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Veröffentlicht am 06.02.2022

Über die Wendungen des Lebens

Das Vorkommnis
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„Wir haben übrigens denselben Vater.“
Bei einer Lesung wird die Protagonistin des Romans mit diesen Worten von einer fremden Frau angesprochen und sieht zum ersten Mal in ihrem Leben die Halbschwester, ...

„Wir haben übrigens denselben Vater.“
Bei einer Lesung wird die Protagonistin des Romans mit diesen Worten von einer fremden Frau angesprochen und sieht zum ersten Mal in ihrem Leben die Halbschwester, mit der sie den Vater teilt. Spontan umarmt sie die Frau. Das Vorkommnis, wie sie das Aufeinandertreffen im Folgenden nennt, nimmt sie ein und löst ein emotionales Chaos in ihr aus, das von nun an ihr Leben mitbestimmt.

Es entsteht eine Verschiebung im Familiengefüge, obwohl die Protagonistin von der Halbschwester durchaus wusste. Denn einst fand die Mutter einen Zettel über gezahlte Alimente in der Jackentasche des Vaters. Dieser hatte während des Krieges ein sogenanntes „Bratkartoffelverhältnis“ zu einer älteren Frau. Die Tochter aus dieser Beziehung, von der er gar nicht mit Sicherheit wusste, ob sie seine war, wurde zur Adoption freigegeben.

Es ist dieses Schicksal der unbekannten Frau, das Bilder der eigenen Vergangenheit hervorruft. Aus dem Leben der Eltern, der Großeltern und schließlich aus der eigenen Kindheit in der DDR. Die Protagonistin beginnt, vieles mit neuen Augen zu betrachten, zu überdenken. Die Halbschwester, deren Schicksal und das Verhältnis der Protagonistin zu ihr, nehmen unbewusst und bewusst einen Platz in ihrem Alltag, in ihrem Denken und Fühlen ein. Das Schreiben dient dabei als Bewusstwerdung und Aufarbeitung der Ereignisse.

Julia Schoch erzählt auf reflektierte, kluge und sprachlich gewandte Art und Weise von Einzel- und Familienschicksalen, von Nähe und Entfremdung, von dem Aufwachsen in der DDR und von den Gräben, die der Krieg in die Leben der Menschen geschlagen hat.
Das Buch bildet den Auftakt zu einer Trilogie, in der es um das Leben einer Frau geht, und man kann auf die beiden noch folgenden Bände nur gespannt sein.

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Veröffentlicht am 28.09.2021

Eine kleine Lektion in Physik, angereichert mit einer Prise Fantasy

The Upper World – Ein Hauch Zukunft
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“Es brauchte schon eine beeindruckende Mischung aus Dämlichkeit und Pech, um mitten in einen Bandenkrieg zu geraten, obwohl man nicht einmal Mitglied einer Gang ist. Ich schaffte das in weniger als einer ...

“Es brauchte schon eine beeindruckende Mischung aus Dämlichkeit und Pech, um mitten in einen Bandenkrieg zu geraten, obwohl man nicht einmal Mitglied einer Gang ist. Ich schaffte das in weniger als einer Woche. Und das war noch vor der Sache mit dem Zeitreisen.”

So beginnt der Debütroman des Quantenphysikers Femi Fadugba. Sein Protagonist Esso ist wissbegierig, gut in Mathe und verliebt in Nadia. Er wächst in South London auf, wo Kriminalität und Kämpfe zwischen Gangs an der Tagesordnung stehen. Als Bloodshed, ein Junge aus einer anderen Gang, verprügelt wird, ist Esso zufällig dabei. Doch der große Bruder von Bloodshed, D, nimmt es Esso übel, dass er daneben gestanden und nicht eingegriffen hat. Nun besteht auch für Esso die Gefahr, ein Opfer von Gewalt und Bandenkriegen zu werden.

“Aber obwohl ich mich wirklich bemühte, mich von jeglichem Ärger fernzuhalten, obwohl ich meiner Mutter aus tiefster Seele versicherte, dass ich mich benehmen würde, tat der Ärger leider nicht dasselbe.”

