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Veröffentlicht am 03.11.2021

Mein liebster Band bisher

A. S. Tory und das Spiel mit der Zeit
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Sommer 2020. Ganz Deutschland leidet unter den Folgen der Corona-Pandemie und auch Sid hat seine gute Freundin Chiara schon eine Weile nicht mehr gesehen. Da kommt eine überraschende E-Mail von Mr. Tory ...

Sommer 2020. Ganz Deutschland leidet unter den Folgen der Corona-Pandemie und auch Sid hat seine gute Freundin Chiara schon eine Weile nicht mehr gesehen. Da kommt eine überraschende E-Mail von Mr. Tory zur rechten Zeit. Der bietet den beiden zwar dieses Mal kein Abenteuer im Ausland an, dafür aber eine Reise in die Vergangenheit. In Frankfurt am Main sollen sie in einer Villa, die verkauft werden soll, die persönlichen Gegenstände der Besitzer durchsehen. Dabei machen sie einige spannende Entdeckungen und kommen einer großen Familientragödie auf die Spur.

„A.S. Tory und das Spiel mit der Zeit“, der vierte Band der Reihe um den mysteriösen Mr. Tory, wird hauptsächlich aus der Perspektive des Protagonisten Sid erzählt; es werden allerdings auch immer wieder Transkripte von Tonbändern eingestreut, die Arne, der verstorbene Sohn der Familie Sachert, aufgenommen hatte. Das macht die gesamte Geschichte noch um einiges emotionaler und vermittelt den Eindruck, unmittelbar dabei gewesen zu sein. Und wieder gelingt es der Autorin, gekonnt wichtige Themen wie Identität, Ausgrenzung oder Drogenkonsum einzuflechten, ohne dabei moralisch zu werden.

Ich muss zugeben, dass ich die Lektüre des Buches ein wenig vor mir hergeschoben habe – und das hatte auch gute Gründe, denn dieser vierte Band wird (zumindest vorerst) das Letzte sein, was wir von unseren Held*innen lesen werden. Umso schöner, dass „A.S. Tory und das Spiel mit der Zeit“ zu meinem absoluten Lieblingsband wurde, den ich in einem Rutsch verschlungen habe.

Zwar reisen Sid und Chiara nicht mehr quer über die Weltkarte, davon hat die Geschichte, in meinen Augen, aber durchaus profitiert. Die beiden, ihre Persönlichkeiten und ihre Freundschaft zueinander stehen im Fokus, was die Handlung deutlich intensiver und auch intimer macht. Sid erscheint erwachsener und reflektierter und auch Chiara verhält sich weniger aufgedreht und impulsiv – das wirft natürlich auch noch einmal die Frage auf, was aus den beiden in Zukunft eigentlich werden soll.

Fazit: Ich würde mir zwar wünschen, dass die Reihe irgendwann weitere Bände erhält, kann aber auch mit diesem Ende wunderbar leben.

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Veröffentlicht am 30.10.2021

Ein bewegendes Stück Gesellschaftskritik

In Flammen
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In einem Slum in Kalkutta lässt sich die junge Jivan nach einem terroristischen Anschlag dazu hinreißen, auf Facebook offen die Regierung zu kritisieren. Schnell gerät sie selbst ins Kreuzfeuer und wird ...

In einem Slum in Kalkutta lässt sich die junge Jivan nach einem terroristischen Anschlag dazu hinreißen, auf Facebook offen die Regierung zu kritisieren. Schnell gerät sie selbst ins Kreuzfeuer und wird schließlich als mutmaßliche Täterin vor Gericht gestellt. Im Prozess gibt es nur zwei Personen, die für sie aussagen können: Lovely, eine Hijra (der indische Begriff für eine trans oder intersexuelle Person), der sie kostenlos Englischunterricht erteilt und PT Sir, ihr ehemaliger Sportlehrer, der mitten im politischen Aufstieg begriffen ist.

„In Flammen“ erzählt in wechselnden Perspektiven die Geschichte einer falschen Verurteilung. Im Fokus steht Jivan, die als Muslima aus dem Slum eine gelungene Zielscheibe abgibt. Die Bevölkerung ist nur zu gerne bereit, in ihr die Terroristin zu sehen. Als Protagonistin begleiten wir sie vom Tag des Anschlags bis zum Gerichtsurteil. Weitere Blickwinkel auf die Handlung liefern Lovely und PT Sir, aber in kurzen Einschüben auch beispielsweise Jivans Eltern oder ihr Anwalt.

Es ist ein unbarmherziges Bild, das die Autorin Megha Majumdar von Indien zeichnet – Diskriminierung aufgrund von Religion oder sexueller Identität sind an der Tagesordnung und Gelder zur Förderung der Bildung verschwinden häufig in fremden Taschen. Im Frauengefängnis hofft Jivan währenddessen auf eine Chance, ihre Geschichte so zu erzählen, wie sie tatsächlich passiert ist.

