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Veröffentlicht am 25.03.2022

Schmerzvolle Ernüchterung

Die Diplomatin
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Im Angesicht weltweiter Krisenherde, Syrien, der Jemen, Afghanistan oder jüngst die Ukraine, bleiben Zweifel an den Erfolgsaussichten der Diplomatie nicht aus. Dass auch Diplomatinnen und Diplomaten verzweifeln, ...

Im Angesicht weltweiter Krisenherde, Syrien, der Jemen, Afghanistan oder jüngst die Ukraine, bleiben Zweifel an den Erfolgsaussichten der Diplomatie nicht aus. Dass auch Diplomatinnen und Diplomaten verzweifeln, wenn sie trotz hoher Motivation und exzellenter Ausbildung an den Grenzen ihrer Profession zerschellen, zeigt Lucy Fricke an ihrer Protagonistin Friederike Andermann, genannt Fred, in ihrem neuen Roman "Die Diplomatin".

Zu Beginn scheint alles im Lot:

"Vor dem Fenster knatterte die deutsche Flagge im Wind." (Anfangssatz S. 9)

Nach fast 20 Jahren im Auswärtigen Dienst hat Fred mit knapp 50 ihren ersten Posten als Botschafterin in Montevideo, ein Aufstieg, der nicht zuletzt dem Streben der Behörde nach einer höheren Frauenquote zu verdanken ist. Als Kind einer alleinerziehenden Kellnerin aus einem Hamburger Arbeiterviertel musste sie hart um den Aufstieg kämpfen und auf Partner, Kinder, Haus und Garten verzichten. Während die Botschaftergattin als Typus verbreitet ist, gilt der „MAP“, „mitausreisender Partner“, der seiner Frau alle paar Jahre in ein anderes Land folgt und auf eine eigene Karriere verzichtet, als seltene Spezies.

Der Karriereknick
In Uruguay wartet auf Fred ein vermeintliches Paradies, Konflikte sind unwahrscheinlich und die größte Herausforderung besteht in der Ausrichtung des jährlichen Nationalfeiertags:

"Ich hatte mich für diesen Beruf entschieden, weil ich etwas bewirken wollte. Und jetzt hatte ich eine geschlagene Stunde über Grillfleisch und Bratwürstchen diskutiert." (S. 15)

Den Rest der Zeit feiert man die Nationalfeiertage anderer Nationen:

"Ich stehe da rum und bin nur Deutschland." (S. 18)

Doch dann wird es schneller ernst als gedacht, eine vermisste Touristin ist ausgerechnet die Tochter einer deutschen Mediengröße und Freds stetig ansteigende Karrierekurve, für die sie ihr Privatleben geopfert hat, knickt ab.

Bewährungsprobe auf rutschigem Parkett
Nach strapaziösen Wochen und einer Abberufung ins Krisenreaktionszentrum der Zentrale wird eine veränderte Fred Konsulin in Istanbul und damit zuständig für deutsche Staatsangehörige in der Türkei, eine schwierige Aufgabe auf rutschigem Parkett in einem autokratischen Land:

"Schon beim Wort Dialog stellten sich bei mir inzwischen die Nackenhaare auf. Immerzu sprach man vom Dialog, während in Wahrheit die türkischen Behörden nicht mal mehr ans Telefon gingen." (S. 84)

Angesichts einer willkürlich in einem türkischen Frauengefängnis inhaftierten deutsch-kurdischen Kunsthistorikerin, ihres unter Hausarrest stehenden Sohnes und eines per Haftbefehl gesuchten deutschen Journalisten, der sich als „diplomatische Krise auf meine Bettkante gesetzt hatte (S. 152)“ verliert Fred zunehmend die Geduld, was einer Berufsunfähigkeit gleichkommt. Das Wissen um die Machtlosigkeit ihres hohen Amtes lässt sie an der Diplomatie verzweifeln und Maßnahmen in Betracht ziehen, die ganz und gar nicht Teil ihres diplomatischen Instrumentenkastens sind…

