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Veröffentlicht am 10.12.2021

Großartiger historischer Roman um den Bau der Karlsbrücke

Die Brücke der Ewigkeit
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Prag, Mitte des 14. Jahrhundert: Als Kind hat Steinmetz Jan Otlin Gott geschworen, ihm eine steinerne Brücke zu bauen, die allem standhält und nie mehr einstürzt - eine Brücke für die Ewigkeit. Im Jahr ...

Prag, Mitte des 14. Jahrhundert: Als Kind hat Steinmetz Jan Otlin Gott geschworen, ihm eine steinerne Brücke zu bauen, die allem standhält und nie mehr einstürzt - eine Brücke für die Ewigkeit. Im Jahr 1357 ist es soweit: Kaiser Karl IV. ernennt ihn zum kaiserlichen Brückenbaumeister, und Jan macht sich mit Feuereifer ans Werk. Er weiß, dass Gottes Wege unergründlich sind und viele Prüfungen vor ihm liegen werden. Aber nicht nur Unwetter, Stürme und Fluten machen ihm zu schaffen, in den eigenen Reihen lauern Neider, die sich für nichts zu schade sind, um ihn aus dem Weg zu räumen…

Ein schlichtweg großartiger historischer Roman, der das Leserherz höherschlagen und keine Wünsche offenlässt. Für mich einer der besten historischen Romane des Jahres! Von der ersten Zeile an fesselnd, mit gut durchdachtem, klug strukturiertem Aufbau, vielschichtigen Charakteren und bildhafter und authentischer Darstellung des historischen Kontextes, in den die Geschichte aufs Trefflichste eingebettet ist. Der Autor versteht es meisterhaft, die Menschen und ihre Zeit lebendig werden zu lassen und bildet die mittelalterliche Gesellschaftsstruktur wesensgetreu nach. Er gibt uns tiefe Einblicke in alle gesellschaftlichen Schichten wie Hochadel, Rittertum, Geistlichkeit, bürgerliche Handwerksleute, Marktweiber, Huren, pickt sich einzelne Vertreter heraus und spart auch nicht mit Extremen, wie den eifernden Mönch, die Sternendeuterin und die mordenden und vergewaltigenden Raubritter. Dadurch wird deutlich, dass dies eine Zeit im Umbruch und voller Gegensätze ist, einerseits das feudale Herrschaftssystem mit klar definierten Klassen und Rollen, mit großer Gottesfurcht und tiefem Aberglauben, aber auch mit wachsenden Städten und erstarkendem Bürgertum, mit hervorragenden und fortschrittlichen Meistern und Kaufleuten, die Dinge anpacken und voranbringen. Der Autor schafft es zudem, dass seine Figuren nicht nur schwarz oder weiß sind, sondern mit ihren nachvollziehbaren menschlichen Stärken und Schwächen, Zweifeln und Ängsten sind sie absolute Kinder ihrer Zeit, die er so lebendig auferstehen lässt, dass Jahrhunderte in Windeseile überbrückt werden.

Dabei erweist er sich als hervorragender Erzähler, der seine Geschichte übersichtlich strukturiert. Aufgeteilt in vier Bücher verläuft die Handlung keineswegs chronologisch. In Rückblenden erzählt Jan Otlin die Ereignisse, wobei er als allwissender Erzähler fungiert und in seinem Bericht auch aus anderen Perspektiven erzählt wird. Dadurch gewinnt der Leser natürlich viel bessere Einblicke in Tathergänge und Gedanken und Motive der Protagonisten, als wenn in der Ich-Form erzählt würde. Der Geschichte vorangestellt und als erstes Kapitel eines jeden Buches liegt immer die gegenwärtige Situation Jans und der Seinen, die dann im letzten Buch abgeschlossen wird. Die einzelnen Kapitel sind zudem mit treffenden Überschriften und Zeitangaben betitelt. Geschickt beendet er zudem fast jedes seiner Kapitel mit einem Cliffhanger, so dass man einfach weiterlesen muss. Schön und informativ sind auch Stadtplan des historischen Prag, Zeittafel, Personen- und Begriffsregister.

