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Veröffentlicht am 07.07.2022

Beklemmend, verstörend, meisterhaft

Sie
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„Wir verkörpern eine Gefahr. Nonkonformismus ist eine Krankheit. Wir sind eine potenzielle Ansteckungsquelle.“

„Wir“ – das sind alle jene, die sich nicht dem Konformismus unterwerfen, die sich ihr eigenständiges ...

„Wir verkörpern eine Gefahr. Nonkonformismus ist eine Krankheit. Wir sind eine potenzielle Ansteckungsquelle.“

„Wir“ – das sind alle jene, die sich nicht dem Konformismus unterwerfen, die sich ihr eigenständiges Denken, ihre Fantasie und Kreativität, ihre Individualität und ihre Erinnerungen bewahren wollen: Künstler, Musiker, Literaten. Aber auch Liebende. Oder Alleinstehende.

„Sie“ – das ist eine namen- und gesichtslose Masse, und es werden immer mehr. Sie kommen lautlos, dringen in die Häuser aller Nonkonformisten ein, zerstören Kunstwerke, entfernen Bücher. Wer trotz dieser Warnungen an seinem künstlerischen Tun und Leben festhält, wird schmerzhaft bestraft. Malerinnen werden geblendet, Musikern wird das Gehör genommen. Wer Emotionen, Gefühle, Sensibilität zeigt, wird „geleert“, eingepfercht in fensterlose Zufluchtsheime, bis auch der letzte Funke Menschlichkeit erloschen ist. „Und wenn ihnen Schmerz und Gefühle restlos entzogen sind?“ – „Dann werden sie entlassen. Geheilt – von ihrer Identität.“

Kay Dicks „Sie“ (aus dem Englischen von Kathrin Razum) ist bereits 1977 erschienen und galt lange als verschollen. Umso erfreulicher ist es, dass der wiederentdeckte Roman nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt. Kay Dick schildert darin eine Dystopie, deren subtiles Grauen mit jeder Seite, mit jeder Zeile in das eigene Denken und Fühlen einsickert und bei mir geradezu körperliche Symptome ausgelöst hat: Selten habe ich während einer Lektüre ein solches Unbehagen, eine solche Beklemmung verspürt. In lose zusammenhängenden Szenen entfaltet sich eine Welt, in der letztlich alles, was den Menschen zu einem Menschen macht, ebenso gründlich wie unerbittlich ausgemerzt wird: ein Buch, das, wie Eva Menasse in ihrem ebenso lesenswerten Nachwort schreibt, „wie ein spitziger, unbehaglicher Kieselstein, der Stein im Schuh oder Kopf seiner Leser“ drückt und sticht und kneift – und das auf meisterhafte Weise.

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Veröffentlicht am 29.03.2022

Mitreißend und aktuell

Die Kinder sind Könige
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Nichts wünscht sie sich sehnlicher, als berühmt zu werden. Bekannt. Begehrt. Bewundert. Und: geliebt. Denn das ist es doch, was Berühmtheit bringt, oder nicht? Mit dem Aufkommen neuer Fernsehformate wie ...

Nichts wünscht sie sich sehnlicher, als berühmt zu werden. Bekannt. Begehrt. Bewundert. Und: geliebt. Denn das ist es doch, was Berühmtheit bringt, oder nicht? Mit dem Aufkommen neuer Fernsehformate wie „Big Brother“ scheint Mélanies Traum zum Greifen nah: Um im Reality-TV durchzustarten, bedarf es weder einer Modelfigur noch ausgeprägter Talente. Ihr erster Versuch scheitert kläglich; Mélanie ist, wie es scheint, nicht schön genug, nicht sexy genug, nicht extrovertiert genug, einfach: „nicht genug“. Das ändert sich, als Mélanie Mutter zweier entzückender Kinder wird – und entdeckt, dass ein süßes kleines Mädchen und ein aufgeweckter kleiner Junge in jeglicher Hinsicht „genug“ sind, und sogar mehr als das. Innerhalb kurzer Zeit wird Mélanie dank der – immer professioneller gestalteten – Videos und Storys ihrer Kleinen zu einer der bekanntesten und (einfluss-)reichsten „Momfluencerinnen“ Frankreichs. Endlich ist sie am Ziel ihrer Träume. Endlich ist sie bekannt. Endlich ist sie berühmt. Endlich wird sie von allen bewundert und geliebt … Von allen? Mit der Berühmtheit kommen die ersten kritischen Stimmen. Denn ausgerechnet ihre kleine Tochter Kimmy, der Star ihres YouTube-Kanals, wirkt immer lustloser, immer unwilliger, immer – unglücklicher. Und eines Tages ist Kimmy verschwunden …