Ein Roman der Stunde
"Die Diplomatin" ist ein durch und durch gelungener Roman: politisch, hochaktuell, spannend, literarisch, in zahlreichen Gesprächen mit Angehörigen des diplomatischen Dienstes und während eines Stipendien-Aufenthalts vor Ort hervorragend recherchiert, originell in Thematik und Handlung und dabei höchst unterhaltsam. Sprache und Materie sind auf das Notwendige reduziert. Der anfangs humorvolle Ton, bei dem ich immer wieder herzlich lachen musste, wird zunehmend ernster und nachdenklicher, ohne auf Ironie und Lakonie zu verzichten. Selbst die Flagge scheint am Ende entmutigt:

"Hinter dem Rauch wehte schlaff die deutsche Flagge im Wind." (Schlusssatz S. 254)

Unbedingt lesen!

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Veröffentlicht am 22.03.2022

Ein Vater, der nicht zum Helden taugt oder Familie ist Schicksal

Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte
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Die Verdachtsdiagnose Krebs löst im autofiktionalen Roman Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte von Felix Schmidt beim 87-jährigen Protagonisten ein „diffuses Gefühl existenzieller Bedrohung“ aus. Dahinter ...

Die Verdachtsdiagnose Krebs löst im autofiktionalen Roman Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte von Felix Schmidt beim 87-jährigen Protagonisten ein „diffuses Gefühl existenzieller Bedrohung“ aus. Dahinter steckt jedoch mehr als nur die Furcht vor einer schweren Erkrankung, denn Ängste haben ihn sein ganzes Leben lang begleitet. Nun möchte er ihnen am Ort seiner Kindheit auf den Grund gehen:

"Während ich den Koffer packe, keimt die Hoffnung in mir auf, dass es eine Reise werden könnte, die zu mir hinführt." (S. 9)

Für zwei Wochen ist ein Hotelzimmer in der „Kleinen Stadt am Rhein“ mit den barocken Häuserfassaden gebucht, irgendwo in der Rheinebene zwischen Karlsruhe und Breisach, nicht im Schwarzwald, wie das Cover es erstaunlicherweise suggeriert.

Außenseiter
1934 als erstes Kind eines Küfers und seiner Frau geboren, litt der sensible Ich-Erzähler übermäßig unter dem Jähzorn, der Düsternis und Gewalttätigkeit des Vaters, vor der ihn auch die konturlose, distanzierte Mutter nicht schützen konnte oder wollte. Früh nahm ihn die im gleichen Haus lebende, fromme und liebevoll-pragmatische Großmutter zu sich und schenkte ihm die schmerzlich vermisste Geborgenheit.

Von Beginn an lehnte der Vater Hitler vehement ab. Diese Haltung verstärkte sich noch, als er nach wenigen Monaten an der Front krank zurückkehrte und nie wieder ganz genas.

Für den Sohn hatte die väterliche Oppositionshaltung tiefgreifende Folgen, weil der als echter badischer „Rappelkopf“ seine Meinung deutlich und ohne Rücksicht auf die Gefahr für die Familie lautstark kundtat:

"Nein, verblödet war der Vater nicht, närrisch schon und verblendet. Was ihn antrieb, war eine Mischung aus Anstand und angeborenem Widerspruchsgeist. Die Folgen seines Tuns bedachte er nicht. Er war ein widerborstiger Mann aus dem Kleinbürgertum, der sagte, was er dachte – und das deutlich. Er war einer, der nicht mitmachen wollte, was er sollte. Zur Heldengeschichte taugte er aber nicht." (S. 76)

Das Kind durfte nicht zur Hitlerjugend, war Außenseiter und wurde zum Verrat am Vater verführt. Wieviel einfacher wäre es mit einem Mitläufer und Duckmäuser als Vater gewesen.

