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Veröffentlicht am 30.01.2022

Selbstbewusst, mutig, radikal

Zusammenkunft
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“Es ist eine Geschichte. Sie handelt von Herausforderungen. Von harter Arbeit. Sich am Riemen reißen. Hochgerollten Hemdsärmeln. Sie handelt davon, wie man sich zwingt. Hoch. Bewältigung. Überwindung, ...

“Es ist eine Geschichte. Sie handelt von Herausforderungen. Von harter Arbeit. Sich am Riemen reißen. Hochgerollten Hemdsärmeln. Sie handelt davon, wie man sich zwingt. Hoch. Bewältigung. Überwindung, et cetera.”

So beginnt dieser auf den ersten Blick unscheinbar dünne Roman “Zusammenkunft” von Natasha Brown. Doch schon nach den ersten Seiten wird klar, dass er alles andere als unscheinbar ist, dass er ganz im Gegenteil politisch und radikal ist, Gesellschaftskritik übt und dass er sich mit Themen wie sozialem Aufstieg, institutionalisiertem und alltäglichem Rassismus sowie Kolonialismus auseinandersetzt.

Die Protagonistin lebt als Tochter von jamaikanischen Einwanderern in London, arbeitet im Finanzsektor, hat sich bis zum Besitz eines gregorianischen Townhouses mit Kunst an den Wänden hochgearbeitet, zu einer privaten Krankenversicherung und einem Vermögensberater. Doch das ist nur die eine Seite ihres Lebens, der schöne Schein. Denn gleichzeitig sind da die Abendessen mit den Kollegen, die Aufdringlichkeiten und Annäherungsversuche, die Erniedrigungen, der ständige Kampf oben zu bleiben, nicht abzustürzen und die Angst, nicht wirklich oben anzukommen und diejenigen, zu denen sie dazugehören muss, nicht richtig nachahmen zu können.

Dann ist da noch der Freund der Protagonistin, der aus reichem Hause kommt und in der Politik arbeitet. Seine liberalen Eltern tolerieren sie, geben ihr aber gleichzeitig zu verstehen, dass sie sie nur als eine Phase des Sohnes betrachten, als einen Übergang. Denn eine Heirat würde den guten Namen und das Stammbuch der Familie beschmutzen: “Es ging um die Reinheit der Abstammung, der Geschichte; geteilter kultureller Sitten und Empfindungen. Die Fortführung eines Lebensstils, einer Klasse, des notwendigen höheren gesellschaftlichen Rangs.” Die Durchlässigkeit der Klassen, der soziale Aufstieg durch harte Arbeit: das alles entlarvt Brown als Farce.

An die Stelle dieses Narrativs von Aufstieg und Erfolg durch Arbeit rückt Brown die Angst vor dem Abstieg, die allgegenwärtig ist, die Fragilität, die Kompromisse und die Fiktionalisierung des Ichs. Denn dass die Protagonistin eine Rolle spielt, kommt immer wieder zum Ausdruck. Sie muss sich einen Habitus aneignen, der nicht der ihrige ist, wird zu einer Parodie ihrer selbst: “Hier geboren, Eltern hier geboren, immer hier gelebt - trotzdem, nie von hier. Ihre Kultur wird auf meinem Körper zur Parodie”. Sie “spaltet sich ab”, um dazuzugehören, verzichtet auf ihr Glück, um das, was noch ihren Eltern und Großeltern verwehrt wurden, erreichen zu können, nämlich ein Stück oberen Mittelklassekomforts.

Natasha Brown reduziert ihren Roman auf das Wichtigste, auf den Kern und verzichtet auf Ausschweifungen. Ihre Worte treffen dabei ins Mark. Auf den ersten Blick mag der Erzählstil mit seinen kurzen Sätzen und Abschnitten fragmentarisch anmuten, doch die Zusammenhänge sind allzu klar, als dass man sie nicht erkennen würde. “Zusammenkunft” ist ein wütendes Buch und ein lautes, weil es kein Blatt vor den Mund nimmt, weil es sich nicht scheut, das zu sagen, was gesagt werden muss. Weil es von der Ausbeutung der kolonialisierten Länder spricht, die bis heute andauert, von einer Gesellschaft, die sich sträubt, die Verbrechen des Kolonialismus überhaupt anzuerkennen und stattdessen ein märchenhaftes, wohlwollendes Empire verherrlicht.

