Der Trauer Raum geben
NiemehrzeitBeinahe ein Jahr nach dem Tod seiner Eltern, die im Abstand von nur wenigen Monaten gestorben sind, beginnt Christian Dittloff mit der Arbeit an dem hier zu besprechenden Buch. Er beschreibt sein Trauerjahr ...
Beinahe ein Jahr nach dem Tod seiner Eltern, die im Abstand von nur wenigen Monaten gestorben sind, beginnt Christian Dittloff mit der Arbeit an dem hier zu besprechenden Buch. Er beschreibt sein Trauerjahr also im Rückblick, wobei man aber stets den Eindruck hat, er schriebe unmittelbar, genau während jener Zeit, in der er mit dem Verlust seiner Eltern konfrontiert wird, in der sein Leben aus dem Gleichgewicht gerät und er darum bemüht ist, seiner vielfältigen, auf ihn einstürzenden, Gefühle Herr zu werden. Die zeitliche Distanz zwischen der Niederschrift und dem Erleben und Verarbeiten der beiden so gravierenden Ereignisse in seinem Leben ist kaum zu spüren – und doch ist sie da! Muss da sein, denn Worte dieser Art findet man im Aufruhr und der Konfusion all der starken, wenn auch zum Teil nicht greif- und benennbaren Gefühle nicht, die kommen einem erst später, wenn man wieder rationaler Gedanken fähig ist. Die Trauer hatte bereits ihre Zeit, sie konnte – und musste! - gelebt, überwunden und allmählich umgewandelt werden, ohne freilich ganz zu verschwinden. Noch nicht, vielleicht nie. Zeit heilt alle Wunden? Ich bezweifle das. Es gibt Wunden, die heilen nie, selbst wenn der Schmerz im Laufe der Zeit nachlässt und es schließlich ermöglicht, mit ihm umzugehen, ihn in den Alltag zu integrieren, der sich auch nach den tiefgreifendsten Einschnitten in unserem Leben so unweigerlich wie tröstlich wieder einstellt, vielleicht in veränderter Form, vielleicht bewusster erlebt, bereichert durch den durchlittenen Schmerz über den Verlust und das, dessen man sich während der Trauerarbeit klar geworden ist.
Und genau diese letztere, um auf „Niemehrzeit“ zurückzukommen, teilt der Autor in mich überraschender Offenheit und in jeweils sehr detaillierten Momentaufnahmen mit seinen Lesern! Von dem Moment an, als nach der Nachricht vom Tode seines Vaters sein bisheriges Leben aus den Fugen gerät, über den nicht erwarteten rasch folgenden Tod seiner Mutter bis hin zur Auflösung des elterlichen Haushaltes in Hamburg. Nach außen geht das Leben in gewohntem Tempo weiter, kaum Raum lassend, um sich innerlich zu sortieren, seine Trauer herauszuschreien, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Da der Autor das einzige Kind seiner Eltern ist, ist es an ihm, die Beerdigungen zu organisieren und die ihm enorm lästigen, in unserer Gesellschaft aber unerlässlichen zahlreichen Anrufe mit Behörden zu tätigen, sich, was er erst einmal hinausschiebt, darüberhinaus um die persönlichen Besitztümer seiner Eltern zu kümmern. Gleichzeitig wird ihm zunehmend bewusst, wie wenig er im Grunde über seine Eltern und seine Wurzeln weiß, zumal gerade die Mutter, eine sehr eigene und eigenwillige Person, nur ungern über ihre eigene Kindheit und Familie gesprochen hatte. Dies war offensichtlich zu Lebzeiten der Eltern nie ein Problem für Christian Dittloff, wurde es aber mit ihrem Ableben, denn nun ist es unwiderruflich zu spät, ihnen Fragen zu stellen, so wie es zu spät ist, Zeit mit ihnen zu verbringen, Zeit, die man durchaus gehabt hätte – wenn man seine Prioritäten anders gesetzt hätte.
Vielen dürften Schuldgefühle dieser Art nicht unbekannt sein, der Autor aber spricht sie aus, stellvertreten sozusagen, ehrlich, ohne zu beschönigen. Und Szenen wie diese sind bezeichnend für das gesamte Buch; gerade denjenigen unter den Lesern, die bereits mit dem Tod eines nahen Angehörigen konfrontiert waren, werden sie sehr vertraut sein, genauso, wie sie das Auf und Ab der Gefühle, über die Dittloff schreibt, nur zu gut kennen werden.
Dennoch, und dies betont der Autor nicht nur einmal, jeder erlebt Trauer anders, geht anders damit um, ist letztend allein damit, mit seiner Untröstlichkeit – so empathisch ihm die Menschen aus seinem Umfeld auch begegnen mögen. Genauso wie der Betroffene den Weg aus der Trauer, so lange sie auch dauert – und da gibt es keine vorgeschriebene zeitliche Limitierung -, alleine gehen, seine eigenen Mechanismen finden muss. Der Autor fand Trost im Lesen und danach im Niederschreiben all dessen, was ihn bewegte in dem Jahr, das dem Tod seiner Eltern folgte, aber da er der schreibenden Zunft angehört, also ein Mann der Worte, sowieso ein Leser ist, war das sein persönlicher Weg, kann kein Allheilmittel sein. So wie „Niemehrzeit“ unverwechselbar und nicht übertragbar sein persönliches Buch ist - und es dabei auch um seine ganz persönliche Annäherung an seine Eltern geht, die er sozusagen posthum neu kennenlernt -, keineswegs ein allgemeingültiger Ratgeber und meiner Meinung nach auch kein Trostbuch für all diejenigen, die gerade den Tod eines ihnen Nahestehenden betrauern. Und da ich selbst zu dieser Gruppe gehöre, würde ich gerade für sie Christian Dittloffs unzweifelhaft hervorragend geschriebenes, berührendes, aufrichtiges und sehr intensives Buch erst nach einem gewissen zeitlichen Abstand empfehlen, nämlich erst dann, wenn die eigene, ganz und gar individuelle Trauerarbeit bereits weitgehend bewältigt wurde – so lange sie eben dauert!