackt wird.

Schade nur, dass ich den direkten Bezug zu den Personen vermisst habe– dadurch das es eine so universelle Geschichte ist, fehlt ihr eine für mich nennenswerte Individualität. Deshalb ziehe ich ein halbes Sternchen ab, verbunden mit der Bitte, dass sich möglichst viele Leser an die Lektüre wagen und ihre eigenen Schlüsse daraus ziehen.

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