Zu Recht hat dieser Roman im englischsprachigen Raum für Furore gesorgt. Denn er spricht über das, was oft ungesagt bleibt, hält der (britischen) Gesellschaft einen Spiegel vor und ist deshalb eine Bereicherung für die Gegenwartsliteratur.

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Veröffentlicht am 28.09.2021

Sterne, Karten, Ungeheuer und ein mutiges Mädchen

Die Sternenleserin und das Geheimnis der Insel
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Isabelle wächst als Tochter eines Kartographen auf der abgelegenen Insel Joya auf. Einst eine durch die Weltmeere frei schwimmende Insel, wird Joya heutzutage von einem Gouverneur mit harter Hand regiert. ...

Isabelle wächst als Tochter eines Kartographen auf der abgelegenen Insel Joya auf. Einst eine durch die Weltmeere frei schwimmende Insel, wird Joya heutzutage von einem Gouverneur mit harter Hand regiert. Regeln und Ungerechtigkeiten bestimmen das Leben und den Alltag. Die Bewohner dürfen weder ins Meer noch in den Wald gehen und dürfen sich nur in einem bestimmten Teil der Insel aufhalten. Denn dahinter liegen die Vergessenen Gebiete, in denen der Legende nach Dämonen ihr Unwesen treiben.

Als Cata, ein junges Mädchen, ermordet aufgefunden wird, ändert sich das Leben auf der Insel von einem Tag auf den anderen. Lupe, die Tochter des Gouverneurs und Isas Freundin, macht sich alleine auf die Suche nach dem Mörder. Eine Expedition des Gouverneurs folgt ihr nur kurze Zeit später. Verkleidet als Junge und ausgestattet mit einer Karte des Gebiets, reist Isa mit und leitet die Expedition durch die dunklen Gebiete, in denen überall Gefahren lauern.

“Die Sternenleserin und das Geheimnis der Insel” ist der Debütroman von Kiran Millwood Hargrove, der nun auch endlich auf Deutsch und in einer sehr schönen Aufmachung im Inselverlag erscheint. In England hat der Roman bereits zahlreiche Preise gewinnen können, so unter anderem den Waterstones Children’s Book Prize und den British Book Award’s Children’s Book of the Year. Und das zurecht! Denn Hargrave erzählt eine Geschichte, die von der ersten Seite an durch ihre besondere Welt, ihre Atmosphäre und durch ihre Figuren besticht.

Es ist eine magische Welt, in die die Autorin den Leser entführt, eine, in der Ungeheuer, Bosheit und das Dunkle sich auszubreiten drohen. Aber gleichzeitig ist es auch eine Welt, in der mutige Figuren dazu bereit sind, sich dem Bösen zu stellen und es zu bekämpfen. Besonders Isa wächst dem Leser mit ihrer Abenteuerlust, ihrem Mut und ihrer Unerschrockenheit im Laufe der Geschichte ans Herz. Da, wo Erwachsene und die Mächtigen versagen, setzt Isa an. Sie scheut sich nicht davor, den schwierigsten Weg zu gehen, weiß, was Verantwortung bedeutet und hält stets zu ihren Freunden.

Millwood Hargrave hat einen zauberhaften Roman geschrieben, der es verdient hat, auch in Deutschland viele Leser zu finden. Wenn ihr also erfahren wollt, ob Lupe ihren Alleinritt in die Vergessenen Gebiete überlebt, ob Catas Mörder gefunden wird und was für ein Schicksal der Insel bevorsteht, dann müsst ihr diesen Jugendroman lesen!

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Veröffentlicht am 13.09.2021

Die Lebenswelten von Frauen in der heutigen russischen Gesellschaft

DAFUQ
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Dafuq, the fuck, what the fuck: Schon der Titel von Jarmyschs Roman macht durch seine Unverfrorenheit und durch das Suggerieren von Zorn, Frust, Wut und Unverständnis auf sich aufmerksam. Hinzu kommt die ...