Auch nach Kriegsende konnte der Vater nicht lockerlassen, litt unter der Rückkehr ehemaliger Täter auf ihre Posten, verlotterte zunehmend und starb früh. Den Ich-Erzähler hielt nach dem Abitur nichts in der Heimat.

Ein sehr persönlicher Roman
Felix Schmidt, geboren 1934, arbeitete als Journalist in leitender Funktion unter anderem beim Spiegel, Stern und der Welt am Sonntag sowie für Radio und Fernsehen. Daneben verfasste er Sachbücher zur Musik, der immer seine Liebe galt. Erst 2020 erschien sein erster Roman "Amelie" und nun sein zweiter, "Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte", mit stark autofiktionalem Bezug: eine Auseinandersetzung mit dem Vater, mit Schuld und den traumatisierenden Kriegserlebnissen. Hervorragend gelungen ist die kindliche Perspektive, die der Autor nur selten verlässt. Auf gut 150 Seiten entwirft Felix Schmidt das Bild einer ambivalenten Vater-Figur, die er erst in der Rückschau in ihrer ganzen Komplexität zu begreifen beginnt. Trotz der düsteren Schatten seiner Kindheit erhebt er keine Anklage sondern zollt ihm sogar Respekt.

Ein sehr lesenswerter, unspektakulär und knapp erzählter Roman, dessen erschreckende Aktualität sich leider soeben durch den Überfall Russlands auf die Ukraine zeigt.

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Veröffentlicht am 27.08.2021

Ein Frauenleben, eine Landschaft und fast ein Jahrhundert

Die Hebamme
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"Sie lebten so, wie es Menschen zu allen Zeiten in Norwegen und dem Norden getan haben: Sie lebten mit den Jahreszeiten, die gerade hier so wechselhaft waren." (S. 320)

Edvard Hoem, geboren 1949 im westnorwegischen ...

"Sie lebten so, wie es Menschen zu allen Zeiten in Norwegen und dem Norden getan haben: Sie lebten mit den Jahreszeiten, die gerade hier so wechselhaft waren." (S. 320)

Edvard Hoem, geboren 1949 im westnorwegischen Molde, ist als Romanautor, Dramatiker und Lyriker in seiner Heimat sehr bekannt und vielfach ausgezeichnet. Besonders erfolgreich sind seine Romane über sich und seine Vorfahren aus Romsdal, von denen auf Deutsch 2007 "Die Geschichte von Mutter und Vater" und 2009 "Heimatland. Kindheit" erschienen. "Die Hebamme" führt nun weiter zurück und schildert das Leben seiner Ururgroßmutter Marta Kristine Anderdatter Nesje, die von 1793 bis 1877 am Romsdalsfjord lebte und über 50 Jahre lang dort die erste staatlich bestellte Hebamme war:

"Das war ein Leben. Marta Kristine Andersdatter Nesje hatte mehrere Zeitalter durchlebt, sieben Könige überlebt und unter vieren gedient. […] Sie hatte immer genug zu tun gehabt und […] mehr als tausend Kinder in Empfang genommen." (S. 335)

Ein aufgewecktes Mädchen
Der erste Teil des Romans beginnt, als Marta Kristines Familie 1800 die Fjordseite wechselt und in eine Häuslerkate in Nesje zieht. Der Vater, Anders Knudsen, Schuhmacher und eine der beeindruckendsten Figuren des Romans, ist klug und vorausschauend und schickt seine Tochter in die Dorfschule. Dort lernt sie ihren späteren Mann Hans Nesje kennen, den freundlichen blonden jüngsten Sohn des Großbauern. Es ist ein langer Weg bis zur Hochzeit im Juli 1817, als sie bereits eine uneheliche Tochter von einem anderen hat und durch traumatisierende Kriegserlebnisse bei Hans der Grundstock für seine lebenslange Schwermut gelegt ist.

