Profilbild von evaczyk

evaczyk

Lesejury Star
offline

evaczyk ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit evaczyk über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 19.10.2021

Liebeserklärung ans Zugreisen

Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen
0

Ich kannte den tschechischen Autor Jaroslav Rudis bisher nicht, aber ich merkte schon nach den ersten Kapiteln: Hier schreibt ein Seelenverwandter. Seine "Gebrauchsanweisung für Zugreisen ist eine Liebeserklärung ...

Ich kannte den tschechischen Autor Jaroslav Rudis bisher nicht, aber ich merkte schon nach den ersten Kapiteln: Hier schreibt ein Seelenverwandter. Seine "Gebrauchsanweisung für Zugreisen ist eine Liebeserklärung an die Bahn, an Zugreisen, bei denen es nicht alleine um Pünktlichkeit und Geschwindigkeit geht, sondern um den Weg, der ebenso das Ziel ist wie die Endstation, in die der Zug dann einrollt.

Es ist wenig überraschend, dass Rudis als Kind Lokführer werden wollte. Die Begeisterung für die Bahn liegt in der Familie - der Opa war Weichensteller, ein Onkel Fahrdienstleiter, bei dem jungen Jaroslav verhinderte die schlechte Sehkraft den Traumberuf, jedenfalls in der damaligen Tschechosolwakei. Muss es ihm da wie Hohn erschienen sein, als auf einer langen Nachtfahrt ein gesprächsfreudiger Schaffner über den Personalengpass bei der Deutschen Bahn klagt und verrät "Wir nehmen jeden"? Oder sind es die unerfüllten Wünsche, die lebenslang einen besonderen Glanz bewahren?

"Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen" ist teils Eisenbahnnostalgie und technische Fachsimpelei (damit habe ich es dann weniger), vor allem aber eine Serie von Eisenbahngeschichten und -erlebnissen, in denen Bier und Speisewagen dann zur Vollendung des Glücks beitragen.

Rudis erzählt von Menschen und Schienensträngen, von Eisenbahnern und Reisenden, von Metropolen und Nebenstrecken. Mitteleuropa auf den Schienenspuren der einstigen K.u.K.-Monarchie, das heißt auch, hier schreibt einer, der nicht nur die Schönheit des Bahnhofs von Amsterdam Centraal kennt, sondern auch von Worclaw Glowny. Ob Ostende oder Przemysl, ob kurze Fahrt im Regionalexpress oder 40 Stunden-Mammuttour auf mehr als einem Dutzend Zügen - da vergeht die Lesezeit wie im Zug. Und die Kapitelhäppchen sind so gestaltet, dass sie nicht nur auf die Strecke Göttingen-Hannover passen, sondern auch zwischen Düsseldorf und Duisburg ein Kapitel zu bewältigen ist.

Zugegeben, einige der bekennenden Eisenbahnfans, mit denen Rudis unterwegs sind, sind in ihrer Liebe schon ein wenig fanatisch. Das macht sie in diesem Buch allerdings eher zu liebenswerten Exzentrikern. Wer den Charme einer Bahnreise zu schätzen weiß oder aus schlechtem Umweltgewissen über die ganz persönliche Verkehrswende nachdenkt, findet hier viel Inspiration.

Veröffentlicht am 04.10.2021

A kind of Magic

The Stranger Times
0

Nichts und niemand hat Hannah Willis für eine journalistische Laufbahn ausgebildet. Die einst poshe Londonerin, deren Leben bisher eher darin bestand, Tochter oder Ehefrau zu sein, musste überhaupt noch ...

Nichts und niemand hat Hannah Willis für eine journalistische Laufbahn ausgebildet. Die einst poshe Londonerin, deren Leben bisher eher darin bestand, Tochter oder Ehefrau zu sein, musste überhaupt noch nicht für ihren Lebensunterhalt arbeiten oder eine Ausbildung planen, mit der sie in irgendeiner Weise Geld verdienen könnte. Nicht die besten Voraussetzungen also, als sie eher zufällig und planlos in eine Vorstellungsgespräch der Zeitung "The Stranger Times" stolpert.