Nicht nur in historischer Genauigkeit und Authentizität überzeugt der Autor, auch seine Figuren sind herausragend und lassen einen jede Sekunde mit ihnen mitleben, und das nicht nur mit den mir als Leserin sympathischen, sondern auch mit den Gegenspielern. Dass über einigen historischen Ereignissen ein Schatten liegt, kam ihm dabei sehr zupass. In zunächst drei Haupthandlungssträngen werden die Erlebnisse Jans, Maria-Magdalenas und Jans Gegenspieler Rudolph erzählt und die Ereignisse aus deren Sichtweise näher umschrieben. Gut gelungen fand ich, dass man so auf unterschiedliche Weise Beschreibungen erhält, mal näher dran, mal weiter weg ist vom Geschehen, je nach dem ob sich die Akteure gerade gut kennen oder was sie miteinander zu tun hatten. Die Geschichte ist wie ein Netz aus zunächst mehreren losen Fäden, die sich nach und nach verknüpfen.

Von allen Figuren habe ich mit Maria-Magdalena am meisten mitgelitten, vielleicht auch weil sie ein junges Mädchen ist und damit am verwundbarsten, aber mehr noch weil sie so viel Leid erfährt in ihrem jungen Leben und dabei doch stark ist, niemals aufgibt und zur Liebe fähig. Sie macht die stärkste Entwicklung in ihrem Erwachsenwerden durch, pendelt zwischen Fatalismus und „das Glück in die eigene Hand nehmen“, zwischen Glaube und Zweifel, Lebensmut und Höllenqual, begeht Sünden und soll doch büßen für etwas, das sie nicht getan hat. Lange erkennt sie in einer unbegreiflichen Naivität nicht das wahre Wesen der Sterndeuterin, die in meinen Augen die personifizierte Schlechtigkeit in diesem Roman ist, eine Scharlatanin und Schlimmeres, die mit ihrer Bösartigkeit das Schlechteste im Menschen entfacht und ihre Schwächen gnadenlos erkennt und ausnutzt. Das gelingt ihr vor allem bei Rudolph am besten, der vor allem neidisch, eitel und schwach ist und bei dem immer die anderen schuld an seinem Unglück sind. Aber zu meinem großen Vergnügen gibt es doch (göttliche?) Gerechtigkeit und in diesem Sinne auch ein wohlverdientes, höchst befriedigendes Ende.

Fazit: Ein herausragender Roman eines mehrfach preisgekrönten, vielseitigen Autors, dem hier wirklich ein echter Pageturner gelungen ist, ein Muss für alle Fans des gehobenen historischen Romans. Wer mehr von ihm lesen möchte, dem seien seine unter dem Pseudonym Ruben Laurien verfassten historischen Romane empfohlen. Er schreibt untere weiteren Namen außerdem Krimis und Fantasyromane.

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Veröffentlicht am 01.11.2021

Gesellschaftsroman und Liebesgeschichte – Entgegen aller Konventionen und Widerstände

Die Ullsteinfrauen und das Haus der Bücher
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Berlin, 1928: Der Ullstein-Verlag in Berlin ist der größte und mächtigste Verlag in Deutschland. An der Spitze steht unangefochten Dr. Franz Ullstein, Generaldirektor, seine Brüder und einzelne Familienmitglieder ...

Berlin, 1928: Der Ullstein-Verlag in Berlin ist der größte und mächtigste Verlag in Deutschland. An der Spitze steht unangefochten Dr. Franz Ullstein, Generaldirektor, seine Brüder und einzelne Familienmitglieder bilden das Gremium. Als er die dreißig Jahre jüngere Dr. Rosalie Gräfenberg kennenlernt, ist es um ihn geschehen. Nur ein paar Wochen später macht er der erfolgreichen Journalistin einen Antrag und entgegen aller Widerstände seitens der Familie heiraten sie. Bald jedoch ziehen dunkle Gewitterwolken auf: Die Familie beschuldigt Rosalie eine Spionin zu sein und enthebt Dr. Franz seines Postens. Bald findet sich Rosalie vor Gericht wieder, die ganze Familie gegen sich….