Dafuq, the fuck, what the fuck: Schon der Titel von Jarmyschs Roman macht durch seine Unverfrorenheit und durch das Suggerieren von Zorn, Frust, Wut und Unverständnis auf sich aufmerksam. Hinzu kommt die interessante Biographie der Autorin. Jarmysch arbeitet als Sprecherin für den Oppositionspolitiker Alexey Nawalny und wurde noch im Januar 2021 festgenommen. Dass der Roman sich nicht scheuen wird, Kritik zu üben, dass er nichts beschönigen wird und wahrscheinlich auch provozieren wird, lässt sich schon anhand des Titels und des Lebenslaufs der Autorin ableiten.

Die Protagonistin des Romans ist Anja. Nachdem sie an einer unangemeldeten Demonstration gegen Korruption in Moskau teilgenommen hat, findet sie sich in Untersuchungshaft wieder. Obwohl sie nicht an der Organisation der Demonstration beteiligt war, wird sie festgehalten und schließlich zu einem zehntägigen Arrest verurteilt. Ihre Zelle in der Arrestanstalt teilt sie mit fünf anderen Frauen, die wegen Trunkenheit oder Fahren ohne Führerschein einsitzen.

“Heutzutage kann man überhaupt für alles in den Bau kommen.”

Es sind die Stimmen und Geschichten dieser sechs Frauen, die den Roman tragen. Auf engstem Raum prallen diese Lebenswelten der Frauen aufeinander und zeugen von der Vielschichtigkeit der heutigen russischen Gesellschaft. Da ist zum Beispiel die heruntergekommene Irka, die alkohol- und medikamentenabhängig ist und für ein Glas Alkohol mit Männern schläft. Maja hingegen ist jung und hübsch. Sie hat sich zahlreichen Schönheits-OPs unterzogen, achtet auf ihr Äußeres, lässt sich von ihren reichen Liebhabern teure Geschenke machen und ihren Lebenswandel bezahlen.

Anjas Geschichte legt die Autorin nur stückweise und in Rückblicken frei. Es ist eine Geschichte von der Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängigkeit, von der Suche nach dem eigenen Platz in der Welt, von der Beziehung zu den Eltern, von Sexualität und schließlich auch von Politik und dem Wunsch nach Gerechtigkeit.

Jarmyschs Erzählstil ist klar und schnörkellos und sie scheut sich nicht davor, Anjas Aufenthalt in der Arrestanstalt im Detail zu beschreiben. Und trotzdem wirkt der Roman an keiner Stelle langatmig und verliert nie seinen roten Faden. Kritisch, ernst, humorvoll: All diese Töne vereint die Geschichte in sich. Sie erzählt von den Schicksalen der Frauen, vom Erwachsenwerden, von der Enttäuschung der jüngeren Generationen über die Regierung und schließlich legt er die Denkmuster und Lebensweisen, die sich durch die heutige russische Gesellschaft ziehen, frei.

Man kann diesen Roman verpassen, man sollte es aber nicht. Denn er überzeugt bis zum letzten Satz, hinterlässt einen bleibenden Eindruck und brennt sich mit seiner kraftvollen Geschichte und seinen unvergesslichen Figuren in das Gedächtnis des Lesers ein.

Das letzte Lob muss neben der großartigen Leistung des Übersetzers Olaf Kühl auch dem Rowohlt Verlag gelten, der das Buch in einer tollen Optik herausgebracht hat, die kaum besser mit der Geschichte harmonieren könnte.

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Veröffentlicht am 22.01.2024

Lohnt sich

Der Bauch des Wals
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Mit "Im Bauch des Wals" hat der @diogenesverlag Essays von zwei großen Schriftstellern herausgegeben: George Orwell und Ian McEwan.

Orwells "Im Innern des Wals" erschien 1940. Orwell thematisiert darin ...

Mit "Im Bauch des Wals" hat der @diogenesverlag Essays von zwei großen Schriftstellern herausgegeben: George Orwell und Ian McEwan.

Orwells "Im Innern des Wals" erschien 1940. Orwell thematisiert darin die Frage nach der politischen Verantwortung von Schriftstellern. Wie politisch muss/soll/darf Kunst sein? Muss sie es überhaupt sein?

Als Beispiel dient ihm Henry Millers Roman "Wendekreis des Krebses". Ein Roman, der für ihn das Leben bejaht, der den Lesern nicht vorgibt, was sie zu denken haben, der das Weltgeschehen nicht vorantreiben oder bremsen möchte. Damit bildet er das Gegenstück zu den Romanen von den meisten von Millers schreibenden Zeitgenossen.

