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Veröffentlicht am 20.10.2021

Irrfahrt ohne Zug

Underground Railroad
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Cora ist Sklavin der dritten Generation und lebt unter schrecklichen Bedingungen Mitte des 19. Jahrhunderts auf einer Baumwollplantage in Georgia, den Repressalien der eigenen Leute ebenso ausgesetzt wie ...

Cora ist Sklavin der dritten Generation und lebt unter schrecklichen Bedingungen Mitte des 19. Jahrhunderts auf einer Baumwollplantage in Georgia, den Repressalien der eigenen Leute ebenso ausgesetzt wie den Grausamkeiten der weißen Besitzer. Ihrer Mutter gelang einst die Flucht, ohne die kleine Cora; dies hat das Mädchen nie verwunden und doch ist sie stolz auf die Mutter, die nie gefasst wurde. Daher stimmt sie schließlich dem Plan des cleveren Caesar zu, mit ihm gemeinsam ebenfalls die Flucht zu wagen. Caesar verfügt über eine seltene Fähigkeit unter den Sklaven, er kann lesen und er kennt die Underground Railroad, die den Weg in die Freiheit des Nordens bedeutet.

Ich habe ein bisschen gebraucht, bis ich in die Geschichte hineingefunden hatte. Whitehead schreibt anschaulich und atmosphärisch, läßt aber auch Leerstellen. Nicht nur die Sklavin Cora kommt zu Wort, sondern ebenso auch andere Figuren, die in dieser exemplarischen und grausamen Fluchtgeschichte wichtig sind, z.B. der Kopfgeldjäger Ridgeway und verschiedene Fluchthelfer. Sie alle lassen die Lesenden an ihren Gedanken und Meinungen teilhaben, die einen großen Teil des Romans ausmachen und den Lesefluss auch gelegentlich hemmen. Gedanken über die Sklaverei, das Land Amerika, Gerechtigkeit und Freiheit. Die Kapitelüberschriften nennen jeweils abwechselnd eine Person und einen Bundesstaat, anhand dessen die Geschichte (der Sklaverei in verschiedenen Staaten Amerikas) und die Flucht erzählt werden. Der Autor springt häufig in der Handlung vor und zurück. Eine Lücke im Erzählen wird oft durch ein späteres Kapitel gefüllt. Dies erfordert die volle Aufmerksamkeit der Lesenden, ebenso wie der dichte Schreibstil.

Die Underground Railroad hatte ich mir als ein Netzwerk vorgestellt, nicht als eine tatsächliche unterirdische Eisenbahnstrecke. Als die erste Station im Roman beschrieben wurde, habe ich mich gefragt, ob denn niemand die fahrenden Züge hört und wer denn eigentlich diese Tunnel gegraben haben soll? Das fand ich recht unwahrscheinlich und tatsächlich hat diese unterirdischen Bahnhöfe und Gleise nie gegeben. Als Underground Railroad wurde das Netzwerk der Fluchthelfer bezeichnet, die Stationsvorsteher waren Fluchthelfer und die Stationen waren die Unterkünfte, in denen die geflohenen Sklaven versteckt wurden.

Mit diesem Wissen hat die Geschichte noch einen zusätzlichen Kniff. Für mich steht dieses (unglaubliche) fiktive Schienennetzwerk in seiner Absurdität für den unglaublich couragierten und todesmutigen, ja kaltblütigen Einsatz der Flüchtenden und der Fluchthelfer. Die Bestrafung der Gefassten als Abschreckung für andere war entsetzlich und wird im Roman hinreichend beschrieben. Daher ist dieser auch eher nichts für zartbesaitete Rezipienten. Diese Vermischung von Realität und Fiktion macht das Besondere an diesem Roman aus, der 2017 mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet wurde.

Die Fluchtgeschichte von Cora, die an kaum einer Stelle wirklich hoffnungsvoll ist, erhält vier Sterne.

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Veröffentlicht am 14.09.2021

Alkohol, Armut und Arbeitslosigkeit im Glasgow der 80er Jahre

Shuggie Bain
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Die vielen begeisterten Rezensionen hatten mich neugierig gemacht, auf diesen Shuggie Bain und sein Leben im schottischen Glasgow der 80er Jahre. Shuggie tritt jedoch in der ersten Hälfte des Romans eher ...

