Profilbild von Anna625

Anna625

Lesejury Star
offline

Anna625 ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Anna625 über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 26.02.2022

Beeindruckend erzeugte Atmosphäre

Tell
0

Wilhelm Tell, so heißt der Protagonist von Schillers Drama, das auf dem Leben des gleichnamigen Freiheitskämpfers aus der Schweiz basiert. Doch ist es überhaupt nötig, einen Roman zu schreiben, wenn es ...

Wilhelm Tell, so heißt der Protagonist von Schillers Drama, das auf dem Leben des gleichnamigen Freiheitskämpfers aus der Schweiz basiert. Doch ist es überhaupt nötig, einen Roman zu schreiben, wenn es schon ein Drama gibt? Joachim B. Schmidt zeigt: Ja, ist es.

In kurzen Kapiteln aus wechselnder Sicht - insgesamt 20 Figuren sind es, deren Perspektive wir hier zu lesen bekommen - erzählt der Autor die Geschichte eines Mannes nach, der sich gegen die Macht des amtierenden habsburgischen Landvogts auflehnt und daraufhin zum Apfelschuss auf seinen Sohn gezwungen wird. Doch noch viel mehr als diese eine, bekannte Szene vermag Schmidt einzufangen: Es ist die Kulisse einer kargen Berglanschaft, die den Menschen zum Überleben alles abverlangt, kombiniert mit eigenwilligen, urig-skurrilen Charakteren, die die Atmosphäre des Romans ausmachen. Es herrscht eine Disharmonie, eine Abneigung zwischen vielen der Figuren vor, die mich schon in den ersten Kapiteln faszinieren konnte. Und dennoch ist es auch eine Geschichte der tief empfundenen Zuneigung, die hier erzählt wird. Tell selbst kommt dabei erst ganz am Ende des Romans zu Wort, bis dahin sind es die anderen Figuren, die zu ergründen suchen, was im Kopf des stillen, abwe(i)send wirkenden Mannes vor sich geht.

In wenigen Worten gelingt es Schmidt, einer ganzen Fülle an Charakteren erstaunliche Tiefe und Vielfalt zu verleihen, und das, obwohl auf die meisten selten mehr als ein oder zwei Seiten am Stück entfallen. Entgegen meiner Befürchtungen hatte ich nie das Gefühl, nur eine Aneinanderreihung von Fragmenten zu lesen; eher ist es ein großes Puzzle, das hier nach und nach entsteht, und bei dem nicht selten eine Episode der nächsten die Hand reicht und ein detailliertes, tiefsinniges Bild von Land und Leuten zeichnet. In solch kurzen Kapiteln eine derart eindrückliche Atmosphäre zu erschaffen, ist ganz große Kunst.

"Tell" ist für mich ein Roman, von dem ich mir nach "Kalmann" viel erhofft hatte und der meinen Erwartungen auch vollkommen gerecht werden konnte. Ich freue mich auf mehr von Joachim B. Schmidt!

Veröffentlicht am 19.02.2022

Gerne mehr davon

Wir sind das Licht
0

Eine Frau verhungert, und das mitten in einer ganz normalen Wohnsiedlung und vor den Augen ihrer drei Mitbewohner. Nach Elisabeths Tod ist die Polizei ratlos - liegen hier Totschlag und unterlassene Hilfeleistung ...

Eine Frau verhungert, und das mitten in einer ganz normalen Wohnsiedlung und vor den Augen ihrer drei Mitbewohner. Nach Elisabeths Tod ist die Polizei ratlos - liegen hier Totschlag und unterlassene Hilfeleistung vor, oder hat Elisabeth eigenmächtig entschieden, keine Nahrung mehr zu sich zu nehmen?
Wer jetzt einen spannenden Thriller erwartet, ist hier an der falschen Adresse; Gerda Blees' Roman überzeugt auf einer ganz anderen Ebene. Denn statt ganz herkömlich eine oder mehrere Figuren zu Wort kommen zu lassen, sind es hier fast ausschließlich Gegenstände und Abstrakta wie etwa ein Brot, der Ermittlungsbericht oder die Zweifel, die die merkwürdige Geschichte der "Wohngruppe Klang und Liebe" nacherzählen. Und das funktioniert unfassbar gut.

Im Zentrum steht dabei Melodie, die Begründerin der Gruppe, die die anderen nach und nach ihrer eigenen Urteilskraft und Entscheidungsfähigkeit beraubt - und das auf eine so subtile, manipulative Art und Weise, dass man sich ihr kaum entziehen kann. Auch dann nicht, wenn nicht mehr nur die eigene Gesundheit, sondern auch das Leben an sich in Gefahr sind. Denn Melodie ist der festen Überzeugung, dass der Verzicht auf Nahrung vollkommen natürlich und förderlich ist, weshalb sie die Gruppe nach und nach auf eine reine Ernährung von Licht umstellen will - dass Elisabeth, Muriel und Petrus zum Zeitpunkt des ersten Zusammentreffens alle auf ihre Art psychisch instabil und damit sehr leicht zu beeinflussen sind, kommt ihr dabei sehr entgegen.
Durch die regelmäßigen Perspektivwechsel gelingt es der Autorin, ein extrem umfassendes und vielschichtiges Bild der vier WG-Mitglieder zu zeichnen. Als Leserin wahrt man stets eine gewisse Distanz zu den Figuren, erhält aber zugleich einen viel tiefergehenden Einblick in die Mechanismen ihres Zusammenlebens, als die Protagonistinnen selbst ihn hätten liefern können. Ich konnte beim Lesen vor lauter Unverständnis für Melodies Gedankenkonstrukt nur kontinuierlich den Kopf schütteln, und hätte dabei doch am liebsten sie selbst wachgeschüttelt.

