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Veröffentlicht am 21.02.2023

Es geht ans Herz und darüber hinaus

Der Inselmann
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In einer Nacht- und Nebelaktion verlässt eine kleine Familie mit wenig Habseligkeiten das Festland um auf einer See-Insel zu leben. Für den zehnjährigen Hans ein unverrückbarer Lebensinhalt, der ihm Halt ...

In einer Nacht- und Nebelaktion verlässt eine kleine Familie mit wenig Habseligkeiten das Festland um auf einer See-Insel zu leben. Für den zehnjährigen Hans ein unverrückbarer Lebensinhalt, der ihm Halt und Hoffnung gibt. Viel mehr wird er nicht haben und doch hat er alles.

Dirk Gieselmann erzählt in seinem Debüt, wie der zehnjährige Hans zusammen mit seinen Eltern auf eine Insel zieht, die nur von ihnen bewohnt wird. Lediglich eine Schafherde, die den Lebensunterhalt sichert und ein Hütehund leisten ihnen Gesellschaft. Der Schreibstil ist eindringlich und schonungslos direkt. Eine düstere Melancholie legt sich über die Seiten und bleibt als Grundstimmung der Handlung erhalten. Der Autor versteht es auch die kleinsten Details hervorzuheben und ihnen eine Stimme zu geben.
Hans liebt die Einsamkeit und die Nähe zu seinen Eltern. Auf der Insel vergisst er die Zeit und verschmilzt mit der Natur und seinen Bewohnern. Hier fühlt er sich wie ein König in seinem Reich.

"Er dachte an das, was er sich so sehnlich gewünscht hatte. Jetzt war er noch immer der Ärmste, aber der Reichste zugleich."

Doch die kurze Idylle trügt, denn das mehrfache Fernbleiben des Jungen in der Schule bleibt nicht unentdeckt. Sachlich und voller Kälte wird die Bootsfahrt ans Festland beschrieben. Hans wird in die Burg, eine Anstalt für schwer erziehbare Kinder, gebracht. Sieben Jahre voller Qual und Leid muss er überstehen. Fast wie im Märchen stellt man sich die Frage: Was ist die Moral aus der Geschichte?

Wie viel Leid kann ein Mensch ertragen, ohne daran zu brechen. Was ist mit den Eltern, die ihren Sohn verloren haben. Was ist mit Hans, der seiner Heimat beraubt wurde? Poetisch, fast lyrisch wird die Stimmung immer wieder eingefangen:

"Hans, der Verwundete. Hans, der Unverwundbare. Hans, der unter Hieben lächelt."

Man versinkt in diesem Text. 176 Seiten, die mich festgehalten haben und immer wieder innehalten ließen. Hans Einsamkeit ist laut und eindringlich. Immer wieder der Blick auf den See und die Insel, die sich nicht ändern, was auch um sie herum geschieht.

"Der See wechselte sein Wasser aus, die Flüsse halfen ihm dabei. Sein Spiegel stieg, sein Spiegel sank und stieg dann wieder. Er fror zu und taute auf, viele, viele Male."

Dies ist kein Roman für eilige Leser. Die Betrachtung eines ganzen Lebens findet auf diesen wenigen Seiten Raum. Es geht ans Herz und darüber hinaus. Ein Menschenleben fern jeden Konsums, Geltungsbewusstseins und Konkurrenzdenkens. Gebt den Außenseitern in dieser Welt einen Platz zum Leben.

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Veröffentlicht am 14.11.2021

Dem Wind lauschen – und den Stimmen der Vergangenheit nahe sein

Die Telefonzelle am Ende der Welt
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Sich von geliebten Menschen vor dem Tod verabschieden zu können, ist den Hinterbliebenen der Tsunami-Katastrophe 2011 in Japan nicht vergönnt gewesen. Viele wurden förmlich aus dem Leben gerissen und hinterlassen ...

Sich von geliebten Menschen vor dem Tod verabschieden zu können, ist den Hinterbliebenen der Tsunami-Katastrophe 2011 in Japan nicht vergönnt gewesen. Viele wurden förmlich aus dem Leben gerissen und hinterlassen eine ungeheuer große und schmerzliche Lücke. Eine Telefonzelle in einem Garten am Meer scheint der Ausweg für viele Trauernde zu sein. Hier an diesem besonderen Ort trägt der Wind ihre Gedanken und Worte zu den Verstorbenen. Auch der Arzt Takeshi Fujita und die Radiomoderation Yui Hasegawa suchen Trost in Bell Gardia. Gemeinsam kehren sie immer wieder in den Garten zurück und nähern sich langsam und voller Ängste einander an.