Die vielen begeisterten Rezensionen hatten mich neugierig gemacht, auf diesen Shuggie Bain und sein Leben im schottischen Glasgow der 80er Jahre. Shuggie tritt jedoch in der ersten Hälfte des Romans eher in den Hintergrund, denn den Vordergrund nimmt seine Mutter Agnes ein; Typ Liz Taylor und ebenso dem Alkohol zugetan. Elegant, immer gut angezogen, geschminkt und mit erhobenem Kopf unterwegs. Zunächst wohnt die fünfköpfige Familie noch in einer Wohnung zusammen mit Agnes' Eltern, um später nach Pithead überzusiedeln. Doch die erhoffte Verbesserung der Lebensumstände tritt nicht ein. Dort beziehen sie eine Sozialwohnung und leben nun inmitten von Kohlenstaub, geschlossenen Minen und verwahrlosten und ebenfalls trinkenden Menschen. Agnes' Alkoholsucht überschattet das Leben der ganzen Familie und bestimmt den kompletten Alltag. Shuggie übernimmt daher immer mehr Verantwortung und versucht, seine Mutter vor sich selbst und dem Alkohol zu retten. Zusätzlich wird er immer öfter gehänselt und attackiert, da er sich einfach nicht wie ein "richtiger" Junge verhält, so geht oder spricht. Kleine Momente des Glücks und inniger Zweisamkeit lassen ihn die Sorgen nur kurzzeitig vergessen, denn Agnes denkt immer nur an den nächsten Drink.

Mich hat das Buch erschüttert. Die 80er Jahre waren auch meine Jugendzeit, aber was zeitgleich in Pithead und sicherlich nicht nur dort für Lebensumstände geherrscht haben, hätte ich mir nie vorstellen können. Der Roman schildert schonungslos, was Arbeitslosigkeit, Armut und Alkohol aus Menschen machen können. Gewalt in jeder Form gegen Frauen und Kinder und das zieht sich durch den gesamten Roman. Es gibt kaum Verschnaufpausen, immer kommt es noch schlimmer. Deshalb sehe ich hier eher eine Sozialstudie, in der detailliert das Elend geschildert wird, auch für mein Empfinden mit Distanz. Selbstverständlich habe ich mit Shuggie mitgelitten, wenn er sich z.B. einnässt, weil seine Mutter wider Erwarten sturzbetrunken nach Hause kommt oder wenn er vor Hunger nicht in den Schlaf kommt, weil seine Mutter vom Kindergeld Bier kauf, er die Schule schwänzt, weil er aufpassen müssen, dass die Nachbarinnen nicht mit Alkohol anrücken oder Männer mit eindeutigen Interessen. Dennoch kommt mir seine Innensicht zu kurz, es gibt nur kleine Szenen, in denen er seine Gedanken teilt. Der vorherrschende Schreibstil ist beschreibend und beobachtend. Wir begleiten Shuggie und Agnes über einen Zeitraum vom zehn Jahren und sehen wie aus dem 5-Jährigen ein Jugendlicher wird. Die Kapitel sind sehr szenisch. Es gibt oft ein zentrales Ereignis oder eine Entwicklung und dann sind im nächsten Kapitel schon Monate, manchmal Jahre vergangen und ein neues Ereignis steht im Fokus.

Eine große Herausforderung für die Übersetzerin war der Arbeiterslang, der eine wichtige Rolle spielt, weil Agnes und Shuggie sich durch ihre gehobenere Aussprache von den anderen abheben. Zunächst klang dieser Slang künstlich für mich, irgendwie zusammengewürfelt, das hat mich sehr gestört. Später hat sich das gelegt, da bin ich nur noch an einzelnen Wörtern hängengeblieben.

Ingesamt läßt mich das Buch zwiegespalten zurück. Es ist eine großartige Sozialstudie über eine düstere Zeit an einem düsteren Ort. Ich habe schrecklich mitgelitten, aber ich hätte das Buch nicht lesen müssen. Ich kann es auch nicht uneingeschränkt empfehlen, es zieht die Leser*innen wirklich runter. Wie auf dem Klappentext das Zitat stehen kann, "dass man abwechseln in Tränen ausbricht oder von Lachkrämpfen überwältigt wird", kann ich beim besten Willen nicht nachvollziehen. Zu lachen hatte in dem Buch niemand etwas. Ich vergebe vier Sterne für den Kampf eines kleinen Jungen gegen die Alkoholsucht seiner Mutter.

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Veröffentlicht am 25.08.2021

Mörderjagd in der Seniorenresidenz

Der Donnerstagsmordclub (Die Mordclub-Serie 1)
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"Ab einem gewissen Alter können Sie sich so ziemlich alles erlauben. Niemand schimpft Sie mehr aus, mit Ausnahme Ihrer Ärzte und Ihrer Kinder." (S.30)

Und so konnte Penny Gray, pensionierte Polizistin, ...