Eines ist jedoch bezeichnend: In dem Maße, in dem sich die Situation für Jivan verschlechtert, verbessert sie sich für Lovely und PT Sir. Erstere wird durch ihren Auftritt vor Gericht zum Liebling des Volkes und kann sich endlich den Traum von der Schauspielerei erfüllen. Zweiterer steigt nach und nach an die Spitze seiner Partei auf. Am Ende müssen sich beide zwischen ihrer Loyalität zu Jivan und der eigenen Karriere entscheiden, denn mit einer Terroristin in Verbindung gebracht zu werden, könnte beiden immens schaden.

Der Roman zeigt die Schicksale von drei unterschiedlichen Menschen auf der Suche nach Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung und wie schnell diese am Abgrund enden kann - ein bewegendes Stück Gesellschaftskritik!

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Veröffentlicht am 27.10.2021

Ein emotionaler Roman mit wichtigem Thema

Der Flug des Raben
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Garnet Raven ist 3 Jahre alt, als er aus dem Ojibwe-Reservat entführt wird. Von da an wächst er in Pflegefamilien auf, wo er seine Herkunft verleugnen muss und gerät schon als Teenager auf die schiefe ...

Garnet Raven ist 3 Jahre alt, als er aus dem Ojibwe-Reservat entführt wird. Von da an wächst er in Pflegefamilien auf, wo er seine Herkunft verleugnen muss und gerät schon als Teenager auf die schiefe Bahn. Als er mit Anfang 20 eine Haftstrafe verbüßt, erhält er einen Brief seines Bruders Stanley, der ihn bittet, nach der Entlassung nachhause zu kommen. Aber was bedeutet Zuhause für Garnet? Er kennt weder Sprache noch Traditionen seiner Vorfahren, trägt einen Afro und fühlt sich dank seines besten Freundes eher Schwarz als Ojibwe. Doch dann nimmt ihn Keeper, ein älterer Mann seines Stammes unter seine Fittiche und die beiden stellen fest, dass sie jede Menge von einander zu lernen haben.

In „Der Flug des Raben“, schon einmal erschienen unter dem Titel „Hüter der Trommel“, erzählt der 2017 verstorbene Richard Wagamese im Prinzip eine literarisierte Version seiner eigenen Geschichte. Die Handlung wird hauptsächlich aus Garnets Sicht erzählt, aber auch Keeper kommt immer wieder zu Wort und liefert seinen Blick auf dessen Entwicklung und das Volk der Ojibwe. Der Schreibstil ist dabei sehr persönlich, teilweise umgangssprachlich und fühlt sich an, als würde Garnet alles unmittelbar erzählen.

Der Roman (Original 1994) macht deutlich, wie sehr die indigene Bevölkerung unter den „Missionierungsversuchen“ von Kirche und Staat zu leiden hatte. Kinder wurden unter dem Vorwand der Bildung aus ihren Familien gerissen, um ihnen alles Indigene auszutreiben – seien es lange Haare oder die eigene Sprache. Sie landeten in Pflegefamilien und eigens dafür eingerichteten Heimen und selbst, wenn sie eines Tages zurückkehren konnten, blieben viele von ihnen doch für immer entwurzelt. Unlängst entdeckte Massengräber lassen erahnen, dass diesem System tausende Kinder zum Opfer fielen.

Im Roman hat Garnet Raven mehr Glück – mit einer Familie und einem Stamm, der ihn mit offenen Armen empfängt. Keeper als spirituelles Vorbild hilft ihm dabei, zu den eigenen Wurzeln zurückzufinden, während er selbst aus der Freundschaft mit dem jungen Mann die Kraft schöpft, seine Alkoholkrankheit zu bekämpfen. Ein emotionaler Roman mit wichtigem Thema

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Veröffentlicht am 16.10.2021

Über die Macht der Sprache

Sprache und Sein
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Manche Rezensionen fallen mir leicht, sie sind innerhalb kürzester Zeit zu schreiben. Manche jedoch erfordern meine ganze Aufmerksamkeit und jede Menge Notizen, um zu versuchen, dem Text gerecht zu werden. ...

Manche Rezensionen fallen mir leicht, sie sind innerhalb kürzester Zeit zu schreiben. Manche jedoch erfordern meine ganze Aufmerksamkeit und jede Menge Notizen, um zu versuchen, dem Text gerecht zu werden. Das ist auch bei „Sprache und Sein“ der Journalistin, Autorin, Bloggerin und Aktivistin Kübra Gümüşay der Fall, welches kürzlich als Taschenbuch erschien.

In ihrem Buch befasst sich Gümüşay eingehend mit dem Thema Sprache und zeigt auf, wie machtvoll sie ist und wie sie unsere Wahrnehmung verändert. Jede/-r von uns kennt sicherlich ein Wort, das nur schwer in eine andere Sprache zu übertragen ist. Worte transportieren jedoch nicht nur unsere Sicht auf die Welt, sie zeigen auch Grenzen auf (wie das generische Maskulinum im Deutschen) bzw. hinterlassen Lücken, wenn Dinge einfach nicht verbalisiert werden können.