Für mich war "Wir sind das Licht" ein unerwartetes Highlight, das ich sehr gerne empfehle!

Veröffentlicht am 17.11.2021

Einfühlsam und spannend geschrieben

Der Feuervogel von Istradar
0

Firaya hat nur ein Ziel: Sie möchte den Feuervogel stehlen, eine wertvolle Insigne Istradars. Denn nur so kann sie die Zwietracht unter den Herrschern neu entzünden und ihr eigenes Volk vor großem Leid ...

Firaya hat nur ein Ziel: Sie möchte den Feuervogel stehlen, eine wertvolle Insigne Istradars. Denn nur so kann sie die Zwietracht unter den Herrschern neu entzünden und ihr eigenes Volk vor großem Leid bewahren. Als sie dem vermeintlichen Feuervogel erstmals nahe kommt, stellt sie fest - er ist gefälscht. Firaya entgeht nur knapp einer Verhaftung wegen ihres Einbruchs, und der Preis dafür ist ein gefährliches Bündnis mit der Gardistin Alina, die ihrerseits aus ganz anderen Gründen hinter dem Schatz her ist. Doch wer ist der Dieb, und noch viel wichtiger: Wo ist der Feuervogel?

Mit Alina und Firaya treffen zwei sehr unterschiedliche Frauen aufeinander, und dennoch stellen sie bald schon fest, dass sie mehr verbindet als nur die Suche nach dem Feuervogel. Beide Protagonistinnen sind sehr authentisch und waren mir auf ihre Art gleich sympathisch. Besonders spannend ist natürlich auch die Liebesgeschichte, die sich langsam zwischen den beiden entwickelt und die ich so viel besser und einfühlsamer geschrieben fand als so manche Hetero-Beziehung, kommt sie doch ganz ohne toxische Elemente aus und drängt auch den Plot nicht zu sehr aus dem Fokus. Auch auch der Schreibstil von Ria Winter macht es einem wirklich leicht, ins Buch hineinzufinden und lässt einen förmlich durch die Seiten fliegen.

Langweilig wurde es mir beim Lesen jedenfalls nie, und auch wenn ich leider nicht sofort Zeit für den zweiten Band finde, steht er ganz weit oben auf meiner Liste!

Veröffentlicht am 19.10.2021

Wunderbarer Auftakt einer Reihe, die Highlight-Potenzial hat

Ansuz – Das Flüstern der Raben (1)
0

Ein rothaariges Mädchen. Ein verschneiter Wald. Ein Mann in heller Jacke und eine dünne Lederschnur, die sich langsam um den Hals des Mädchens zuzieht. Nacht für Nacht erwacht Anne schweißgebadet aus diesem ...

Ein rothaariges Mädchen. Ein verschneiter Wald. Ein Mann in heller Jacke und eine dünne Lederschnur, die sich langsam um den Hals des Mädchens zuzieht. Nacht für Nacht erwacht Anne schweißgebadet aus diesem immergleichen Albtraum, ohne je die Gesichter des Mannes oder des Mädchens sehen zu können und ohne Antwort auf die Frage, warum sich ausgerechnet dieser eine Traum ständig wiederholt. Denn sie hat zwar häufiger solche Visionen, in denen sie Ereignisse aus der Vergangeheit sieht, doch normalerweise durchlebt sie solche Szenen nur ein einziges Mal.

Dass einige Dinge gerade großen Veränderungen unterliegen, merkt Anne auch, als sie gleich am ersten Schultag zwei neue Freunde findet - sie, das Mädchen, das 17 Jahre lang Einzelgängerin war und immer von allen entweder angefeindet oder mindestens ignoriert wurde. Und als sich dann ganz in der Nähe einige Morde ereignen, die die Menschen in Angst und Schrecken versetzen, ist klar - das alles kann nicht bloß Zufall sein.

Ohne dass sie recht weiß, wie ihr geschieht, findet Anne sich plötzlich mitten in einer Welt wieder, die direkt einem Lehrbuch zur nordischen Mythologie entnommen zu sein scheint. Aufgewachsen in einer ganzen Reihe an Pflegefamilien und Wohnheimen steht sie, die immer nur auf Ablehung gestoßen ist, mit einem Mal im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, und muss bald feststellen, dass ihre Unwissenheit sie in große Gefahr bringt.