"Ab einem gewissen Alter können Sie sich so ziemlich alles erlauben. Niemand schimpft Sie mehr aus, mit Ausnahme Ihrer Ärzte und Ihrer Kinder." (S.30)

Und so konnte Penny Gray, pensionierte Polizistin, ungeniert Akten über ungeklärte Mordfälle in ihre schicke Seniorenresidenz Coopers Chase schmuggeln und dort mit ihrem Donnerstagsmordclub darüber grübeln. Penny hat jedoch gesundheitlich stark abgebaut und die engagierte Elizabeth (Ex-Geheimdienst) wirbt die ehemalige Krankenschwester Joyce an. Gemeinsam mit Ibrahim, einem ehemaligen Psychiater, und dem streitbaren Ron, Ex-Gewerkschaftsführer, stolpern sie unversehens in einen aktuellen Mordfall. Mit ungeahnten Ressourcen im Rücken, der Weisheit des Alters, aber vor allem mit Frechheit und Witz sind die rüstigen Senioren der Polizei immer eine Nasenlänge voraus.

Ein wirklich gelungener Cosy-Krimi mit überaus sympathischen Charakteren, von denen aber auch einige ungeahnte Geheimnisse haben. Red Ron, dieser alte Haudegen, ist mein Liebling. Richard Osman hat mit Coopers Chase einen putzigen Mikrokosmos geschaffen, in dem Humor ganz weit oben steht (Parkkrallen!). Allerdings kommen auch die ernsten Töne nicht zu kurz. Demenz, Tod und letztlich der Abschied von geliebten Menschen spielen eine Rolle und sind "Alltag" in einer Seniorenresidenz; da hilft auch kein Pool oder Zumba in der Mittagspause.

Das Buch unterhält sehr gut, weil es ständig neue Erkenntnisse gibt und somit auch immer neue Verdächtige. Da kommt ein ganz schöner Haufen an Personal zusammen. Allerdings kann man nicht wirklich von einem Spannungsboden sprechen, aber dafür ist es ein Krimi und kein Thriller. Wer es war, will man ja schließlich doch wissen. Aber hier ist eher der Weg das Ziel. Für etwas Abwechslung im Lesefluss sorgen die Tagebucheinschübe von Joyce, die verschiedene Dinge aus ihrer ganz eigenen Sicht beurteilt. Der trockene englische Humor ist unverkennbar und wirkt sicherlich im Original noch mal so gut. Wie der Mordclub die Polizei immer wieder austrickst und dennoch nicht als "Trottel" dastehen lässt, ist wirklich wohltuend. Denn auch Donna und Chris von der Polizei in Kent sind Sympathieträger.

Insgesamt ein launiger und unterhaltsamer Cosy-Krimi, der an ein oder zwei Stellen auch etwas kürzer hätte sein dürfen. Vier Sterne und eine Leseempfehlung für alle Miss Marple-Fans.

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Veröffentlicht am 28.07.2021

Eher leise Suche nach einem verschwundenen Mädchen

Dunkelsommer
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In Schweden beginnt langsam der Sommer, die Tage werden wieder heller, bis die Sonne gar nicht mehr untergeht. Das ist die Zeit, in der der Lehrer Lelle Gustafsson den Silvervägen, die Silberstraße, abfährt, ...

In Schweden beginnt langsam der Sommer, die Tage werden wieder heller, bis die Sonne gar nicht mehr untergeht. Das ist die Zeit, in der der Lehrer Lelle Gustafsson den Silvervägen, die Silberstraße, abfährt, jede Nacht. Er ist auf der Suche nach seiner vor drei Jahren verschwundenen Tochter, die er an einer Bushaltestelle absetzte und dann nie wieder sah. Auf einer Karte notiert er jeden Waldweg und jedes verlassene Haus, das er durchsucht hat.

Mit dem Zug kommt Meja mit ihrer Mutter Silje in die gleiche Gegend. Sie ziehen beim alten Thorbjörn ein, einer Internetbekanntschaft von Silje. Um dem trostlosen Haus und der trinkenden Mutter zu entgehen, flüchtet Meja immer wieder in den Wald, obwohl er ihr Angst macht. Hier lernt sie Carl-Johan kennen. Plötzlich verschwindet wieder ein Mädchen, von einem Campingplatz am Silvervägen.