Laura Imai Messina hat einen sehr bewegenden Roman geschrieben, der die Themen Verlust, Trauerbewältigung, Hoffnung und Liebe in feiner, leiser und schmerzvoll stiller Art umsetzt. Ein Ort, den es in Japan tatsächlich gibt, dient als Rahmenhandlung. Die Telefonzelle des Windes (https://bell-gardia.jp/the-phone-of-the-wind/) wird von tausenden Menschen aufgesucht, um unausgesprochene Worte mit geliebten Menschen auszutauschen. Am Ende findet sich ein ausführliches Glossar der japanischen Begriffe und Schriftzeichen, die es uns westlich orientierten LeserInnen vereinfacht, den Inhalt besser zu verstehen.

Die Begegnung zwischen Yui und Takeshi wird sehr leise erzählt. Zwei Trauernde, die sich kennen und schätzen lernen und die gemeinsam regelmäßig die lange Fahrt von Tokio zum Garten der Telefonzelle auf sich nehmen. Ihre Geschichte wird in kleinen Abschnitten erzählt, die erst am Ende ein Gesamtbild zulassen. Besonders Yuis Trauer um ihre verstorbene Mutter und ihre kleine Tochter geht an Herz. Zu erfahren, dass die vermeintlich in Sicherheit befindenden geliebten Menschen ums Leben gekommen sind, muss einem schier den Verstand rauben. Yui muss bei jeder Fahrt mit Übelkeit kämpfen, wenn sie das grausame Meer sieht.

Nach und nach kommen immer mehr Figuren zur Telefonzelle und werden ein Teil von Yuis und Takeshis Leben. Jeder hat seine eigene schreckliche Geschichte, die er zu verarbeiten sucht. Ein Vater, der nicht begreifen kann, warum sein Sohn während des Tsunamis so leichtfertig handeln konnte. Ein Sohn, der seinen Vater lieber tod als tieftraurig schweigend sieht und Takeshis Tochter Hana, die seid dem Tod ihrer Mutter nicht mehr spricht.

Trotz all der Trauer erleben Takeshi und Yui Alltägliches. Diese kurzen Abschnitte erlauben es auch den LeserInnen Abstand von den traurigen Dingen zu nehmen, die einen beschäftigen. Kleine Details wie die Auflistung einer Bento-Box oder die Zusammenfassung einer Radiomoderation Yuis rücken den Focus zurück auf das Leben.

"Wir müssen selbst Freude im Überfluss besitzen, um sie anderen schenken zu können."

Mir hat besonders das feinfühlige Herantasten an einen neuen Lebensabschnitt der beiden Protagonisten gefallen. Das Verständnis um die Trauer des anderen und dennoch die warme Zuneigung, die wie eine kleine Pflanze langsam Blüten entfaltet.

Den Gedanken, über eine dem Wind überlassene Unterhaltung Verbindung zu Verstorbenen aufzunehmen, nehme ich mit und hoffe, so schnell keine Verwendung dafür zu finden.

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Veröffentlicht am 14.07.2021

Mutige Vergangenheitsbewältigung

Die Geschichte von Kat und Easy
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Mit 16 ist es wichtig, alles mit der besten Freundin zu teilen. So halten es im Jahr 1973 auch Kat und Easy, die ihre geheimsten Wünsche und Sehnsüchte gemeinsam ausleben wollen. Selbst als sich beide ...

Mit 16 ist es wichtig, alles mit der besten Freundin zu teilen. So halten es im Jahr 1973 auch Kat und Easy, die ihre geheimsten Wünsche und Sehnsüchte gemeinsam ausleben wollen. Selbst als sich beide in den älteren Fripp verlieben, bleibt ihre Freundschaft bestehen. Ein Schicksalsschlag führt zur Trennung der beiden Mädchen, die sich erst 46 Jahre später über einen Lebensberater-Blog wiederfinden. Die eine sucht Hilfe, die andere erteilt ihr Ratschläge, bis ihnen klar wird, mit wem sie sich austauschen. Gemeinsam planen sie einen Urlaub auf Kreta, um sich den Dämonen ihrer Jugend zu stellen.
Susann Pàsztor greift ein zeitloses Thema auf. Die Freundschaft im Teenageralter und später die Erkenntnis des Erlebten aus der Sicht reifer Frauen mit all seinen komplizierten und emotionsgeladenen Facetten. Zwei unterschiedliche Charaktere, die sich ergänzen und stützen. Kat, die kluge Einzelkämpferin und Easy, die beneidenswert schöne und strahlende Erscheinung. Obwohl die beiden Mädchen sich so gut verstehen, wissen sie tatsächlich wenig voneinander. Sie bleiben an der Oberfläche, lassen sich treiben und experimentieren mit Drogen, der Liebe und dem Erwachsenwerden.