Mit „Die Kinder sind Könige“ (aus dem Französischen von Doris Heinemann) nimmt die wie stets großartige Delphine de Vigan sich eines ebenso aktuellen wie brisanten Themas an: der kommerziellen Vermarktung, um nicht zu sagen Ausbeutung, von Kindern im Netz an. Dabei beweist sie nicht nur eine bemerkenswert scharfe Beobachtungsgabe, sondern spinnt den nur allzu realistischen Erzählfaden weiter in die Zukunft: Was wird einst aus diesen Kindern, deren Aufwachsen sich unter einem alles aufzeichnenden Auge und unter den Blicken von Millionen vollzogen hat? Wie entwickeln sie sich, wenn nahezu jedermann sie kennt? Kurzum: Was ist der Preis, den sie zahlen? Er ist, so viel sei verraten, astronomisch, denn:

„Nie werden all die Blicke abgewaschen sein, die sie durch einen Bildschirm hindurch beschmutzt, abgenutzt und beschädigt haben.“

Fazit: Ein großartiger, kluger Roman, der bereits jetzt zu meinen Lesehighlights des Jahres gehört.

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Veröffentlicht am 15.02.2022

Ein Ausnahmeroman

Como. 30 Tage.
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Sie forschen über den Einfluss Sri Lankas auf die thailändische Kunst zwischen dem dreizehnten und fünfzehnten Jahrhundert oder die Unterschiede zwischen Privatleben und Öffentlichkeit aus religiöser Sicht. ...

Sie forschen über den Einfluss Sri Lankas auf die thailändische Kunst zwischen dem dreizehnten und fünfzehnten Jahrhundert oder die Unterschiede zwischen Privatleben und Öffentlichkeit aus religiöser Sicht. Sie: Das sind die illustren Gäste in der mondänen Villa am Comer See, eine jede Meisterin ihres Fachs, ein jeder ein Schwergewicht seiner Zunft. 30 Tage werden sie dort verbringen, arbeiten, forschen, schreiben, sich bei feudalen Abendessen zusammenfinden und bei ebenso anregenden wie sterbenslangweiligen Vorträgen Intelligenz und Interesse demonstrieren. Und mitten unter ihnen ist er, der namenlose Ich-Erzähler, der nicht so recht weiß, wie er in den elitären Genuss eines Monatsstipendiums gekommen ist. Er, der in Belgrad in einer Bruchbude haust, in die es auch noch hineinregnet. Er, der nichts so recht mit dieser geschenkten Zeit anzufangen weiß. Arbeiten? – Woran? Forschen? – Worüber? Und so schläft er lieber lange, raucht Kette, trinkt die hervorragenden Weine und Spirituosen, verbrüdert sich mit dem Personal und lässt sich allabendlich ins Dorf spülen, dessen Bewohner noch nie einen Fuß auf das gediegene Parkett der Villa setzen durften. Auch so kann man 30 Tage in Como verbringen.

Es gibt sie, diese Bücher, die ihren ganz eigenen Zauber haben, ihre eigene, ebenso lakonische wie liebenswerte Stimme, einen besonderen Tonfall, eine exakte Beobachtung der feinen Unterschiede und einen Protagonisten mit Charakter. Srdan Valjarevićs „Como. 30 Tage“ (aus dem Serbischen von Susanne Böhm) ist ein solches Buch. Ich habe mit der Hauptfigur geraucht, gesoffen und in der Dorfkneipe gefeiert. Ich gemeinsam mit ihm Freunde gefunden und die anderen Gäste fasziniert beobachtet. Und ich kam gemeinsam mit ihm zu dem Schluss:

„Es ist nicht schlecht, reich zu sein, dachte ich, eine Jacht zu besitzen, ein Haus an diesem See, all diese Mäntel, Hemden, Jacken, Schuhe und Pullover für mehrere hindert oder gar tausend Dollar zu kaufen. Aber es ist auch nicht schlecht, wenn man nicht reich ist und nicht nichts von all dem hat, weil all das nicht wirklich etwas mit dem Leben an sich zu tun hat.“

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Veröffentlicht am 01.12.2021

feinsinnig - wie alles von Schlink

Die Enkelin
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Birgit ist tot. Unfall? Freitod? Diese Frage wird sich wohl nie abschließend beantworten lassen. Natürlich hat Kaspar schon seit Langem gespürt, dass es Birgit nicht gut geht. Ihr besorgniserregender Alkoholkonsum. ...

Birgit ist tot. Unfall? Freitod? Diese Frage wird sich wohl nie abschließend beantworten lassen. Natürlich hat Kaspar schon seit Langem gespürt, dass es Birgit nicht gut geht. Ihr besorgniserregender Alkoholkonsum. Ihre unzähligen Vorhaben, die sie letzten Endes doch irgendwann wieder aufgegeben hat. Wie ihr Romanprojekt zum Beispiel. Gab es das überhaupt? Oder war Birgits Rückzug in ihre Schreibstube nichts weiter als ein Vorwand, ungestört trinken zu können?

Als Kaspar sich in der Lage sieht, Birgits Unterlagen durchzusehen, beginnt er zu begreifen, was seine Frau ihre gesamte Ehe hindurch belastet hat: Kurz bevor sie, die ostdeutsche Studentin, zu Kaspar in den Westen floh, hat sei ein Kind bekommen. Eine Tochter, von deren weiterem Schicksal Birgit nichts wusste, eine Tochter, die Birgit nur allzu gern wiedergesehen hätte, doch dazu fehlte ihr der Mut, fehlte die Kraft.

