Spannendes Thema, stilistisch zu distanziert umgesetzt
Sehnsucht nach ShanghaiIch habe vor diesem Buch noch nie von Emily Hahn, der amerikanischen Journalistin, welche 1935 acht Jahre in China lebte, gehört, war vom Klappentext gleich fasziniert und freute mich darauf, mehr über ...
Ich habe vor diesem Buch noch nie von Emily Hahn, der amerikanischen Journalistin, welche 1935 acht Jahre in China lebte, gehört, war vom Klappentext gleich fasziniert und freute mich darauf, mehr über diese aufwühlende Zeit von Chinas Geschichte zu erfahren. Es ist ein ausgezeichnetes Thema für eine Romanbiographie und ich bin froh, einen Einblick in Emily Hahns Leben bekommen zu haben, und finde es ausgezeichnet, daß ihre Geschichte einem hoffentlich breiteren Publikum bekanntgemacht wird.
Vom Informationsgehalt her sind die weniger als 300 Seiten beachtlich, ich habe hier viel gelernt und interessante Einblicke bekommen. Auch die ab und an eingeflossenen Erklärungen zur chinesischen Denkweise, den Kulturunterschieden fand ich interessant - davon hätten es gerne mehr sein können. Dies führt zu einem Punkt, den ich etwas bedauerlich fand: entgegen meiner Erwartungen tauchen wir nicht wirklich tief in Kultur und Geschehnisse ein. Das liegt weniger an einem Mangel an Informationen als an der knappen, ausgesprochen distanzierten Erzählweise. Für eine Romanbiographie werden weder Charaktere noch Atmosphäre lebendig genug. Auch Motivationen, Gedanken werden nur angerissen und fast kühl berichtet. Konflikte werden rasch abgehandelt, Gefühle tauchen aus dem Nichts auf und verschwinden ohne Erklärung. Gerade bei den Dialogen war ich oft irritiert, es werden einige Sätze hineingeworfen, dann bricht der Dialog ab oder wird rasch aufgelöst, bei gegensätzlichen Meinungen reichen zwei Sätze, um den Gesprächspartner umgehend zu überzeugen. Hier fehlt die Tiefe. Symptomatisch fand ich eine Episode, in der Emily aus dem umkämpften Chongqing nach Hongkong kommt. In einer Bar kommt die Barbesitzerin zu Emilys Gruppe, fragt nach der Erwähnung Chongqings: „Wird dort nicht viel bombardiert?“ - Emily antwortet emotionslos: „Es gab jeden Tag einen Luftangriff. Manchmal sah ich Leichen auf der Straße (…). Manche hatten keinen Kopf mehr, manchen quollen die Gedärme aus dem Bauch.“ Es wirkt wie das Vorlesen eines Einkaufszettels, man liest es, aber es kann nicht berühren, wie überhaupt die an sich furchtbaren Kriegserfahrungen so geschildert sind, daß sie den Leser emotional nicht erreichen. Nach Emilys Antwort legt ihr Begleiter den Arm um sie und sie wird umgehend von erotischem Verlangen (!) übermannt, während die Barbesitzerin reaktionslos wieder verschwindet und die ganze Szene unbeholfen, abrupt und etwas unangemessen wirkt.
Der Fokus liegt leider ohnehin sehr auf Emilys erotischen Eskapaden. Ihre Arbeit wird nur am Rande dargestellt, das Buch über die Soong-Schwestern, welches sie berühmt macht, wird kaum beschrieben. Wir erfahren ein wenig über die Vorarbeit, aber dann ist es plötzlich geschrieben und ein Bestseller und ich saß ein wenig verwirrt da und fragte mich, warum dieses Buch so nebenbei abgehandelt wird, während Emilys Bettgeschichten so viel Raum einnehmen. Trotz dieser ausführlichen Behandlung fehlen hier, wie erwähnt, leider oft die tieferen Einsichten. Emilys große Liebe in Shanghai endet irgendwie sang- und klanglos, plötzlich ist sie rasend verliebt in einen andren Mann, ohne daß wir nachvollziehen können, woher diese Liebe - zuerst ging es nur um eine von sehr vielen Bettgeschichten - kam, worauf sie beruht.
Der Stil war allgemein nicht unbedingt mein Fall. Es gibt sehr schöne, poetische und treffende Formulierungen, die ich mehrmals gelesen habe, aber überwiegend fand ich ihn zu schlicht, manche Formulierungen sogar etwas unbeholfen. Positiv ist, daß sich das Buch sehr leicht und locker lesen läßt und die Autorin es geschafft hat, viele komplexe Informationen und Sachverhalte verständlich zu vermitteln. Es wurde auch nie langweilig und ich konnte aus der Lektüre viel mitnehmen. Ein Nachwort blickt gelungen auf das weitere Leben der Hauptcharaktere und gibt ein wenig Einblick in den Schreib- und Rechercheprozeß. Das Sujet ist ausgezeichnet gewählt; wäre die stilistische Umsetzung weniger distanziert und knapp gewesen und hätte die berufliche Seite und Fähigkeiten Emilys mehr berücksichtigt, wäre es für mich ein 5-Sterne-Buch geworden. So hat es mich leider nur teilweise überzeugt.