Marta Kristines Tür zur Welt
Beharrlich verfolgt Marta Kristine, angeregt durch den von ihr verehrten Pastor, den Plan, sich zur Hebamme ausbilden zu lassen, eine Möglichkeit, die nur „sittlichen Frauen“ offenstand. Im Herbst 1817 kann sie trotzdem als eine der Ersten einen sechswöchigen Kurs in Molde belegen.

Im zweiten Teil ist Marta Kristine ordentlich zur Hebamme bestellt, wird jedoch aufgrund von Armut, Misstrauen und Aberglaube trotz der von der Kanzel verkündeten Hebammenverordnung kaum gerufen. Nachdem sie drei weitere Kinder geboren hat, wandert Marta Kristine deshalb im Herbst 1821 600 Kilometer zu Fuß nach Christiania, dem heutigen Oslo, um ihre Qualifikation am dortigen Geburtshilfestift zu vervollständigen. Als sie nach neun Monaten zurückkehrt, hat sich Hans‘ Zustand endgültig verschlechtert.

Zehn eheliche Kinder bringt Marta Kristine zur Welt, die sie mit Hans und der Hilfe ihrer Eltern und der unehelichen Tochter in ständiger Armut in einer Häuslerkate großzieht. Obwohl sie auch Einkünfte aus der Pockenimpfung bezieht und Hans sich im Fischen versucht, verliert sie nach seinem frühen Tod fast alles an Gläubiger und muss noch einmal neu beginnen.

Der dritte Teil ist dem Leben Marta Kristines als Witwe gewidmet.

Fakten und Fiktion
"Es ist ein Roman, geschrieben auf der Grundlage dokumentierter Fakten. Die Darstellung der Personen fußt auf vereinzelten, spärlichen Informationen. Niemand weiß mehr, wer sie waren." (Vorwort)

Streng chronologisch und mit vielen Fakten aus Archiven gespickt, zeichnet Edvard Hoem auf beeindruckend glaubwürdige Weise die Welt des 19. Jahrhunderts in Norwegen. Die außergewöhnlich starke Frauenfigur, die bewegende Liebesgeschichte, die Anfänge der professionellen Geburtshilfe, das Porträt der notleidenden bäuerlichen Gesellschaft und die alles beherrschende Natur – darüber erzählt Edvard Hoem vor dem Hintergrund der Geschichte Norwegens so mitreißend gut, dass ich mich beim Lesen ganz und gar verloren habe.

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Veröffentlicht am 20.08.2021

Lebenslange Sehnsucht nach Aufmerksamkeit und Liebe

Die Überlebenden
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Alex Schulman, geboren 1976 in Schweden, ist in seiner Heimat als Journalist, Autor mehrerer autobiografischer Bücher über seine Familie, Blogger, Podcaster und aus Fernsehen und Radio sehr populär. Sein ...

Alex Schulman, geboren 1976 in Schweden, ist in seiner Heimat als Journalist, Autor mehrerer autobiografischer Bücher über seine Familie, Blogger, Podcaster und aus Fernsehen und Radio sehr populär. Sein Romandebüt "Die Überlebenden" war in seinem Heimatland ein großer Erfolg, wobei schwedische Leser Teile seiner Familiengeschichte in dieser fiktionalen Erzählung wiederfinden.

Drei Brüder
Zu Beginn eine filmreife Szene: Drei Männer in schwarzen Anzügen und Krawatten sitzen in einer Juninacht auf der Steintreppe vor einem abgelegenen, verwitterten roten Sommerhaus am See und halten sich weinend im Arm. Neben ihnen steht die Urne mit der Asche ihrer Mutter, die sie nach deren letztem Willen im See verstreuen sollen. Benjamin, der mittlere der Brüder, hat die Polizei und einen Krankenwagen gerufen, denn kurz zuvor hätten sich Nils, der ältere, und Pierre, der jüngste, fast totgeschlagen. Was ist geschehen?

