Atemlos, spannend, düster - ein perfekter Krimi!
So kalt der SeeKriminalromane, die von Anfang bis Ende spannend sind, die den Leser so fesseln können, dass er alles um sich herum vergisst, so dass er gar nicht anders kann, als weiterzulesen, immer weiter, bis zum ...
Kriminalromane, die von Anfang bis Ende spannend sind, die den Leser so fesseln können, dass er alles um sich herum vergisst, so dass er gar nicht anders kann, als weiterzulesen, immer weiter, bis zum Ende, sind nicht häufig zu finden in dem mittlerweile unüberschaubaren Wust von Vertretern dieser Gattung, die alljährlich den Büchermarkt überfluten! Vielleicht wird man als eingefleischter Krimileser aber auch immer kritischer, immer wählerischer, immer schwerer zufriedenzustellen? Oder wird es auch guten Schriftstellern immer unmöglicher, etwas zu ersinnen, das nicht schon dagewesen ist, in den unterschiedlichsten Varianten und Güteklassen? Denn in der Tat, seitdem Edgar Allan Poe, der bekanntlich als Begründer der „Detektivgeschichten“ gilt, mit „Der Doppelmord in der Rue Morgue“ 1841 den ersten richtigen Krimi schrieb – fassen wir hier mal Werke der Weltliteratur von der Antike bis zu Zeiten eben jenes Amerikaners Poe, die kriminalliterarische Züge aufweisen, nicht als solchen auf! -, scheint es thematisch nichts Neues auf diesem Gebiet mehr zu geben, und alle Bemühungen um echte Originalität und die Thematisierung etwas noch nie Dagewesenen erscheinen mir zum Scheitern verurteilt. Vergebene Liebesmüh, die gar nicht erst in Angriff genommen werden sollte.
Die Kunst liegt vielmehr darin, aus Altbekanntem etwas ganz und gar Neues zu machen, es auf eine Weise zu konzipieren und zu erzählen, die anders ist, als man es kennt, nicht irgendwo abgekupfert oder jemandem nachgeahmt, sondern authentisch ist, eine ganz eigene Handschrift verrät und nicht ein Mischmasch ist aus Handschriften, die man in den 180 Jahren Kriminalromangeschichte kennengelernt hat.
Und diese schwierige Kunst – um endlich zu dem hier zu besprechenden Krimi zu kommen – beherrscht die Autorin Tina Schlegel auf eine Weise, für die ich ihr nichts anderes als höchstes Lob zollen muss! Dass sich jemand für etwas, das in der Vergangenheit geschehen ist, rächt und nach und nach die damals vermeintlich Schuldiggewordenen dahinmeuchelt – denn darum geht es hier -, ist beileibe nichts Neues. Jeder versierte Krimi- oder Detektivgeschichtenleser kennt das zur Genüge. Aber die Art und Weise, auf die die Autorin ihren Roman aufbaut, wie sie ihre Handlung sich entwickeln und entfalten lässt, Hintergründe langsam preisgibt und Einblicke in die Charaktere vermittelt, um schließlich in einem furiosen Finale die Spannung eskalieren und den Leser tief, wenn auch nicht unbedingt erleichtert, ausatmen zu lassen – die ist nirgendwo abgeschaut, bei keinem anderen Krimiautor entliehen! Sie ist ganz eigen, ganz und gar Tina Schlegel, so kann ich nur mutmaßen, denn ihr Bodenseekrimi „So kalt der See“ ist der erste Roman, den ich von ihr gelesen habe. Dass es gewiss nicht der letzte bleiben wird, soll nur nebenbei erwähnt werden....
Was aber macht ihn, immer nach meinem subjektiven Empfinden freilich, so besonders? Der rote Faden, der den Leser von der ersten bis zur letzten Seite durch die düstere, erschreckende, verstörende und zum Nachdenken bringende Geschichte führt, ist etwas, was ich bei jedem guten Roman, ob Krimi oder nicht, voraussetze. Spannung sowieso, wenn sie sich steigert – wie das hier der Fall ist -, umso besser! Oft scheitert es, auch gelegentlich in guten Krimis, an der Logik – hier nicht! Alles ist nachvollziehbar, folgerichtig, die Auflösung ist hieb- und stichfest und lässt keine Fragen offen – etwas, das ich nur selten bei Krimis erlebe, nehmen wir diejenigen aus der Feder der Großen dieses Genres, von Dame Agatha Christie, Dorothy L. Sayers und P. D. James, die mich grundsätzlich höchst befriedigen, einmal aus.