Der Chefredakteur, einst eine Legende der Fleet Street, ist mittlerweile ein Alkoholiker, dessen Flüche nur dank der ebenso resoluten wie gottesfürchtigen Büroverwalterin Grace auf ein Minimum gestutzt werden und auch sonst sind die Kollegen ein wenig exzentrisch. Nicht so exzentrisch allerdings wie die Zeitung, in der Hannah als "die neue Tina" eingestellt wird - später erfährt sie, dass sie stellvertretende Chefredakteurin eines Blattes ist, das sich vor allem um Außerirdische, Geister, Inkarnationen und anderes Übersinnliches dregt. Hannahs vornehmste Aufgabe ist der Kontakt zu den "Irren", sprich den Menschen, deren Berichte und Beobachtungen die Grundlage für Recherchen sind.

Mit "The Stranger Times" hat der irische Comedian C.K. McDonnell einen buchstäblich fantastischen Roman ebenso viel schwarzem Humor wie dunkler Magie geschrieben. Gewiss, das Buch hat einige Längen und es dauert eine Weile, bis die Erzählfäden sortiert sind und die Handlung zusammenfließt. Dennoch ist es unterhaltsam, Hannah auf ihrer Reise durch den täglichen Wahnsinn zu folgen und zu der unwahrscheinlichen Erkenntnis, dass es zwischen Himmel und Erde noch ganz andere Dinge gibt, als der normale Menschenverstand ahnt.

Rotäugige Ungeheuer, Blutzauber und magische Abkommen - all dies findet sich auf gut 460 Buchseiten, die schließlich zu einem brachialen Finale führen. McDonnells urban fantasy spielt in der Industriemetropole Manchester, zwischen Niedergang und Gentrifizierung,dem ewigen Kampf zwischen Gut und Böse und erstaunlicherweise dann doch noch journalistischer Wahrheitssuche. Das Ende, so deutet sich an, könnte auch ein neuer Anfang sein. Ein weiteres Buch zu "The Stranger Times" ist jedenfalls schon angekündigt.

Wer den speziell britischen Humor mag und ein Faible für Exzentrik, Skurriles und Übersinnliches hat, wird "The Stranger Times" mögen, auch wenn es ein bißchen dauert, bis das Geschehen in Fahrt kommt. Dann allerdings bekommt die Handlung ein deutliches Tempo. Ein Mix aus Spannung, Humor und Magie sorgt jedenfalls für einen unterhaltsamen Lese-Dreiklang.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 20.09.2021

Psychoterror über soziale Medien

Die Nachricht
0

Der plötzliche Unfalltod ihres Mannes war ein Schock für Ruth - auch wenn die Ehe im Laufe der Zeit zu einem Nebeneinander geworden war und sie über eine Trennung nachgedacht hatte. Vier Jahre später ...

Der plötzliche Unfalltod ihres Mannes war ein Schock für Ruth - auch wenn die Ehe im Laufe der Zeit zu einem Nebeneinander geworden war und sie über eine Trennung nachgedacht hatte. Vier Jahre später hat sie sich gefangen, führt ihre Freundschaften fort, hat eine on-off-Beziehung mit dem Psychiater, der sich in der Anfangszeit um ihren damals 12-jährigen jüngeren Sohn gekümmert hatte, der Zeuge des Unfalls war. In diesen Neubeginn platzt plötzlich eine Fcebook-Nachricht: "Weißt du eigentlich von der Affäre deines prächtigen Ehemanns?"

Das ist der Ausgangspunkt von Doris Knechts "Die Nachricht", in dem sich die Ich-Erzählerin dem Psychoterror eines Stalkers in sozialen Medien ausgesetzt sieht. In de Hörbuchversion gibt Vera Teltz Ruth ihre Stimme. Ihre warme und ausdrucksvolle Stimme macht das Zuhören zum Genuss, lässt Gesprächsszenen ins Kopfkino einfließen und macht die Wut, Ratlosigkeit und Zweifel Ruths nachvollziehbar.

In der Tat, Ruth wusste von der Affäre und hegt nun den Verdacht, dass "die Andere", die noch nicht einmal offiziell um den Geliebten trauern kann, sich so an ihr rächen will. Doch die erste Nachricht ist nicht die einzige, und der Empfängerkreis wird immer größer. Ruths Freunde, Geschäftspartner, Bekannte erhalten ebenfalls Nachrichten.

Sehr bald geht es nicht um die Affäre, sondern um Angriffe auf Ruth - wegen ihres eigenen Verhältnisses, sie sei notgeil, doch wer wolle sie schon haben. Sie wird wegen ihrer feministischen Ansichten, die sie auf social media verbreitet ebenso attackiert wie wegen der Tatsache, dass sie es wagt, als Endvierzigerin mit erwachsenen oder fast erwachsenen Kindern noch ein Sexleben zu haben.