Der Roman verbindet Essos Geschichte mit Rhias, die fünfzehn Jahre nach Essos stattfindet. Rhia wächst bei Pflegeeltern auf, spielt leidenschaftlich gerne Fußball und braucht einen Tutor in Mathe und Physik. Als Dr. Esso als ihr Nachhilfelehrer in ihr Leben tritt, erfährt Rhia nicht nur mehr über ihre eigene Vergangenheit, sondern muss sich auch die Frage stellen, ob sie das Vergangene verändern will.

Physik, Mathematik, Zeitreise, Fantasy und der Lebensalltag eines Jungen in einem Problemviertel. All das verbindet der Roman auf gekonnte Weise miteinander. Er mag besonders im Mittelteil einige Längen haben, aber das tut der Überzeugungskraft der Geschichte keinen Abbruch und lässt auch seine Charaktere nicht blasser erscheinen.

Wenn ihr also wie ich “Physik nach der Mittelstufe abgegeben hab[t] […]. Bei der erstbesten Gelegenheit”, wenn ihr noch nie zuvor von den Experimenten eines Michelson Marleys, Kennedy Thorndikes oder Ives Stillwells gehört habt, wenn es euch nicht schaden würde, euch den Satz des Pythgoras mal wieder ins Gedächtnis zu rufen und wenn ihr nichts gegen einen Mix aus Naturwissenschaft und Fantasy habt, dann liegt ihr mit diesem Buch goldrichtig!

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Veröffentlicht am 22.01.2024

Dystopische Zukunft

Hund 51
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Eine dystopische Zukunft. Ganz Griechenland befindet sich nach einer Staatspleite in den Händen eines Konzerns, der die Menschen unterdrückt. Zem Sparak ist deshalb geflohen, nach Magnapolis, eine Metropole, ...

Eine dystopische Zukunft. Ganz Griechenland befindet sich nach einer Staatspleite in den Händen eines Konzerns, der die Menschen unterdrückt. Zem Sparak ist deshalb geflohen, nach Magnapolis, eine Metropole, die in Zonen aufgeteilt ist. Wer in Zone 1 lebt, gehört zur Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie. In Zone 3 hingegen herrschen Armut und Ausbeutung. Einzige Hoffnung auf ein scheinbar besseres Leben bietet die Lotterie des TV Senders Destiny. Wer gewinnt, darf die Zone wechseln und bekommt einen Chip implantiert, der Gesundheit und ein langes Leben verspricht.

Das ist die Ausgangssituation in Laurent Gaudé Roman "Hund 51", der sich zwischen Genres bewegt und Elemente der Dystopie, des Krimis, Politthrillers und der Klimawandel-Literatur miteinander vereint. Er hat in mir ganz wilde Assoziationen ausgelöst, an The Hunger Games und The Dome ebenso wie an Brave New World.

Gaudé hat eine reiche Welt erschaffen, die vor lauter Details schillert und dem Lesenden eine abwechslungsreiche und spannende Lektüre bietet. Zumindest bis zum Ende, oder sagen wir, bis zum letzten Drittel des Romans. Da nehmen die Krimi- und Thrillerelemente nämlich überhand und drängen dabei so spannende Themen wie staatliche Überwachung, wirtschaftliche Monopole, Korruption in der Politik, die Unterdrückung von Gesellschaftsgruppen oder die Konsequenzen des Klimawandel in den Hintergrund. Das ist deshalb so schade, weil das für mich die Themen waren, die Substanz hatten. Und in der Hinsicht hat der Roman sein Potential leider nicht ganz ausgeschöpft. Er verliert sich zu sehr in seinem Anliegen, unterhalten zu wollen, schafft das aber zumindest auf den letzten Seiten sowieso nicht mehr.

Erzählerisch und eigentlich auch thematisch ein überzeugender Roman, wie man es von dem großartigen Laurent Gaudé erwarten würde. Es hätte nur eines weniger kon- und diffusen Endes bedurft..

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Veröffentlicht am 22.01.2024

Nicht ganz überzeugend

Das Tal der Blumen
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"Das Tal der Blumen" von Niviaq Korneliussen ist ein Roman aus Grönland und das, muss ich zugeben, hat mich sehr neugierig gemacht. Denn als ich darüber nachgedacht habe, welche grönländische Autorinnen ...