Großartiger Gesellschaftsroman, Liebesgeschichte und Sittengemälde im Berlin der Goldenen 20er Jahre, der sehr wahrheitsgetreu die kurze Ehe von Dr. Franz Ullstein mit Dr. Rosalie Gräfenberg und den Prozess nachzeichnet. Die Autorin stützt sich, wie sie in ihrem Nachwort ausführt, neben vielen anderen Quellen, bei den Beschreibungen der Personen hauptsächlich auf den Ullsteinroman von Sten Nadolny und auf Rosalie Gräfenbergs Autobiografie, und auch wenn natürlich Dialoge erfunden und Handlungen gerafft wurden, so ist das Fundament doch historisch belegt und sehr akribisch recherchiert, und gerade das macht diesen Roman so detailgetreu, realistisch und seine Figuren so authentisch und überzeugend. Die Autorin versteht es zudem, ihren Figuren Leben einzuhauchen, sie als „echte“ Menschen darzustellen und ihre Persönlichkeit greifbar zu machen. Aus verschiedenen Perspektiven erzählt, gewinnt man als Leser sowohl tiefe Einblicke in das gesellschaftliche Leben der Oberschicht, in deren Kreisen sich Rosalie und Dr. Franz bewegen, in die Ullstein-Familie und – als Gegenpart dazu – in die Arbeiterklasse. Der Roman ist eben nicht nur eine Liebesgeschichte, Themen wie die Geschlechterrollen und Klassenunterschiede, das Aufbegehren und der Kampf gegen diese werden ebenso thematisiert wie der beginnende Terror der Nationalsozialisten.

Mit Rosalie Gräfenberg hat sich die Autorin die perfekte Sympathieträgerin herausgesucht. Rosalie ist nicht nur schön, sondern auch weltgewandt, elegant, klug und gebildet, unabhängig, politisch und wirtschaftlich bewandert. Sie verkörpert alles, was man als Frau gerne sein möchte, ist dabei aber so reizend, dass man sie neidlos anerkennt und mit ihr befreundet sein will. Sie ist zudem herzlich, gefühlvoll und hilfsbereit und hat mit Vicki Baum eine eher burschikose Freundin an ihrer Seite, die unverbrüchlich zu ihr steht. Interessant ist die dritte im Bunde, Lilli Blume, das Arbeiterkind mit den großen Ambitionen, die aus dem Schattendasein heraustritt und ihren Weg geht. Die ungleichen Frauen helfen sich gegenseitig und sprengen durch ihre Taten einige gesellschaftliche Konventionen. Ich fand besonders großartig, wie die Autorin geschickt reale Ereignisse und Personen mit erfundenen verwebt, Lilli und ihre Familie, ihr Leben und Lieben sind eine ebenso wundervolle wie interessante Familie wie die Ullsteins, und man wünschte sich, mehr über sie zu erfahren. Lilli als Vicki Baums – vermeintlich unsichtbares - Tippfräulein steht stellvertretend für die Arbeiterschicht, hier gibt es dunkle Hinterhöfe, Kohlgeruch, Dialekt und keine Konzerte und Dienstmädchen. Hier gibt es aber auch unverbrüchliche Treue, eine große Würde und der Aufbruch in eine neue Zeit. Dies zeigt sich an Lillis und ihrer Schwester Gundis Ambitionen, beruflich etwas zu erreichen, und an ihrer Freundschaft mit Rosalie und Vicki Baum.

Fazit: Toller Roman, der viele Genres abdeckt und in seinem Stil und mit seinen herausragenden Figuren von der ersten Zeile an fesselt. Die Autorin bleibt bei ihren Darstellungen von Ereignissen immer nah an der Wahrheit, daher ist auch der Schluss kein reines Happy End, aber gerade dadurch nachvollziehbar und versöhnlich. Sie gibt sowohl historischen als auch fiktiven Figuren Charakter und Menschlichkeit und zusammen mit ihrem sehr eingängigen, flüssigen Schreibstil wird das Buch zu einem wahren Lesevergnügen.