Gelungen ist die Umsetzung als Hörbuch durch die Sprecherinnen Nina Petri, Anna Thalbach und Anne Weber, die jeweils den jungen Mädchen, wie den reifen Frauen ihre Stimme geben. Da es viele Dialoge zwischen den Frauen gibt, verleihen die wechselnden Sprecherinnen der Handlung etwas Lebendiges und Glaubwürdiges, welches die Stimmung des Moments sehr gut einfängt.

Obwohl Kat als Lebensberaterin mit ihrem Blog sehr erfolgreich ist, verfällt sie auf Kreta doch in ihre junge Rolle als Statistin in Easys Leben. Sie beobachtet, wie die einstige Freundin mit den Männern spielt, sich mit ihren 60 Jahren noch immer unverschämt frei und sorglos durchs Lebens bewegt.

Besonders die Beschreibungen der Landschaft, der Menschen und der Umgang mit anderen ist warm und spürbar beschrieben. Die wundervolle griechische Gastfreundschaft trägt viel dazu bei, dass sich die beiden Frauen annähern und die anfänglichen Blockaden abgebaut werden können.

Was als ein leichter Roman mit ausschweifenden Partys, Drogen und Liebeserlebnissen beginnt, entwickelt sich immer mehr zu einer tragischen Geschichte, die über Jahrzehnte verdrängt und verschwiegen wurde. Es hat mich sehr nachdenklich gestimmt, wie schnell eine vermeintlich tiefe und enge Freundschaft verloren gehen kann.

Sich der Vergangenheit zu stellen, erfordert eine große Portion Mut und Offenheit auch den eigenen Fehlern gegenüber. Kat und Easy stellen sich dieser Aufgabe, wenn anfänglich auch zaghaft und ungewöhnlich. Denn statt sich auszusprechen, korrespondieren sie weiter über den Blog im indirekten Dialog, obwohl sie nur eine Tür weit voneinander entfernt sind. Dieses langsame aneinander Herantasten hat die Autorin gelungen herausgearbeitet.

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Veröffentlicht am 07.06.2021

Wundersame Hilfe aus der Ausweglosigkeit

Kleine Wunder um Mitternacht
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Ein alter verlassener Gemischtwarenladen wird zum Unterschlupf von jugendlichen Einbrechern, die sich auf der Flucht befinden. Bis zum Morgengrauen wollen sie sich verstecken und mit dem nächsten Zug verschwinden. ...

Ein alter verlassener Gemischtwarenladen wird zum Unterschlupf von jugendlichen Einbrechern, die sich auf der Flucht befinden. Bis zum Morgengrauen wollen sie sich verstecken und mit dem nächsten Zug verschwinden. Doch statt ruhiger Sicherheit erleben Atsuya, Shota und Kohei ein mysteriöses Abenteuer. Durch einen Schlitz im Laden werden anonyme Briefe eingeworfen, die offensichtlich an den ehemaligen Besitzer des Ladens gerichtet sind.

Keigo Higashino hat mit diesem Roman ein modernes, leises und tragisches Märchen geschrieben, das dennoch Hoffnung gibt. Ein alter, leer stehender Gemischtwarenladen mit drei jungen Kriminellen dient als Rahmenhandlung. Eine wundersame Briefkorrespondenz über einen Schlitz im Laden und dem an der Außenwand hängenden Milchkasten wird über die Jahrzehnte hinweg geführt. Verblüffend ist, dass dieser Briefverkehr mehr als 30 Jahre überspringen kann und tatsächlich nur in einer Nacht stattfindet. Der Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit wird vom Autor gekonnt dargestellt. Die Inhalte der Briefe geben Aufschluss über die Zeit der Erstellung und interessante Informationen über Japan zu dieser Zeit. Anfänglich wirken die Briefe der Ratsuchenden wie Kurzgeschichten, die nach der Beantwortung abgeschlossen sind. Doch desto mehr Briefwechsel geführt werden, desto mehr Fäden werden zu einem Gesamtbild gesponnen.

Auch wenn alle Ratsuchenden sehr unterschiedliche Anliegen haben, haben sie doch eines gemeinsam: Sie befinden sich in einer offensichtlich ausweglosen Situation und hoffen auf den Rat des alten Yuji Namiya, dessen Ruf bekannt ist für seine wertfreien und weitsichtigen Ratschläge. Die Antworten, die der Musiker, die Sportlerin oder der junge Schüler erhalten, sind nicht immer wie erhofft und wecken nicht nur positive Gefühle in ihnen. Doch sie helfen ihnen, über ihre Situation nachzudenken und ihren eigenen Weg zu finden.