Tatsächlich macht Kaspar die verschollene Tochter seiner Frau ausfindig, eine ehemals gewalttätige, drogenabhängige Rechtsradikale, die nunmehr mit Mann und Tochter in einer sogenannten völkischen Gemeinschaft auf dem Land lebt. Vorsichtig nähert sich Kaspar der Familie, vor allem Birgits Enkelin Sigrun, an, baut behutsam eine Beziehung zu dem jungen Mädchen auf, das in einem ihm fremden, seine Werte ablehnenden Kosmos aufwächst, lädt sie zu sich nach Berlin ein, präsentiert ihr fast beiläufig eine andere Lebenswelt. Und fragt sich, ob und wie lange das gut gehen kann …

Was soll ich sagen? Wenn es darum geht, die jüngere und jüngste deutsche Geschichte sowie die Gegenwart auf feinsinnige, intelligente und gleichzeitig unterhaltsam-fesselnde Weise zu literarisieren, dann ist Bernhard Schlink, man kann es nicht anders sagen, eine sichere Bank. Und dies gilt in besonderer Weise auch für seinen neuesten Roman „Die Enkelin“. Der besondere Reiz – ich möchte fast sagen: Zauber – von Schlinks Erzählkunst liegt in seiner Unaufgeregtheit, seiner feinen Beobachtungsgabe, seinem Blick für Details und kleine Facetten und nicht zuletzt in seiner Begabung, vielschichtige Figuren zu zeichnen. Wie in allen seinen Romanen gibt es auch in „Die Enkelin“ kein Schwarz und Weiß, kein eindeutiges Gut und Böse, keine einfachen oder gar vereinfachenden Antworten auf große Fragen, ebenso wenig gibt es ein fadenscheiniges Happyend – aber einen Schimmer von Hoffnung.

Ganz große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 06.11.2021

Ein in vielerlei Hinsicht phantastisches Leseerlebnis

Die nicht sterben
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„Nun will ich Ihnen aber die blutrünstige Geschichte erzählen, die sich in B. zugetragen hat; ich rufe ihn als Zeugen auf, meinen Vorfahren Vlad den Pfähler, dessen Blut in meinen Adern fließt.“ (33)

Es ...

„Nun will ich Ihnen aber die blutrünstige Geschichte erzählen, die sich in B. zugetragen hat; ich rufe ihn als Zeugen auf, meinen Vorfahren Vlad den Pfähler, dessen Blut in meinen Adern fließt.“ (33)

Es hat sich viel, sehr viel verändert, seit die namenlose Ich-Erzählerin das letzte Mal in B. gewesen ist, jenem kleinen Ferienort bei Transsylvanien, in der sie als Kind ihre Sommerferien verbrachte. Was ihr einst malerisch und idyllisch erschien, ist nun heruntergekommen, vernachlässigt, irgendwie geschrumpft. Die meisten jungen Menschen haben das Städtchen verlassen, suchen ihr Glück in verheißungsvolleren Ländern Europas.
Doch plötzlich rückt B. in den Fokus internationaler Aufmerksamkeit: In der Familiengruft der Erzählerin wird das Grab Vlads des Pfählers entdeckt, jenes sagenumwobenen Fürsten – und ihres Vorfahren, darauf ein grausam zugerichteter Leichnam. Der ebenso findige wie windige Bürgermeister wittert die Chance, damit B. zu seinem alten Glanz zu verhelfen: Ein „Dracula-Park“ soll neuen Aufschwung in die Gemeinde bringen. Während er nach Investoren sucht und in fiebrige Geschäftigkeit verfällt, geht in der Erzählerin eine merkwürdige Veränderung vor sich, die mit einem bizarren nächtlichen Besuch ihren Anfang nimmt. Sollte die Vampirlegende ihres Ahnen doch mehr sein als nur eine gespenstische Fantasie?

Dana Grigorceas „Die nicht sterben“ bietet ein außergewöhnliches Leseerlebnis. Meisterhaft verwebt die Autorin die Legenden einer längst vergangenen Zeit mit der jüngeren Geschichte Rumäniens und deren Folgen für die Gegenwart. Durch die poetische Sprache, den suggestive Erzählstil und die Vermischung unterschiedlicher Zeit- und Wahrnehmungsebenen scheint die Erzählung der Realität enthoben zu sein. Sie entzieht sich jeder Zeit- und Genrezuschreibung, ist teils Phantasmagorie und erinnert damit im besten Sinne an klassische Schauergeschichten, in denen unvermutet das Unerklärliche die Wahrnehmung der Wirklichkeit verzerrt; gleichzeitig bildet sie das nur allzu realistische gesellschaftliche Porträt eines postkommunistischen Staates mit seiner ganz eigenen Form des „Vampirismus“ ab.

Ganz große Leseempfehlung!

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