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Veröffentlicht am 24.09.2021

Bewegende Mutter-Tochter-Geschichte zurzeit der Französischen Revolution

Die letzte Tochter von Versailles
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In Paris Mitte des 18. Jahrhunderts wächst die 13jährige Véronique in ärmlichen Verhältnissen auf, die vaterlose Familie kommt kaum über die Runden. Als ihre Schönheit dem Leibdiener König Ludwigs XV. ...

In Paris Mitte des 18. Jahrhunderts wächst die 13jährige Véronique in ärmlichen Verhältnissen auf, die vaterlose Familie kommt kaum über die Runden. Als ihre Schönheit dem Leibdiener König Ludwigs XV. auffällt, zögert die Mutter nicht lange und verkauft ihre Tochter als Mätresse für den König. Als Véronique schwanger wird, wird sie abgeschoben, schließlich mit einer Mitgift ausgestattet und verschachert, ihre Tochter Marie-Louise kommt zu Betreuern. Jahre später denkt Marie-Louise, inzwischen ausgebildete Hebamme und selbst mit Familie, immer noch an ihre Mutter und fragt sich, wer ihre Eltern waren. In den Wirren der französischen Revolution, in welcher auch Marie-Louises Ehemann eine tragende Rolle spielt, kommt Marie-Louise tatsächlich ihrer Mutter auf die Spur und lüftet das Geheimnis ihrer Herkunft…

Um es gleich vorweg zu nehmen: Wer einen stringent erzählten historischen Liebes- und Abenteuerroman mit fortlaufender Handlung und einer starken Heldin als Identifikationsfigur, wie zum Beispiel bei den Hebamme- oder Wanderhure-Büchern, erwartet, wird eher enttäuscht werden. Natürlich gibt es diese Figuren, auf die sich die Handlung konzentriert, allen voran Véronique und Marie-Louise, doch diese sind immer stark eingebunden in die Geschehnisse ihrer Zeit, werden zum Spielball großer Mächte und der Umstände, und nicht immer geht alles gut aus. In meinen Augen ist der Autorin ein wirklich fulminanter, bewegender, bildhafter Historienroman gelungen, der den Wechsel Frankreichs vom Absolutismus zur Republik zum Leben erweckt, wobei sie sich einzelne Lebensumstände herauspickt und die Ereignisse an deren Beispiel erzählt. Dabei gelingt ihr eine überzeugende Darstellung des Alltags sowohl des Adels und des Königshauses als auch des einfachen Volkes und des Bürgertums. Genauso könnte es wirklich passiert sein, die Menschen und ihr Schicksal werden gerade dadurch, durch ihre Schwächen und Zweifel und durch die Tatsache, dass eben nicht alles immer glatt läuft, authentisch. Hierbei hat man als Leser das Gefühl, man nimmt lebhaft teil an deren Leben und ist selbst mittendrin in dieser Gesellschaft.