Stina Jackson beschreibt ein eher düsteres, raues und unwirtliches Schweden, beileibe keine Idylle. Die Charaktere sind ebenfalls keine strahlenden Helden, sondern vom Leben gezeichnete Figuren. Selbst die erst siebzehnjährige Meja weiß, dass die Sonnenseite des Lebens ganz anders aussieht. Einzig der Polizist Hassan, Lelles einziger Freund, hebt sich positiv gegen die anderen Charaktere ab.

Die Autorin schreibt schnörkellos. In eher kurzen, beschreibenden Sätzen vermittelt sie den Fortgang der Handlung. In der Mitte kommt die Geschichte etwas ins Stocken, gewinnt aber in Teil II (ab Seite 263) durch eine andere Sichtweise wieder an Fahrt und Spannung.

Insgesamt hat mir das Buch gut gefallen, ein Highlight ist es für mich aber nicht. Dafür fehlt es dem Roman deutlich an Tempo. Das begrenzte Personal des Buches ließ auch nicht ganz so viel Spielraum für die Tätersuche, das ließ früh die Spannung etwas abflachen. Ich kann das Buch allen empfehlen, die einen durchaus spannenden Krimi verbunden mit einer Sozialstudie mögen. Hier prallen verschiedene Weltauffassungen aufeinander und sorgen für Konfliktpotential. Knappe vier Sterne.


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Veröffentlicht am 03.06.2021

Gelungene Geschichtsstunde

Deutsches Haus
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1963 in der noch jungen Bundesrepublik: Das ZDF geht auf Sendung, Kanzler Adenauer verläßt nach 14 Jahren das Amt, JFK wird ermordet und in Frankfurt beginnt der erste Auschwitz-Prozess.

Die Bundesbürger:innen ...

1963 in der noch jungen Bundesrepublik: Das ZDF geht auf Sendung, Kanzler Adenauer verläßt nach 14 Jahren das Amt, JFK wird ermordet und in Frankfurt beginnt der erste Auschwitz-Prozess.

Die Bundesbürger:innen haben es sich gemütlich gemacht in ihrer Republik und wollen von den Kriegsjahren nichts mehr wissen. Der Auschwitz-Prozess wird von großen Teilen der Bevölkerung abgelehnt, man solle die Vergangenheit doch endlich ruhen lassen. So denken auch die Eheleute Bruhns, deren Tochter Eva als Dolmetscherin für die Anklage arbeitet. Entsetzt verfolgt und übersetzt Eva im Gerichtssaal die Aussagen der Zeugen und kann nicht glauben, was sich zugetragen haben soll.

Annette Hess verwebt hier hervorragend das Einzelschicksal einer Familie mit der Deutschen Geschichte und liefert gleichzeitig ein Gesellschaftsbild der frühen 1960er Jahre. Durch die verschiedenen Akteure werden unterschiedliche Blickrichtungen auf die Geschichte möglich. Wer fühlt sich schuldig und wer nicht? Wer übernimmt Verantwortung und wer nicht? Auf interessante Weise werden diese Fragen an einzelnen Personen abgearbeitet, das macht das Buch sehr vielschichtig. Die Figur des David Miller gehört unbedingt dazu.

Durch frühe Andeutungen wird ein Spannungsbogen aufgebaut, denn irgendetwas wird hier verheimlicht und wartet auf eine Auflösung durch Eva.

Die Einblicke in die Verhandlung, die Zeugenaussagen und die Aussagen der Angeklagten hinterlassen oft eine Gänsehaut. Hess fängt die Stimmung im Saal und die allgemeine Lage im Land sehr gut ein. Gefallen hat mir auch, wie die Situation der Frau zur damaligen Zeit eingeflochten wird. Heute unvorstellbar, dass Evas Verlobter Jürgen das Recht auf seiner Seite hat, wenn er ihren Job bei der Staatsanwaltschaft kündigt.

Dies alles schreibt Hess in scheinbar leichter und anschaulicher Sprache, als würde man einen Film schauen. Damit hat sie bereits Erfahrungen gemacht, denn die TV-Serien "Weissensee" und "Ku'damm" hat sie als Drehbuchautorin zu verantworten. Der Titel "Deutsches Haus" bezieht sich auf die Gaststätte, die Evas Eltern führen, lädt aber auch zu vielen weiteren Assoziationen im Zusammenhang mit der Handlung ein.

Das Buch hat mich gefesselt und ich habe es sehr schnell durchgelesen. Dass die Auschwitz-Prozesse unter schwierigen Bedingungen durchgeführt wurden und viel Ablehnung erfahren haben, war mir bekannt, die Details waren aber neu für mich. Der historische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer ist eine Person, mit der ich mich noch weiter beschäftigen werde. Eine klare Leseempfehlung und vier sehr gute Sterne.



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