"Das Tal der Blumen" von Niviaq Korneliussen ist ein Roman aus Grönland und das, muss ich zugeben, hat mich sehr neugierig gemacht. Denn als ich darüber nachgedacht habe, welche grönländische Autorinnen und Autoren ich kenne, da ist mir niemand eingefallen.

Erwartet habe ich eine Geschichte über die Probleme von jungen Erwachsenen in Grönland. Ich wollte darüber lesen, was die Gründe für die hohen Selbstmordraten sind, wie die Gesellschaft damit umgeht und was es mit ihr macht.

Und all das erfährt man auch in "Das Tal der Blumen". Der Roman legt Missstände offen. Er zeigt zum Beispiel, dass die grönländischen Krankenhäuser Depressionen nicht ernst nehmen und nicht behandeln wollen, dass aber auch die Suizidhotline nur zu bestimmten Zeiten erreichbar ist und dann lediglich bis zum Dienstschluss in der Leitung bleibt und keine Minute länger. Die Jugendlichen werden vertröstet, von einem zum anderen geschickt. Niemand fühlt sich verantwortlich:

"Wir haben heute viele Patienten [...]. Ich würde vorschlagen, du erzählst das entweder jemandem, dem du vertraust, oder du fragst bei der Gemeinde nach, ob es dort einen Erwachsenen gibt, der dir helfen kann."

Die Kritik an den Strukturen, die nicht dazu beitragen, dass Suizidgefährdeten geholfen wird, trägt für mich die Geschichte. Aber jetzt kommt für mich der Wermutstropfen: Einige der anderen Elemente des Romans konnten mich leider weniger überzeugen. Die Beziehung der Protagonistin fand ich beispielsweise zu ausufernd. Sie hat einen zu großen Teil der Story eingenommen, ohne ihr dabei Tiefe zu verleihen. Viel lieber hätte ich stattdessen mehr über den Kulturschock gelesen, der ein Umzug nach Dänemark für Menschen aus Grönland bedeutet.

Das hat sicherlich auch dazu beigetragen, dass der Roman am Ende für mich an Kraft verloren hat. Trotzdem ist es ein Roman, den ich wegen des Eintauchens in ein ganz anderes Land und seine Kultur und wegen seines klaren Blicks auf die Probleme empfehlen möchte! Die Neugier verzeiht die eine oder andere Schwäche.

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Veröffentlicht am 30.09.2023

Außergewöhnliche Wohngemeinschaft zu Corona-Zeiten

The Marmalade Diaries
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Es ist die Corona-Zeit. Winnie, 85 Jahre alt und verwitwet, sucht jemanden, der ihr im Haus hilft. Ben, Anfang 30, kann sich die Mieten in London nicht leisten und meldet sich spontan. Das ungleiche Paar ...

Es ist die Corona-Zeit. Winnie, 85 Jahre alt und verwitwet, sucht jemanden, der ihr im Haus hilft. Ben, Anfang 30, kann sich die Mieten in London nicht leisten und meldet sich spontan. Das ungleiche Paar findet sich während der Pandemie mit ihren Ausgangssperren in einer Art Wohngemeinschaft wieder.

Die Ausgangsidee des Romans hat natürlich Potential: zwei Menschen unterschiedlicher Generationen leben zusammen, lernen voneinander usw. Das hat in der Literatur schon oft großartig funktioniert. Ein relativ neues Beispiel ist "Offene See" von Benjamin Myers.

Ben Aitkens Roman vermag jedoch leider nicht in jeder Hinsicht zu überzeugen. Auf mich wirkte das Erzählte irgendwann zu repetitiv und eintönig. Ben schreibt in seinem Tagebuch über das Alltagsleben der beiden, über das gemeinsame Kochen, über die Gartenarbeit, über alltägliche Aufgaben. Zunächst liest man das auch ganz gerne, aber dann verliert es doch sehr schnell seinen Reiz, weil es zu trivial ist. Es fehlt der Geschichte an Tiefe.

Einzig Winnie sticht in dem Ganzen durch ihre schrullige Art hervor. Sie gibt der Geschichte einen Touch vom Besonderen, aber leider reicht das alleine noch nicht aus, um den Roman zu einer wirklich lohnenswerten Lektüre zu machen.

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