Für mich gliedert sich die Geschichte eigentlich in zwei Hauptteile (im Buch ist die Geschichte in mehrere Teile strukturiert), und zwar den ersten um Véronique und den zweiten um Marie-Louise. Der erste bricht dann relativ abrupt ab, und es bleibt lange unklar, was nun eigentlich mit Véronique geschehen ist. Als großartige Erzählerin hat die Autorin verschiedene Erzählstränge und Perspektiven verwendet, die sogar mit verschiedenen Stilen behaftet sind. Man merkt sofort (nicht nur an der Kursivschrift), dass hier Véronique erzählt, aus ihrer Erzählung spricht ihre mangelnde Bildung, ihre Unbedarftheit und Naivität, aber auch ihre Loyalität und ihre Liebe. In Rückblicken wird dann Marie-Louises Kindheit erzählt, und lange Zeit hört man von Véronique erst einmal nichts. Der rote Faden jedoch ist die Verbindung zwischen Mutter und Tochter, zunächst eine geistige, später auch eine reale - ein Faden, der nie abreißt. Beide fragen sich immer, wo die andere ist und ob es ihr gutgeht. Beiden ist gemein, dass sie keine schöne Kindheit hatten, sie werden Spielball der Mächtigen beziehungsweise der Männer, die sie lieben. Beide verkörpern jedoch auch genau ihre Zeit, Véronique die alte Epoche als Mätresse des absolutistischen Herrschers, Marie-Louise als Gattin eines Revolutionärs und Anhänger Dantons die neue, die Zeit der Aufklärung, des Umbruchs und der neuen Zeitrechnung. Marie-Louise stellt aber gleichzeitig das Bindeglied zwischen Monarchie und Republik dar. Anders als ihre Mutter hat Marie-Louise die Möglichkeit, aufgrund ihrer Hebammenausbildung einen Beruf zu ergreifen und ihr Einkommen zu sichern, sie ist also auch ohne Mann lebensfähig. Sehr bezeichnend ist außerdem, dass der Sohn Marie-Louises in eine andere, noch neuere Welt aufbricht – in das junge, gerade unabhängig gewordene Nordamerika. Er verkörpert also auch wieder eine neue Gesellschaftsordnung, ein von Mutterland losgelöster, unabhängiger Staat, in dem alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind.

Fazit: Ein großartiger Roman, der von großen Umwälzungen erzählt, von Leben, die trotz allen Widrigkeiten und Rückschlägen gelebt werden. Ich fand die intimen Einblicke in das Leben der Mätressen und den historischen Kontext insgesamt sehr spannend und war tief gerührt von der Mutter-Tochter-Geschichte und der großen Loyalität, die diese Frauen für die, die sie lieben, empfinden. Ein sehr schöner und zu Herzen gehender Roman.

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Veröffentlicht am 12.08.2021

Forensik-Krimi at its best!

Tote schweigen nie
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Cassie Raven ist trotz ihres unkonventionellen Äußeren Sektionsassistentin mit Leib und Seele. Sie spricht mit den Toten und die Toten sprechen mit ihr. Als sie eines Tages einen Leichensack öffnet und ...

Cassie Raven ist trotz ihres unkonventionellen Äußeren Sektionsassistentin mit Leib und Seele. Sie spricht mit den Toten und die Toten sprechen mit ihr. Als sie eines Tages einen Leichensack öffnet und ihre ehemalige Lehrerin, der sie ihre erfolgreiche Ausbildung verdankt, vor ihr liegt, ist sie nicht nur schwer geschockt – sie zweifelt auch an der angeblich natürlichen Todesursache. Schnell schießt sie sich auf einen Verdächtigen ein, muss aber feststellen, dass sie ohne die Hilfe der Polizei nicht sehr weit kommt. Ihre einzige Chance ist ausgerechnet die spröde, ihr nicht eben zugeneigte Polizistin Flyte…

Großartig, originell, unkonventionell und superspannend – das ist wirklich ein toller Auftakt zur Serie um die Sektionsassistentin Cassie Raven. Dabei fängt es recht harmlos und eigentlich sogar ein bisschen merkwürdig an: Ein von oben bis unten tätowiertes und gepierctes Mädel schneidet Leichen auf und spricht dabei mit ihnen? Es ist aber tatsächlich kein Fantasy- oder Horrorroman, sondern ein waschechter Krimi, der seine Spannung langsam, aber stetig aufbaut und ab etwa der Mitte plötzlich – durch verschiedene Ereignisse - mächtig Fahrt aufnimmt. Tatsächlich braucht Otto-Normalleser schon starke Nerven, denn nicht Jedermanns Fantasie hält den detaillierten Beschreibungen der praktischen Arbeit einer Sektionsassistentin stand. Ich persönlich fand auch das sehr interessant und spannend. Der Großteil der Krimispannung wird hauptsächlich dadurch erzeugt, dass erstens gar nichts auf Mord hinweist und es dadurch zweifelhaft ist, ob die Ermittlungen nicht im Sande verlaufen. Es gibt zudem mehrere „kleinere“ Fälle, wie zum Beispiel eine verschwundene Leiche, die aufgelöst werden wollen, und diverse andere Handlungsstränge. Zweitens ist es natürlich ein sehr ungewöhnliches Duo, das sich hier zusammentut. Mit den Figuren der Cassie Raven und der Phyllida Flyte ist der Autorin in meinen Augen ein wahrer Clou gelungen – ich jedenfalls habe schon lange kein derartig fesselndes Ermittlerteam kennenlernen dürfen, das mich so in seinen Bann gezogen hat.