Sogar das, was sich in den allermeisten Kriminalromanen leicht als Schwachpunkt erweisen kann, nämlich die Einschaltung unterschiedlicher Perspektiven, das Erzählen auf mehreren Ebenen, ist in Tina Schlegels zweitem Bodenseekrimi um die Polizistin Cora Merlin und ihr Team mich völlig zufriedenstellend umgesetzt und erwies sich gar als wichtiges Spannungselement. Das zeichnet handwerkliches Können aus, das meines Erachtens das A und O eines jeden Schriftstellers sein muss, um ihn als solchen bezeichnen zu können – und hierzu gehört selbstredend auch eine korrekte Verwendung der Sprache, ohne grammatikalische oder orthographische Entgleisungen. Wobei ich allerdings immer öfter den Eindruck gewinne, dass solche 'Kleinigkeiten' ruhig vernachlässigt werden können! Nicht für mich und offensichtlich auch nicht für Tina Schlegel, die sich keine derartigen Unachtsamkeiten zuschulden kommen gelassen hat. Im Gegenteil ist ihre Sprache so makellos wie der gesamte Kriminalroman.
Was diesen aber schließlich besonders auszeichnet sind die Charaktere, die sie ersonnen hat! Sie sind einfühlsam und sorgfältig gezeichnet und die wahren Handlungsträger. Cora Merlin und ihre Kollegen Christian, Thomas und Matthias, Ermittler bei der Polizei Lindau, sind mit dem Fall um unerklärliche Tötungen nebst der Entführung eines kleinen Mädchens betraut und stehen mit ihrem Chef Emmenbach im Mittelpunkt der Ermittlungen, aber wohlweislich nicht der Handlung, worauf ich im Folgenden noch zu sprechen kommen werde. Ihr Zusammenspiel ist ein Kaleidoskop an menschlichen Verhaltensmustern, geprägt von Ethik, Vertrauen, Verständnis und wahrer Kollegialität, die auch unverständliche Entscheidungen, gegensätzliche Meinungen, sogar Verfehlungen mühelos tragen kann. So unterschiedlich die Einsatztruppe ist, so steht doch jeder für den anderen ein. Von Konkurrenzdenken keine Spur, individuelle Befindlichkeiten bleiben angesichts der fieberhaften Suche nach dem Kind, von dem man nicht weiß, ob es überhaupt noch am Leben ist, außen vor.
Nebenbei verrät der Roman eine Menge über Polizeiarbeit im Allgemeinen, so etwa über die Schwierigkeiten, die notwendigen Durchsuchungsbefehle zu erhalten, über das Prozedere, das in Gang gesetzt wird bei Ermittlungen zu Fällen, bei denen Gefahr im Verzuge ist und bei denen mit Hochdruck, rund um die Uhr und unter Einbeziehung aller verfügbaren Polizeibeamten gearbeitet werden muss. Von schleppender Polizeiarbeit, die man den Vertretern von Recht und Ordnung in gewissen Kreisen gerne nachsagt, kann – und das halte ich für realistisch – überhaupt keine Rede sein!
Doch obschon die Ermittler die Handlungsträger sind, obschon ihre Beziehungen untereinander genauso thematisiert werden wie sich an die sehr ungewöhnliche Hauptperson Cora Merlin angenähert wird, wie weite Teile des Geschehens aus ihrem Blickwinkel beleuchtet werden – der fein ausgeklügelte Kriminalfall selbst ist genau da, wo er hingehört! Er ist das Zentrum des Geschehens, der Dreh- und Angelpunkt. Zu keinem Zeitpunkt wird er zugunsten eines gewiss verführerischen längeren Exkurses in die Privatsphäre der Ermittler vernachlässigt. Deren Befinden muss warten – was, wie man gleich mehrere Male erleben muss, nachteilige, vielleicht sogar verhängnisvolle Folgen hat. Doch soll an dieser Stelle, der Komplexität des Romans geschuldet, darauf nicht näher eingegangen werden. Vielmehr schließe ich nun meine Ausführungen – und es bleibt mir nur noch, Tina Schlegels Werk allen Liebhabern anspruchsvoller Kriminalliteratur allerwärmstens ans Herz zu legen!