Die Nachrichten verändern die ohnehin eher introvertierte Drehbuchautorin, vor allem, da ihr von beruflichen Partnern immer deutlicher signalisiert wird, wie störend diese Angelegenheit sei. Verstört zieht sie sich immer mehr zurück, nimmt am Austausch in sozialen Medien kaum noch teil, ist in Gesprächen mit Freunden nur noch fixiert auf die Frage, wer die bösartigen Nachrichten verfasst. Sie muss die Erfahrung machen, dass vom Opfer erwartet wird, endlich mal Ruhe zu geben, während die Nachrichten weiter Dreck in die virtuelle Welt schleudern.

Gerade die innere Veränderung, die Ruth durchmacht, das wachsende Misstrauen, mit dem sie auf ihre Umwelt blickt, die innere Einsamkeit, die sich von dem durchaus positiv gesehenen Alleinsein unterscheidet, beschreibt Doris Knecht nachvollziehbar. Mitunter wirkt Ruth zwar regelrecht besessen vom Verfasser der Nachrichten, wenn sie etwa erwartet, dass jeder aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis die anonylme Hetze an sie weiterleitet und sie immer und imme wieder die Nachrichten liest. Der seelischen Gesundheit tut das nicht gerade gut.

Der Umgang mit dem Stalking zeigt auch, auf welche ihrer Freunde sich Ruth verlassen kann und wer sich in schwierigen Zeiten abwendet. Zugleich ist "Die Nachricht" die Auseinandersetzung mit einem Frauenleben nach einer Zäsur, in der Lebensmitte, mit der Frage nach Neuorientierung oder Verbleib bei dem Gewohnten. Das Stalking ist letztlich die extreme Form, wenn es um den Blick von (manchen) Männern auf Frauen und ihren Umgang mit ihnen geht. Insofern ist "Die Nachricht" ein Buch über weit mehr als nur den Psychoterror, dem Ruth ausgesetzt ist.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 10.07.2021

Die blaue Mauer des Schweigens muss Risse bekommen

Auf dem rechten Weg?
0

Mit seinem Buch "Auf dem rechten Weg?" reiht sich der Autor Aiko Kempen ein in die Veröffentlichungen, die sich mit Extremismus in den Sicherheitsbehörden befassen - ähnlich, wie zuvor etwa schon "Extreme ...

Mit seinem Buch "Auf dem rechten Weg?" reiht sich der Autor Aiko Kempen ein in die Veröffentlichungen, die sich mit Extremismus in den Sicherheitsbehörden befassen - ähnlich, wie zuvor etwa schon "Extreme Sicherheit" oder "Staatsfeinde in Uniform". Wie neu die Erkenntnisse für die Leser:innen sind, hängt also auch mit davon ab, wie vertraut die mit vorangegangenen Büchern bereits sind. Merkmal bei "Auf dem rechten Weg?" ist, dass sich der Autor ausschließlich auf die Polizei konzentriert und nicht allein Rechtsextremismus, sondern auch strukturellem Rassismus und Strukturen innerhalb der Polizei nachgeht. Auch blickt er zurück bis in die 90-er Jahre, während andere Autoren sich eher auf die Vorfälle der jüngsten Zeit konzentrieren.

Kritiker innerhalb der Polizei kommen ebenso zu Wort wie Polizeiforscher, auch aus einschlägigen Medienberichten zu Vorfällen innerhalb der Polizei wird zitiert. Dabei gehört es zu den technischen Besonderheiten von Buchveröffentlichungen, dass angesichts der längeren Vorbereitungszeit bei aktuellen Themen die Halbwertzeit manchmal sehr schnell erreicht ist - in diesem Fall gilt das etwa für die Morddrohungen der "NSU 2.0" Serie. Die aktuellen Entwicklungen wie die Festnahme eines Tatverdächtigen im Mai und die bislang ungeklärten Fragen zu den Ermittlungen sind nicht mehr Teil des Buches, das mit Stand Februar 2021 fertiggestellt wurde.