Zunächst konzentriert sich die Erzählung auf Cassie, ihre Vergangenheit wird angerissen, ihr Äußeres thematisiert, ihre innere Zerrissenheit und auch ihr Trauma, der Tod ihrer Eltern, und ihre daraus resultierenden Beziehungsängste. Mit den später immer häufiger eingeschobenen Kapiteln um Flyte, aus der Sicht der Ermittlerin erzählt, kommen wir der Persönlichkeit dieser ungewöhnlichen Figur immer näher, und je mehr das geschieht, desto mehr wächst sie einem ans Herz, und bei näherem Hinsehen wird auch deutlich, dass sie und Cassie gar nicht so unterschiedlich sind, wie es den Anschein hat. Beide sind klug und hartnäckig und wollen Gerechtigkeit, sie geben sich nicht mit Halbwahrheiten zufrieden. Beide haben Schlimmes erlebt und verdrängen ihre Trauer, haben aber aufgrund dessen große Schwierigkeiten, sich anderen zu öffnen. Dass dies ausgerechnet miteinander geschieht, ist ein umso größeres Wunder. Cassies Charme rührt zum großen Teil auch daher, wie sie mit den ihr anvertrauten Schutzbefohlenen umgeht, zutiefst respektvoll und sorgfältig, sie behandelt sie wie Menschen, nicht wie tote Körper, und sie kann sie lesen wie ein Buch. Flyte ist vor allem dann herrlich, wenn ihre Sensibilität durch ihre vermeintlich harte Schale bricht. Es ist durchaus bezaubernd zu lesen, wie sich die beiden im Laufe der Ereignisse aneinander annähern, wieder Angst davor kriegen und dann doch über ihre Schatten springen. Beide entwickeln sich dahingehend weiter, dass sie Vorurteile über Bord werfen und Hilfe annehmen, und diese kommt zuweilen aus höchst unerwarteter Ecke. Der Autorin gelingt es aber bei aller Konzentration auf die beiden Hauptfiguren, auch die anderen Charaktere liebevoll zu zeichnen, hier sticht besonders Cassies polnische Großmutter heraus.

Fazit: Wundervolles neues Ermittlerduo, ungewöhnlicher Plot, spannender Krimi mit überraschenden Wendungen und ebensolcher Auflösung – Herz was willst du mehr! Der sehr eingängige, humorvolle Erzählstil trägt sein Übriges dazu bei, dass dieser Krimi ein echter Pageturner ist. Ein großartiger Einstieg in eine hoffentlich mehrere Bände umfassende Serie um Cassie Raven und Phyllida Flyte – ich kann jedenfalls schon jetzt nicht genug von den beiden bekommen!

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Veröffentlicht am 05.07.2021

Knaller-Thriller und Paukenschlag-Auftakt einer neuen Reihe

Die Verlorenen
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Warum Jonah Colley, Scharfschütze einer Londoner Polizeieinheit, dem Hilferuf seines ehemaligen Kumpels Gavin folgt, weiß er selbst nicht so genau. Was er am Treffpunkt vorfindet, ist jedoch glasklar: ...