Am Ende schließt sich der Kreis und man erfährt nicht nur die Geschichte des alten Namiya und wie er zum Ratgeber wurde, sondern auch, welche Verbindung alle Protagonisten zueinander haben. Besonders dieses letzte Detail wurde sehr gut herausgearbeitet und mit viel Gefühl langsam aufgebaut.

Auch wenn der Roman mit sehr schlichtem und einfachem Schreibstil aufwartet, wird die erzählte Geschichte doch von Magie, Tragik und Hoffnung getragen. Es sind die kleinen Momente der Erkenntnis, die jeden Briefwechsel zu etwas besonderem machen. Manch einer mag sich nach der Lektüre so einen magischen Briefschlitz wünschen, um seine Sorgen jemandem anvertrauen zu können.

Was mir sehr gefallen hat, war das wunderschöne Cover mit den changierenden Farben, die an einen Kimonostoff erinnern und die schmeichelnde Haptik des Papiers.

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Veröffentlicht am 22.05.2021

Finde dich selbst und werde glücklich

Die Mitternachtsbibliothek
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Trauriger kann ein Leben gar nicht sein. Nora Seed sieht auf die Scherben ihres Lebens und ist dessen überdrüssig. Ihr Job wird ihr gekündigt und als ihre Katze tot auf der Straße gefunden wird, ist die ...

Trauriger kann ein Leben gar nicht sein. Nora Seed sieht auf die Scherben ihres Lebens und ist dessen überdrüssig. Ihr Job wird ihr gekündigt und als ihre Katze tot auf der Straße gefunden wird, ist die Verzweiflung so groß, dass sie sich gegen das Leben entscheidet. Aber statt zu sterben, führt sie ihr Weg in die Mitternachtsbibliothek. Dieser Ort ist gefüllt mit all den Möglichkeiten, die sich Nora in ihrem Leben ergeben haben, die sie aber nicht gewählt hat. Da in der Bibliothek die Zeit still steht, kann Nora jedes ihrer nicht gewählten Leben auswählen, um das für sie richtige zu finden.

Matt Haig widmet sich einer Frage, die sich jeder im Leben schon mindestens einmal gestellt hat: "Was wäre wenn ..." Auch wenn es nicht immer so dramatisch wie bei Nora im Leben endet, steht diese Frage doch häufig im Raum. Wer würde nicht gern einmal die Chance haben, die verpassten Wege und Möglichkeiten zu betrachten. Im Hörbuch wird dieser Roman von Anette Frier mehr als gekonnt, lebendig und glaubhaft gelesen. Sie gibt Nora Seed eine Stimme.

Die Grundstimmung des Romans ist melancholisch und traurig. Eine junge Frau, die in ihrer Jugend voller Träume und Möglichkeiten war. Sie träumte vom Erfolg in einer Musikband, von Schwimmrekorden und der großen Liebe. Nichts von allem konnte sie in die Tat umsetzen und wurde zudem noch von familiären Schicksalsschlägen getroffen. Der zu frühe Tod von Mutter und Vater und die Abwendung vom großen Bruder hat ihr den Halt genommen.

Umso spannender wird es, als Nora versucht, sich das Leben zu nehmen und in einer Bibliothek voller Bücher landet, die von ihrer vertrauten Schulbibliothekarin verwaltet werden. Mit ihrer Hilfe springt Nora in immer andere Leben, die sie hätte leben können. Sie ist Gletscherwissenschaftlerin, Popstar, Schwimmsportlerin, Ehefrau und lebt auf unterschiedlichen Kontinenten. Ihre Familienmitglieder und Freunde haben darin immer andere Gewichtungen oder existieren dort gar nicht. Doch eines tritt früher oder später immer ein, Nora springt zurück in die Mitternachtsbibliothek, weil ihr Leben auf die ein oder andere Weise für sie nicht das richtige Leben ist.

Auch wenn es manche Passagen mit zu viel Länge oder arg übertriebener Handlung gab, hat mich dieser Roman berührt. Noras unglückliche Suche nach dem perfekten Leben spiegelt so sehr den Wunsch, den viele in sich tragen. Dabei vergessen wir oft, uns auf das Nächstmögliche zu konzentrieren. Die kleinen Glücksmomente im Leben, die einen glücklich und zufrieden zurücklassen und täglich sichtbar werden, wenn man nur die Augen dafür öffnet.

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