Die Autorin schildert zudem, wie Sprache zur Ausgrenzung und Stereotypen zu „Panzern der Ignoranz“ werden, indem sie die „Unbenannten“ den „Benannten“ gegenüberstellt. Zur ersten Kategorie gehört der Standard, also alle diejenigen, deren Perspektive das Maß aller Dinge ist. Die „Benannten“ sind diejenigen, die immer nur im Kollektiv und nicht als Individuum gedacht werden, zum Beispiel „DIE Musliminnen“. Was diese Art der Entmenschlichung für die Betroffenen bedeutet? Sie sind ständig, auch schon als Kind, damit beschäftigt, ihre eigene Existenz zu erklären und zu rechtfertigen, sie sind – so Gümüşay - „gefangen zwischen Sprache und Sein“.

Hier ist nicht genug Platz, um alle Themen aufzuzählen, welche im Buch angeschnitten werden. Die Autorin widmet sich digitalem Hass ebenso wie dem Rechtspopulismus, ächtender Sprache ebenso wie kalkulierten Provokationen durch die AfD. Dabei lässt sie uns an eigenen Erfahrungen teilhaben, zitiert aber auch viele andere Autor/-innen und Aktivist/-innen. Was aber ist all dem laut Gümüşay entgegenzusetzen? Wir brauchen viele Perspektiven unterschiedlichster Menschen, die frei sprechen dürfen – als Individuum und nicht als Repräsentant/-in eines Kollektivs. Eine gerechtere Gesellschaft ist nur durch Handeln erreichbar und wir alle dürfen nicht länger nur auf bestimmte Standpunkte reagieren, sondern müssen für die Themen agieren, die uns wichtig sind. Und vor allem: Wir müssen einander Fehler zugestehen, damit Entwicklung möglich ist. Unbedingt lesen!

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Veröffentlicht am 08.10.2021

Natürlicher Lebensraum

Auf Basidis Dach
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Eine Tasse Pfefferminztee in einem Café in Fès, schwungvoll aus einem halben Meter eingegossen. Ein Handy voller Kontakte von Taxifahrern in ganz Marokko, die meisten von ihnen hören auf den Namen Mohammed. ...

Eine Tasse Pfefferminztee in einem Café in Fès, schwungvoll aus einem halben Meter eingegossen. Ein Handy voller Kontakte von Taxifahrern in ganz Marokko, die meisten von ihnen hören auf den Namen Mohammed. Eine Dachterrasse voller Erinnerungen, manche von ihnen sogar voller Blut. Eine ältere Frau, die sich nur noch mit einem einzigen Wort verständigen kann, „Allah“. Und mittendrin eine junge Frau auf der Suche nach ihren Wurzeln und nach der Antwort auf die Frage, ob jeder von uns eigentlich einen natürlichen Lebensraum hat.

In ihrem Buch „Auf Basidis Dach“ schreibt Mona Ameziane, Journalistin und Moderatorin (unter anderem der sehr hörenswerten Büchersendung „1Live Stories“), über ihre „halbe Heimat“ Marokko. Als Tochter einer Deutschen und eines Marokkaners beantwortet sie bereits mit vier Jahren die Frage nach ihrer Herkunft mit „Ich komme aus halb Marokko und halb Deutschland“. Auch im Erwachsenenalter setzt das sich fort, doch dieses Mal stellt Ameziane sich selbst die Fragen, u.a. „Bin ich eigentlich marokkanisch genug?“.

In kurzen, aber inhaltsvollen Kapiteln berichtet die Autorin von ihrer letzten Reise nach Marokko, auf der sie ihr Vater begleitet, aber auch von Erfahrungen und Erlebnissen aus ihrer Kindheit und Jugend. Dabei macht sie, für mich persönlich, einfach alles richtig. Sie stellt die eigene Person in den Mittelpunkt, voller Ehrlichkeit und ohne Arroganz. Sie erzählt ebenso von schwierigen Momenten, wie von glücklichen, von traurigen, wie von lustigen – einfach eine perfekte Mischung. Und sie akzeptiert auch, dass es nicht auf alle Fragen eine eindeutige Antwort gibt, so zum Beispiel auf die nach der Rolle der Frau in Marokko.

Aus Mona Amezianes Worten ist auf jeder Seite die Liebe zu ihrer Familie zu lesen, die ihr die Möglichkeit gegeben hat, mit dem besten aus zwei Welten aufzuwachsen – ihr Basidi (so nennt man den Großvater in Marokko) gab ihr neben der Liebe zur Literatur auch noch den Titel für ihr Buch mit auf den Weg. „Auf Basidis Dach“ ist aber auch eine Liebeserklärung an ein Land, das die Autorin fasziniert, das sich ihr aber vielleicht nie ganz erschließen wird. Und das ist in Ordnung.

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