Warum Jonah Colley, Scharfschütze einer Londoner Polizeieinheit, dem Hilferuf seines ehemaligen Kumpels Gavin folgt, weiß er selbst nicht so genau. Was er am Treffpunkt vorfindet, ist jedoch glasklar: vier in Plastikfolie eingewickelte Körper, darunter der seines ehemaligen Freundes. Beim Versuch zu retten, was zu retten ist, wird Jonah niedergeschlagen. Als er erwacht, ist er selbst gefesselt und liegt auf Plastikfolie – und für Jonah beginnt ein Alptraum, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint…

Hammermäßiger Auftakt einer neuen Thriller-Reihe von Erfolgsautor Simon Beckett, der einem wie immer kalte Schauer über den Rücken jagt und sich nicht aus der Hand legen lässt. Beckett ist bekannt dafür, dass er kein Blatt vor den Mund nimmt, er benennt die grausamsten Details beim Namen. Die Bilder, die er hervorruft, lassen dem Leser kaum Raum für Fantasie. Das war zumindest so bei der Serie um den forensischen Anthropologen David Hunter, und auch dieser Thriller ist nichts für schwache Nerven. Schon der Paukenschlag zu Beginn lässt einem die Haare zu Berge stehen. Da wird nicht lange gefackelt – nach einem kurzen Intro findet man sich unversehens mit Protagonist Jonah Colley in der verrotteten Lagerhalle in einer gottverlassenen Gegend am Londoner Hafen wieder – und wird sofort mitten in Jonahs Alptraum mit hineingezogen. Becketts Erzählstil und -freude hat auch in diesem ersten Band der neuen Reihe nichts von seiner Überzeugungskraft und Intensität verloren, er versteht einfach sein Handwerk, entwirft mühelos Helden und Antihelden, stiftet Verwirrung mit überraschenden Wendungen und hält die Spannung so konstant aufrecht, dass auch dieses Buch zu einem Pageturner wird.

Mit Jonah Colley ist dem Autor hier auch wieder ein starker, wenn auch polarisierender Charakter gelungen. Innerlich gebrochen nach dem Verschwinden seines Sohnes Theo und der Trennung von seiner Frau, lebt er in einer schäbigen Bude, einzige soziale Kontakte sind die zu seinen Kollegen. So wirklich interessiert ist er an nichts mehr – außer an der Frage, was mit seinem Sohn damals passiert ist. In Rückblenden werden parallel zur Gegenwartsgeschichte die Ereignisse um das Verschwinden seines Sohnes erzählt. Anfangs losgelöst voneinander, bildet sich nach und nach ein Gesamtbild, das zeigt, wie alles zusammenhängt. Die Erlebnisse am Kai ändern alles. Man könnte meinen, sie traumatisieren Jonah noch mehr, das tun sie einerseits auch, doch andererseits geht er gestärkt daraus hervor, er ändert sein Leben und entwickelt eine andere Sicht auf die Dinge. Dabei ist er keinesfalls der hundertprozentige Sympathieträger, auch er verschweigt einiges und handelt manchmal irrational. Er ist eher der Antiheld, durch sein Trauma glaubt man, er habe sich aufgegeben, dazu kommen noch seine schweren Verletzungen – er läuft an Krücken durch das Buch. Mehr als einmal kommen einem Zweifel am Ausgang der Situation, denn man traut ihm einfach nicht zu, dass er heil da wieder herauskommt. Jonahs Unzulänglichkeit gibt der Geschichte zusätzliche Brisanz, seine Verletzlichkeit und Hartnäckigkeit geben ihr Emotionalität. Der starke Fokus auf Jonah als Hauptfigur lässt kaum Raum für andere starke Figuren, vielleicht das Einzige, was ich ein wenig bemängele.

Fazit: sehr spannende, durchaus brutale und blutige Geschichte und starker Auftakt zur neuen Thriller-Reihe des Erfolgsautors Beckett, die der David-Hunter-Serie in nichts nachsteht. Der Autor hat nichts verlernt, gewohnt bildhaft und lässig hält er die Spannung hoch, sorgt mit überraschenden Wendungen und erneuten Paukenschlägen für erschrecktes Aufkeuchen. Mit Jonah Colley ist ihm ein vielschichtiger Charakter gelungen, von dem man ungemein gefesselt ist und der dafür sorgt, dass man auch die Folgebände sehnsüchtig erwartet.

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