Orwell benutzt in diesem Zusammenhang das Bild eines Schriftstellers, der sich im Bauch eines Wals befindet: Dort ist man gleichgültig der Welt gegenüber und muss sich nicht mit ihr auseinandersetzen. Es ist für Orwell die Freiheit eines jeden Autoren, diese Position für sich auszuwählen und das eigene Schreiben nicht von politischen Glaubenssätzen diktieren zu lassen.

Ian McEwan antwortet mit seiner "Orwell Memorial Lecture" auf diesen Essay. Er stellt ihn in einen historischen Zusammenhang, erklärt ihn auch vor dem Hintergrund der persönlichen politischen Enttäuschungen Orwells und denkt ihn vor allem in der Gegenwart weiter.

Beide Essays bieten spannende und unterschiedliche Perspektiven auf die Frage nach der politischen Verantwortung des Schriftstellers. Dürfen Schriftsteller sich im Bauch des Wals verstecken? Floriert die Literatur nicht außerhalb des Wals (immerhin sind gerade Orwells bekannteste Romane, "1984" und "Farm der Tiere" sehr politisch!)? Oder gibt es in Zeiten des Klimawandels sowieso keinen Walbauch mehr, in dem man sich verstecken könnte?

Zu welchem Schluss McEwan kommt, will ich an dieser Stelle nicht verraten. Dafür solltet ihr das Buch lesen! Denn es lohnt sich, wenn man sich gedanklich mit Literatur und Verantwortung, mit Kunst und Aktivismus beschäftigen möchte.

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Veröffentlicht am 22.01.2024

Lohnt sich

Der Bauch des Wals
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Mit "Im Bauch des Wals" hat der @diogenesverlag Essays von zwei großen Schriftstellern herausgegeben: George Orwell und Ian McEwan.

Orwells "Im Innern des Wals" erschien 1940. Orwell thematisiert darin ...

Mit "Im Bauch des Wals" hat der @diogenesverlag Essays von zwei großen Schriftstellern herausgegeben: George Orwell und Ian McEwan.

Orwells "Im Innern des Wals" erschien 1940. Orwell thematisiert darin die Frage nach der politischen Verantwortung von Schriftstellern. Wie politisch muss/soll/darf Kunst sein? Muss sie es überhaupt sein?

Als Beispiel dient ihm Henry Millers Roman "Wendekreis des Krebses". Ein Roman, der für ihn das Leben bejaht, der den Lesern nicht vorgibt, was sie zu denken haben, der das Weltgeschehen nicht vorantreiben oder bremsen möchte. Damit bildet er das Gegenstück zu den Romanen von den meisten von Millers schreibenden Zeitgenossen.

Orwell benutzt in diesem Zusammenhang das Bild eines Schriftstellers, der sich im Bauch eines Wals befindet: Dort ist man gleichgültig der Welt gegenüber und muss sich nicht mit ihr auseinandersetzen. Es ist für Orwell die Freiheit eines jeden Autoren, diese Position für sich auszuwählen und das eigene Schreiben nicht von politischen Glaubenssätzen diktieren zu lassen.

Ian McEwan antwortet mit seiner "Orwell Memorial Lecture" auf diesen Essay. Er stellt ihn in einen historischen Zusammenhang, erklärt ihn auch vor dem Hintergrund der persönlichen politischen Enttäuschungen Orwells und denkt ihn vor allem in der Gegenwart weiter.

Beide Essays bieten spannende und unterschiedliche Perspektiven auf die Frage nach der politischen Verantwortung des Schriftstellers. Dürfen Schriftsteller sich im Bauch des Wals verstecken? Floriert die Literatur nicht außerhalb des Wals (immerhin sind gerade Orwells bekannteste Romane, "1984" und "Farm der Tiere" sehr politisch!)? Oder gibt es in Zeiten des Klimawandels sowieso keinen Walbauch mehr, in dem man sich verstecken könnte?

Zu welchem Schluss McEwan kommt, will ich an dieser Stelle nicht verraten. Dafür solltet ihr das Buch lesen! Denn es lohnt sich, wenn man sich gedanklich mit Literatur und Verantwortung, mit Kunst und Aktivismus beschäftigen möchte.

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