"Was sich hier auf der Steintreppe abspielt, das Weinen der drei Brüder, die geschwollenen Gesichter und all das Blut, ist nur der letzte Ring auf dem Wasser, der äußerste, der am weitesten vom Einschlagpunkt entfernt ist." (S. 13)

Eine außergewöhnliche Struktur
Alex Schulman erzählt den Roman konsequent aus Benjamins Sicht. In zwei Teilen, untergliedert in insgesamt 24 Kapitel, wechseln sich zwei Zeitebenen ab. In der Gegenwartsebene wird der Tag der Urnenbeisetzung im Zweistundenrhythmus rückwärts erzählt. Dazwischen gibt es Episoden aus der Kindheit, später aus dem jugendlichen und dem Erwachsenenleben der Brüder, durch Schlüsselwörter verzahnt. Beide Ebenen nähern sich kontinuierlich an, bis sie zuletzt verschmelzen.

Bei den Erlebnissen im ersten Teil aus dem letzten Sommer am See sind die Brüder dreizehn, neun und sieben Jahre alt. Die idyllische Umgebung steht in diametralem Kontrast zum überwiegend düsteren Alltag einer dysfunktionalen Familie, in der die Kinder nur selten die ersehnte Aufmerksamkeit und Liebe der Eltern erhalten. Vom Alkohol vernebelt demonstrieren die Eltern meist Desinteresse, sind launisch und unberechenbar, verhängen sadistische Strafen und riskieren leichtfertig das Leben ihrer Kinder. Krassestes Beispiel dafür ist ein vom Vater ausgerufener Schwimmwettbewerb, bei dem die Brüder fast ertrinken, die Eltern sich jedoch inzwischen ins Haus zurückgezogen und die drei vergessen haben.

Unterschiedliche Strategien
Benjamin ist der sensibelste unter den Brüdern, der Familienseismograf, der die Stimmungen präzise auslotet und sogar vorhersieht. Nils, begabt und Hoffnungsträger der Eltern, zieht sich so weit als möglich in seine eigene Welt zurück. Pierre wird mit den Jahren brutal und aggressiv nach außen, behält aber wie die anderen einen weichen, verletzlichen Kern.

Das fehlende Puzzleteil
Alex Schulman geht in "Die Überlebenden" den Fragen nach, wie es zur Entfremdung der Brüder kommen konnte und was das Leben in einer dysfunktionalen, von Schweigen bestimmten Familie auslöst. Selten hat mich ein Roman auf den letzten Seiten derart überrascht wie dieser, obwohl ich beim Lesen von Beginn an eine unerklärliche Unruhe verspürte. Erst ganz zum Schluss wurde mir klar, dass ein fehlendes Puzzleteil dafür verantwortlich war.

Diese genial angelegte Wendung, die gekonnte Verzahnung der Zeitebenen, die erschütternden Kindheitserlebnisse und die stark verdichtete, mit beklemmenden Bildern unterlegte Erzählweise werden mir dauerhaft im Gedächtnis bleiben. Ich freue mich auf weitere Romane von Alex Schulman!

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Veröffentlicht am 02.07.2021

Wie gut kennen wir unsere Nächsten?

Tiefer Fjord
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Thriller lese ich eher selten, aber hier haben mich Autorin und Übersetzer neugierig gemacht. Ruth Lillegraven lernte ich 2019 beim Gastlandauftritt Norwegens auf der Frankfurter Buchmesse bei einem „Kaffeslabberas“ ...

Thriller lese ich eher selten, aber hier haben mich Autorin und Übersetzer neugierig gemacht. Ruth Lillegraven lernte ich 2019 beim Gastlandauftritt Norwegens auf der Frankfurter Buchmesse bei einem „Kaffeslabberas“ kennen, damals als Autorin preisgekrönter Lyrik, des Romans "Sichel" in Form eines Langgedichts und von Kinderbüchern. Dass sie 2018 auch einen Psycho-Thriller geschrieben hat, der nun unter dem Titel "Tiefer Fjord" auf Deutsch erschien, hat mich bei dieser 1978 geborenen, sehr zurückhaltenden Frau überrascht, ebenso wie Hinrich Schmidt-Henkel als Übersetzer, der beispielsweise die sehr literarischen Roman von Tarjei Vesaas fantastisch ins Deutsche übertragen hat.