In seinem Buch lässt Kempen enttäusche Polizeischüler ebenso zu Wort kommen wie Ausbilder, Whistleblower und Beschwichtiger. Er zeigt Grauzonen auf - nicht jeder, der aufgrund von strukturellem Rassismus rassistisch handelt, ist ein Rechtsextremist oder würde sich selbt als rassistisch bezeichnen. Gleichzeitig müsse gerade aufgrund des polizeilichen Gewaltmonopols ein besonderer Anspruch angelegt werden. Es mache eben schon einen Unterschied, ob ein Rassist als Polizist im Einsatz sei oder als Bäcker arbeite.

Kritisch geht der Autor mit der Rolle von Polizeigewerkschaften und Politikern um, die in der Diskussion aus Tätern Opfer machen und einen Generalverdacht gegen die Polizei beklagen. Er zeigt Strukturen und Besonderheiten auf, die einmal die Zusammensetzung der Polizei betreffen und die Einstellungen, von denen Polizisten besonders geprägt sind. Auch geht es um den "Code of Silence" - das unbedingte Zusammenstehen, das auch in das Verschweigen von Fehlverhalten aus falsch verstandener Kollegen-Solidarität umschlagen kann. Kein Zweifel - um die tatsächlichen Zustände erkennen zu können, muss die blaue Mauer des Schweigens Risse bekommen.

Wirklich Neues habe ich aus diesem Buch nicht erfahren - da ich mich aber bereits seit einer ganzen Weile mit der Thematik beschäftige, mag das für andere Leser ganz anders sein.

Veröffentlicht am 17.06.2021

Auf jeden Fall spannend

Shalom Berlin – Gelobtes Land
0

pannend ist es einmal mehr im dritten Teil der "Shalom Berlin" Serie von Michael Wallner um den jüdischen Ermittler Alain Liebermann, "Gelobtes Land". Waren die vorangegangenen Bände vor allem Politthriller, ...

pannend ist es einmal mehr im dritten Teil der "Shalom Berlin" Serie von Michael Wallner um den jüdischen Ermittler Alain Liebermann, "Gelobtes Land". Waren die vorangegangenen Bände vor allem Politthriller, geht es hier mehr noch als zuvor um Familie - zum einen die große, über Länder und Kontinente verzweigte Familie der Liebermanns, deren Matriarchin Alains Großmutter Helene ist, aber auch um gebrochene Familien, zerstörte Familien, Familiengeheimnisse.

Alain will eigentlich Verlobung feiern, als er zu einem Tatort gerufen wird: Ein toter Junge ist gefunden worden. Hier beginnt leider auch der unlogische und unglaubwürdige Teil des Buches, des Alain ist schließlich beim Staatsschutz. Nicht politisch motivierte Kriminalität, einschließlich Kapitalverbrechen, sind überhaupt nicht sein Bereich. Es ist ja auch keineswegs so, als habe der Staatsschutz gegenwärtig wenig zu tun und könne andere Abteilungen unterstützen. Aber dann: Auch ein MEK als eigene Spezialeinheit des Staatsschutzes entspricht eher nicht der Realität. Oder das Berliner LKA unterscheidet sich grundlegend von vergleichbaren anderen Behörden bundesweit.

Trotzdem ermitteln Alain und sein Team. Sie vermuten einen Serienmörder, denn der tote Junge ist nicht der erste, der in den vergangenen Monaten getötet wurde. Gemeinsam war ihnen nur, dass sie aus Einwandererfamilien stammten, in einem Fall war sexueller Missbrauch festzustellen. Auf dem türkisch-arabischen Kiez von Berlin schnappen die Ermittler Gerüchte auf, von einem "Rattenfänger" ist die Rede, doch als die Polizisten endlich einen Verdächtigen ausmachen, ist der ihnen immer einen Schritt voraus und setzt sich ins Ausland ab.

Statt auf Zielfahnder zu setzen, nehmen Alain und sein Team selbst die Verfolgung auf, die Jagd nach dem Verdächtigen führt sie bis nach Israel - daher der Buchtitel "Gelobtes Land". Doch der Einsatz verläuft ganz anders als gedacht - und auch das Morden hat kein Ende. Alain ahnt: Will er Erfolg haben, könnte das mit persönlichen Verlusten verbunden sein.

Ist "gelobtes Land" spannend und atmosphärisch geschrieben? Ja, auf jeden Fall. Wer sagt, Realität ist mir egal, ich will einfach einen spannenden Fall mit Nervenkitzel, ist damit gut aufgehoben. Letztlich ist es ja Fiktion.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere