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Veröffentlicht am 05.01.2022

Fesselnde Lektüre

Q
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Die Vereinigten Staaten in einer nicht allzu fernen Zukunft: Eigentlich hat Elena keinen Grund zur Klage. Sie liebt ihren Beruf als Lehrerin, ihr Mann ist als Regierungsmitarbeiter überaus erfolgreich, ...

Die Vereinigten Staaten in einer nicht allzu fernen Zukunft: Eigentlich hat Elena keinen Grund zur Klage. Sie liebt ihren Beruf als Lehrerin, ihr Mann ist als Regierungsmitarbeiter überaus erfolgreich, die ältere Tochter Anne bringt Bestnoten nach Hause. Allein die jüngere Tochter Freddie tut sich etwas schwerer. Mit der Schule. Mit dem Leben. Das wäre im Grunde genommen kein Problem, wenn … ja, wenn es da nicht die „Kampagne für wertvollere Familien“ gäbe, eine Art Bildungs- und Sozialprogramm, bei dem jedem Menschen sein persönlicher „Q“-Wert zugeordnet wird, errechnet anhand der individuellen akademischen Leistung sowie dem sozialen Status. Allmonatlich werden die Leistungen in Tests überprüft: Wer besteht, bleibt auf seiner Schule, auf seinem Posten, in seinem Beruf, wer versagt, rutscht automatisch eine Kategorie tiefer. Und alle scheinen damit gut leben zu können – nun ja, zumindest alle, die einen hohen Q-Wert aufzuweisen haben.
Als Freddie eines Tages tatsächlich ihren Test nicht besteht und auf ein Internat der untersten Kategorie muss – Besuche sind während der gesamten Schulzeit verboten, selbstverständlich zum „Besten“ der Kinder –, kann Elena nicht länger die Augen vor der Grausamkeit dieses Systems verschließen. Und so setzt sie alles daran, ihre kleine Tochter zurückzubekommen – auch wenn das bedeutet, sich mit dem System selbst anzulegen.

Wie schon in ihrem Vorgängerroman „Vox“ entwirft Christine Dalcher in „Q“ eine Dystopie, die – wie jede überzeugende Dystopie – in mancherlei Hinsicht schaurig nah an der Wirklichkeit ist: Dass Entwicklungschancen von Kindern in nicht unerheblichem Maße von ihrem sozialen Milieu abhängen, dass, wer einmal „unten“ ist, nur schwer wieder hochkommt, ist in vielen Teilen der Welt die Realität. Christine Dalcher spinnt diese Realität weiter: Mittels des weit verbreiteten Narrativs, dass jeder etwas erreichen kann, wenn ersie sich nur ordentlich ins Zeug legt, Einsatzbereitschaft und Leistungswillen zeigt, legt sie schonungslos verbrämte Mechanismen offen, in denen man nur allzu sehr die Wirklichkeit widergespiegelt sieht.

Ich habe „Q“ förmlich verschlugen, von der ersten Seite an hat mich die Story in ihren Bann gezogen. Und wenngleich ich mit dem Ende etwas gefremdelt habe (es war mir persönlich in jeglicher Hinsicht etwas zu dick aufgetragen), kann ich die Lektüre nur empfehlen!

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Veröffentlicht am 05.01.2022

Solide Krimiunterhaltung

Neben wem du erwachst
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Es ist ein Alptraum, den Louise erlebt – nur dass sie nicht schläft, sondern soeben erwacht ist. Neben einem Mann. Einem ihr gänzlich unbekannten Mann. Und vor allem: einem toten Mann. An die vergangene ...

Es ist ein Alptraum, den Louise erlebt – nur dass sie nicht schläft, sondern soeben erwacht ist. Neben einem Mann. Einem ihr gänzlich unbekannten Mann. Und vor allem: einem toten Mann. An die vergangene Nacht hat sie – wieder einmal – allenfalls bruchstückhafte Erinnerungen, denn sie hat – wieder einmal – zu viel getrunken. Ihr Versuch, den Leichnam loszuwerden, gelingt ihr nur höchst unzureichend. Schnell gerät sie ins Visier der Ermittler und beschließt, dem tödlichen Rätsel selbst auf den Grund zu gehen. Was ist in jener schicksalshaften Nacht geschehen? Was hat ihre beste Freundin damit zu tun? War ihr Mann Niall tatsächlich, wie er behauptet, auf Geschäftsreise? Und wem kann sie überhaupt noch trauen?

„Neben wem du erwachst“ (aus dem Englischen von Sepp Leeb und Kristian Lutze) ist das, was ich einen soliden Krimi nenne: Auf verschiedenen Zeitebenen und unterschiedlichen Erzählperspektiven erzählt, zieht er seine Leserinnen rasch in seinen Bann. Mit jeder Seite werden die Lebenshintergründe, Umstände und zwischenmenschlichen Beziehungen undurchsichtiger und zwielichtiger, und früher oder später verdächtigt man als Leserin wirklich jede einzelne Figur. Das ideale Buch, um sich in einer spannenden – gleichwohl nicht allzu fordernden – Lektüre zu verlieren, perfekt für einen Lesenachmittag mit Tee und Wolldecke auf dem Sofa!

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Veröffentlicht am 01.12.2021

Trotz des ernsten Themas unterhaltsam

Das Buch der vergessenen Artisten
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Langweiler 1902. Das Dorf macht seinem Namen alle Ehre. Das findet zumindest der fünfzehnjährige, sensible Mathis, der nicht nur unter den Schikanen seines Vaters und seiner älteren Brüder, sondern auch ...

Langweiler 1902. Das Dorf macht seinem Namen alle Ehre. Das findet zumindest der fünfzehnjährige, sensible Mathis, der nicht nur unter den Schikanen seines Vaters und seiner älteren Brüder, sondern auch an einer Bohnenallergie leidet – miserable Zukunftsaussichten für den jüngsten Spross einer Bohnenbauerfamilie. Das ändert sich schlagartig, als er auf einem Jahrmarkt Meister Bo und dessen Attraktion, einen Röntgenapparat, sieht. Für Mathis steht fest: Genau das will er auch! Weg von Langweiler, hinaus in die weite Welt – oder wenigstens das, was er sich darunter vorstellt – von Jahrmarkt zu Jahrmarkt ziehen und vor allem: den Röntgenapparat bedienen.

Berlin, 1935. Nach mehr als 30 aufregenden Jahren als Schausteller ist Mathis in einer Wohnwagensiedlung in Berlin gestrandet, gemeinsam mit seiner Freundin, der „Kraftfrau“ Meta, und deren gehandicaptem Bruder. Die Zeiten sind denkbar düster für Artisten, Gaukler, Schausteller und alle, die nicht den neuen, menschenverachtenden Normen entsprechen. Die Aufträge werden rarer, die Lebenssituation zusehends prekärer, und immer öfter „verschwindet“ einer ihrer Nachbarn über Nacht, verschwindet aus ihrer Gemeinschaft, ihrem Leben – und irgendwann aus dem Gedächtnis. In dieser immer bedrohlicheren Situation beschließt Mathis, einen langgehegten Plan in die Tat umzusetzen: Er wird ein Buch schreiben, ein Buch über all jene, die schon verschwunden sind, an die man sich kaum noch erinnert – das Buch der vergessenen Artisten. Doch das ist ein gefährliches Unterfangen …

Mit seinen mehr als 750 Seiten ist „Das Buch der vergessenen Artisten“ ein wahrer Wälzer – indes einer, dessen Umfang man während der Lektüre kaum merkt, so fesselnd ist die auf zwei Zeitebenen erzählte Geschichte des Schaustellers Mathis. Vera Buck nimmt sich belletristisch – will sagen: unterhaltsam, ja beinahe leichtfüßig – eines dunklen Kapitels deutscher Geschichte an, ohne dabei den ernsten Hintergrund je aus den Augen zu verlieren oder ihn gar zu banalisieren. So gelingt es ihr, die Aufmerksamkeit auf eine von den Nationalsozialisten verfolgte Personengruppe zu lenken, deren Schicksal vermutlich vielen nicht allzu präsent sein dürfte. „Das Buch der vergessenen Artisten“ entführt seine Leser*innen in eine andere Zeit, eine andere Welt, und vor allem bewirkt es genau das, was sein Titel verheißt: Es erinnert an all die vergessenen Artisten. Für mich das perfekte Buch für lange Winterabende – und ein wunderbares Weihnachtsgeschenk für all jene, die gerne historische Romane lesen.

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Veröffentlicht am 17.11.2021

Spannend und vielschichtig

Der rote Raum
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Er ist, gelinde gesagt, bizarr, der Anblick, der sich Kommissarin Ingrid Nyström bietet: In einem luxuriösen Wohngebäude wird der grotesk zugerichtete Leichnam eines alleinstehenden, zurückgezogen lebenden ...

Er ist, gelinde gesagt, bizarr, der Anblick, der sich Kommissarin Ingrid Nyström bietet: In einem luxuriösen Wohngebäude wird der grotesk zugerichtete Leichnam eines alleinstehenden, zurückgezogen lebenden Informatikers gefunden. Dem Mann wurde das Herz entnommen und an dessen Stelle ein Stück seltenen Gesteins nicht-irdischen Ursprungs in den Brustkorb gelegt. Wie sich bald herausstellt, entkamen er und sein Bruder als Kinder nur knapp dem erweiterten Suizid seiner Eltern. Hat sein Bruder, der von dem traumatischen Erlebnis schwere geistige und seelische Schäden davongetragen hat und nun als kauziger Einsiedler im heruntergekommenen Elternhaus lebt, etwas mit dem Mord zu tun?
Zur gleichen Zeit verschlägt es Stina Forss, die nach dem letzten gemeinsamen Fall mit Ingrid nach Stockholm gezogen ist, nach Kiruna. Ein ebenso unbeliebter wie brutaler Automechaniker ist tot in seiner Werkstatt aufgefunden worden, begraben unter einer zusammengebrochenen Hebebühne. Die Werkstatt war von innen abgeschlossen, alle Fenster zu, von Fremdeinwirkung keine Spur – allem Anschein nach ein Unfall – wäre da nicht die fehlende Leber des Toten.
Hängen die beiden Fälle zusammen? Läuft ein psychopathischer Serienkiller durchs mittsommerliche Schweden, der seinen – gar willkürlich ausgewählten? – Opfern die Organe entnimmt, um – ja, was eigentlich? – damit zu tun? Ingrid und Stina beginnen, fieberhaft zu ermitteln: erstmals ohne einander und überdies mit ihren eigenen inneren Dämonen kämpfend.

„Der rote Raum“ ist der neunte Band der Krimireihe um die beiden Kommissarinnen Ingrid Nyström und Stina Forss – und, wie ich zugeben muss, mein erster. (Allerdings, so viel sei schon jetzt gesagt, nicht mein letzter!) Dem Autorenehepaar Voosen/Danielsson gelingt es vortrefflich, die kontrastreiche Atmosphäre zwischen dem sommerlichen, beschaulichen Småland einerseits und dem nordschwedischen Industriestandort Kiruna sowie den bizarren, verstörenden Begleitumständen der Mordfälle andererseits heraufzubeschwören, die in einem reizvollen Spannungsverhältnis zueinanderstehen. Zudem geben sie ihren Figuren den nötigen Raum, um ihren jeweiligen Charakter greifbar zu machen, ohne sich dabei in Details, Redundanzen oder Überflüssigem zu verlieren. Was mir ebenfalls ausgesprochen gut gefallen hat, war die Einbettung der Handlung in einen, nennen wir es, gesellschaftlich-schwedischen Zusammenhang: So wird Stina in Kiruna mit der Situation der Samen, ihrem geringen sozialen Status und den Vorurteilen und Diskriminierungen, denen sie sich oftmals ausgesetzt sehen, konfrontiert. Überhaupt wirkt der Roman in vielerlei Hinsicht sehr gut recherchiert, sodass ich neben der spannenden Story auch erstaunlich viele Denk- und Wissensimpulse erhielt, die übe reine gewöhnliche Krimilektüre weit hinausgehen. Mein einziger Wermutstropfen ist das Ende: Die Auflösung ist ohne jeden Zweifel überraschend und kreativ, wirkt dadurch aber leider auch etwas arg konstruiert. Nichtsdestotrotz bietet „Der rote Raum“ beste Krimiunterhaltung – und ich freue mich schon darauf, die übrigen Bände zu lesen.

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Veröffentlicht am 17.11.2021

Unterhaltsam, doch teilweise beklemmend

Frau Shibatas geniale Idee
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Frau Shibata hat ein abgeschlossenes Hochschulstudium. Frau Shibata verfügt über Berufserfahrung. Frau Shibata ist in keinerlei Hinsicht weniger qualifiziert, weniger erfahren, weniger belastbar als ihre ...

Frau Shibata hat ein abgeschlossenes Hochschulstudium. Frau Shibata verfügt über Berufserfahrung. Frau Shibata ist in keinerlei Hinsicht weniger qualifiziert, weniger erfahren, weniger belastbar als ihre – männlichen – Kollegen in der Verwaltung der Papierfabrik, in der sie arbeitet. Und doch ist es stets Frau Shibata, die unliebsame, lästige, anspruchslose Tätigkeiten in der Abteilung ausführen muss. Einzig, weil sie eine Frau ist. Als ihr eines Tages wieder einmal ein solcher Handlangerjob aufgetragen wird, platzt Frau Shibata – natürlich ganz leise und unbemerkt – der Kragen und ihr kommt die titelgebende geniale Idee: Frau Shibata weigert sich. Allerdings nicht als Akt offener Rebellion, sondern mittels einer Finte: Frau Shibata behauptet, schwanger zu sein. Und plötzlich gestaltet sich ihr Berufsleben vollkommen anders: Auf Frau Shibatas „Umstände“ wird Rücksicht genommen, die Aufgaben werden anders verteilt, Überstunden nicht mehr selbstverständlich vorausgesetzt. Da die Lüge nun einmal in der Welt ist, zieht Frau Shibata ihre vermeintliche Schwangerschaft gnadenlos durch, geht zur Schwangerschaftsgymnastik, findet unter den werdenden Müttern dort sogar Freundinnen. Plötzlich sieht sich die oftmals etwas einsame, von den meisten übersehene Frau Shibata in einer für sie gänzlich neuen Situation. Und eines ist klar: An ein Aussteigen oder gar Enthüllen der wahren Umstände ist nicht mehr zu denken, und Frau Shibata beginnt selbst an ihre Schwangerschaft zu glauben …

Die Grundidee von Emi Yagis Roman „Frau Shibatas geniale Idee“ (aus dem Japanischen von Luise Steggewetz) ist zweifellos äußerst reizvoll: Eine bis dato unauffällige junge Frau greift zu einer List, die nur ihr als Frau möglich ist, um sich im männlich dominierten Berufsumfeld zu behaupten, und ist dabei unbeirrbar. Emi Yagi erzählt die Geschichte ihrer Protagonistin auf eine hinreißend unaufgeregte und gleichzeitig eindringliche Art, die mich rasch in ihren Bann gezogen hat. Dabei gelingt es ihr, die patriarchalen Strukturen der japanischen Gesellschaft, ja die japanische Kultur ebenso subtil wie trocken zu charakterisieren. All das bereitete mir ein außerordentliches Lesevergnügen. Und doch las ich den Roman mit einer gewissen unterschwelligen Beklemmung ob des, sagen wir’s ehrlich, eigentlich unfassbaren Tricks, zu dem ihre Protagonistin greifen muss, um sich den Respekt zu verschaffen, den jeder Mensch verdient, um endlich als Person, als Mitarbeiterin, als Frau wahrgenommen, ernst genommen, für voll genommen zu werden. Das hatte für mich nur wenig mit dem diesem Roman vielerorts attestierten Feminismus zu tun, im Gegenteil. Desungeachtet ist „Frau Shibatas geniale Idee“ eine interessante Lektüre, die ihren Leser*innen nicht nur sehr gut unterhält, sondern auch auf betont leichtfüßige Art ein vielschichtiges, vielen vermutlich wenig vertrautes Gesellschaftssystem porträtiert.

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