In der Tat ist "Tiefer Fjord" in vielerlei Hinsicht ein besonderer Thriller. Der norwegische Originaltitel Alt er mitt (Alles ist mein) ist einem Gedicht des schwedischen Literaturnobelpreisträgers Pär Lagerkvist (1891 - 1974) entnommen, den ein Protagonist ahnungsvoll zitiert:

Alles ist mein, alles wird mir genommen, schon bald wird mir alles genommen. (S. 171)

Risse in der Fassade
Clara Lofthus und Haavard Fougner sind ein junges Vorzeigepaar mit einer Villa im Osloer Westen und Zwillingen. Beide sind beruflich sehr engagiert und erfolgreich, Clara als Juristin im Justizministerium, Haavard als Kinderarzt in Norwegens größtem Krankenhaus Ullevål. Ihre Vergangenheit könnte jedoch unterschiedlicher nicht sein: Während Clara eine traumatisierende Kindheit auf einem Hof in West-Norwegen verbrachte, kam Haavard in Oslo mit dem sprichwörtlichen goldenen Löffel im Mund zur Welt.

Hinter der Fassade ihrer Ehe klaffen tiefe Risse. Für Haavard ist die willensstarke und kompromisslose Clara längst nicht mehr das ungezähmte, erfrischend andere „Naturkind“, sondern die „Eiskönigin“, die seit einem Unfall vor 30 Jahren nicht mehr weinte. Haavard dagegen ist zwar nach außen warm und umgänglich, bei Nähe jedoch kühl. Die Affäre mit seiner Kollegin Sabiya ist nicht seine erste.

Eines verbindet Clara und Haavard jedoch: ihr Engagement gegen Kindesmisshandlung. Clara arbeitet an einem Gesetzesvorschlag zur verschärften Überwachung und Meldepflicht, Haavard wird mit Fällen dieser Art bei der Arbeit konfrontiert. Als wieder einmal ein gewalttätiger, pöbelnder pakistanischer Einwanderer mit seinem sterbenden Kind kommt, will er nicht mehr tatenlos zusehen. Kurze Zeit später ist der Vater tot…

Ein Psycho-Thriller mit ungeheuerem Sog
"Tiefer Fjord" hat genau, was für mich einen Thriller lesenswert macht: eine extrem spannende Handlung mit für mich völlig unvorhersehbaren Wendungen und interessante Themen wie Kindesmisshandlung und Rassismus. Dazu gibt es tiefe Einblicke in den norwegischen Verwaltungs- und Politikbetrieb, den Ruth Lillegraven aus langjähriger Arbeit im Verkehrsministerium bestens kennt, und traumhafte Beschreibungen ihrer Heimat West-Norwegen. Auch die Erzählweise hat mir sehr zugesagt: 75 kurze Kapitel aus der Sicht verschiedener Ich-Erzählerinnen und -Erzähler, meist Clara und Haavard, und verschiedene Zeitebenen bis zurück zu Claras Geburt. Eine völlig untergeordnete Rolle spielt dagegen die Polizei. Alles ist perfekt konstruiert, vielleicht zu perfekt, um wirklich so passiert zu sein, aber das hat mich nicht gestört.

Völlig unverständlich ist für mich allerdings die Wahl des Covers, das keinerlei Bezug zu Titel oder Inhalt hat. Warum nicht ein Fjord oder zumindest Wasser?

Es geht weiter
Da der Thriller als Mehrteiler angelegt ist – der zweite Band erschien soeben in Norwegen unter dem Titel "Av mitt blod" –, werden längst nicht alle Handlungsstränge aufgelöst. Hoffentlich geht es auch auf Deutsch bald weiter!

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