800 Seiten wirken auf den ersten Blick vielleicht ersteinmal ziemlich abschreckend. Tatsächlich lohnt es sich aber, sich an diesen Wälzer heranzutrauen, denn langweilig wird es hier keine einzige Seite lang. Anne war mir vom ersten Moment an sympathisch, weil sie ganz anders ist, als man es von einer klassischen Fantasy- oder YA-Protagonistin vielleicht erwarten würde: sie geht anderen Menschen lieber aus dem Weg und macht ihr eigenes Ding, ist mürrisch und verschlossen und irgendwie von einer düsteren Aura umgeben. Einziger Begleiter ist ihr etwas furchteinflößender Riesenhund Monster und sie hat eine Vergangenheit, bei der die meisten lieber gleich einen großen Bogen um sie machen. Weshalb ich sie trotzdem gleich ins Herz geschlossen habe, kann ich gar nicht mal so genau sagen. Tatsache ist aber, dass sie und auch die anderen Figuren sehr authentisch geschrieben sind, seien es nun ihre etwas überdrehte Freundin Luna, ihr immer gutgelaunter und freundlicher Chef Frank oder der auf charmante Art hinterlistige Elias. Einzig Varnar, der stets in Annes Nähe ist und für den sie schon bald Gefühle entwickelt, mochte ich nicht, und für meinen Geschmack hätte die Geschichte diese Liebesbeziehung überhaupt nicht gebraucht.

Davon abgesehen hat mir das Buch aber wirklich gut gefallen. Die Mischung aus nordischer Mythologie und Krimielementen ist genau richtig, es ist düster (aber auch nicht zu sehr; an vielen Stellen ist es auch wunderbar humorvoll), man fiebert mit Anne mit und will am liebsten immer weiterlesen. Daher sind dann auch die 800 Seiten erstaunlich schnell geschafft und sollten kein Grund sein, sich diese Geschichte entgehen zu lassen. Dass ein solch dickes Buch keine einzige Seite lang die Spannung vermissen lässt, spricht eigentlich schon für sich. Ich bin jedenfalls schon sehr gespannt auf die Fortsetzung!

Veröffentlicht am 17.09.2021

Reise durch ein Leben

Reise durch ein fremdes Land
0

Einige Tage kurz vor Weihnachten macht Tom sich auf den Weg quer durch Großbritannien, um seinen Sohn Luke abzuholen, der für sein Studium fortgezogen ist. Da er nun aber krank ist und wetterbedingt auch ...

Einige Tage kurz vor Weihnachten macht Tom sich auf den Weg quer durch Großbritannien, um seinen Sohn Luke abzuholen, der für sein Studium fortgezogen ist. Da er nun aber krank ist und wetterbedingt auch keine Flüge gehen, nimmt Tom die weite Reise auf sich, damit sein Sohn die Feiertage nicht alleine verbringen muss. Während er durch die verschneite Landschaft fährt schweifen seine Gedanken immer wieder ab, Leitfaden sind dabei die Bilder, die er im Laufe seines Lebens als Photograph geschossen hat. Sie erinnern ihn an den Anfang seiner Beziehung, an zahlreiche Begegnungen und an seine Kinder Lilly und Luke. Und vor allem auch an seinen ältesten Sohn Daniel, den er vor langer Zeit verloren hat.

Anfangs hat mich das Buch gleich in seinen Bann gezogen. Der Schreibstil ist sehr atmosphärisch, die verschneite Landschaft wird gut greifbar, und eine lange, einsame Autofahrt verspricht viel Raum für interessante Gedanken. So war es auch hier, denn während Tom auf dem Weg zu Luke ist, erzählt er nach und nach die gesamte Lebensgeschichte Daniels nach. Erst verhalten, dann immer hypnoider. Beinahe tranceartig scheint er in seinen Erinnerungen, seiner Schuld gefangen, wie auch der Schnee um ihn herum alles abzudämpfen scheint, während Vergangenheit und Gegenwart miteinander verschmelzen.

Die Beschreibung der Landschaft, die unter einer dicken Schneeschicht begraben liegt, vereiste Straßen, die ständige Gefahr, ins Schleudern zu geraten oder auf der weiten Strecke irgendwo versehentlich falsch abzubiegen, während er auf dem Weg zu seinem Sohn ist. Die ganze Metaphorik dahinter erschließt sich erst im Laufe des Buches, denn letztendlich ist die Reise Toms eine Reise durchs Leben, eine einzigartige und zugleich doch eine ganz typische. Wir laufen ständig Gefahr, uns irgendwie zu verlaufen, die falsche Abzweigung zu nehmen, zwischendrin begegnen wir immer wieder Menschen, die unseren Weg prägen - auf Toms Autofahrt vor allem eine ältere Frau und die Fahrerin eines Unfallwagens -, doch den Weg in seiner Ganzheit können nur wir allein bestreiten. Und für Tom ist das nicht nur der Weg zu Luke, den er nach Hause holen will, sondern auch der zu Daniel, den er um Verzeihung bitten möchte, den er auch nach all der Zeit noch nicht loslassen konnte.

Fazit: Ein atmosphärischer, bildgewaltiger und intensiver Roman über Trauer, Schuld und die Macht der Vergangenheit, der mir sehr gut gefallen hat und den ich gerne weiterempfehle!