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Veröffentlicht am 02.05.2022

Leise, treffend und ein großer Spaß

Mädchen auf den Felsen
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Dieses Buch ist hinterhältig. Es schleicht sich an und gibt vor, lustig zu sein, lullt den Leser ein, der dann kaum bemerkt, dass das dicke Ende ein dickes Ende war. Ich habe den letzten Teil zweimal gehört, ...

Dieses Buch ist hinterhältig. Es schleicht sich an und gibt vor, lustig zu sein, lullt den Leser ein, der dann kaum bemerkt, dass das dicke Ende ein dickes Ende war. Ich habe den letzten Teil zweimal gehört, bis ich glauben konnte, was ich da hörte.

Auf den ersten Blick ist es ein großer Spaß. Wir sind in England, wild romantisch an der Küste, man geht zum Strand und legt das Korsett ab, wenn keiner guckt. Lydia meinte, das große Los gezogen zu haben, als sie die Anstellung als Mädchen im respektablen Haushalt der Familie March bekam.

„Er und seine Frau gehörten den Primal Saints an und sie verbrachten den Großteil ihrer freien Zeit in der Primal Hall in der Turner Street, einer wirklich unangenehmen Straße in Pflaume, Sandstein und Stille.“

Was köstliche Formulierung, denkt man, aber die Autorin hat gerade erst Luft geholt.

„Zweimal am Sonntag und an einem Abend in der Woche erhob March sein vorsichtiges kleines Gesicht zu seinem Gott und die unwahrscheinliche Lautstärke seiner Gebete erstickte jedes Geräusch, das vom Imbiss oder der Kneipe um die Ecke kam. Keine leere Pommestüte wage es, sich durch die Turner Street entlangwehen zu lassen, wenn March für diejenigen betete, die lieber Pommes essend am Geländer lehnten, als über die Ewigkeit nachzudenken.“

Da kann man doch nur noch vor Ehrfurcht erschauern.

Mit sanfter Ironie und nur ein klein wenig despektierlich seziert Jane Gardam eine Gesellschaft, malt ein treffendes Sittenbild, kreiert Typen, die originell und trotzdem so typisch sind. Es geht um Standesdünkel, Bigotterie, die englische Gesellschaft, die geheiligte Teatime und die Ignoranz von Erwachsenen, die so mit ihren Angelegenheiten beschäftigt sind, dass sie vergessen, nach den Kindern zu sehen.

Dieses Buch ist große Kunst ohne Wortakrobatik, ohne Pomp, ohne Kitsch, schlicht, elegant, ein klein wenig böse und dabei durch und durch liebevoll.

Das Hörbuch wird von Leslie Malton engagiert gelesen, man sollte nur das Tempo ein klein wenig anziehen. Es dauert 6 Stunden, 15 Minuten.

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Veröffentlicht am 20.03.2022

Diplomatie für Fortgeschrittene

Die Diplomatin
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Was machen eigentlich Botschafter genau? Das ist eine Berufsgruppe, mit der man selten zu tun hat und die man nicht wahrnimmt, wenn sie nicht gerade Reisehinweise verfassen. Wie aufreibend, verantwortungsvoll ...

Was machen eigentlich Botschafter genau? Das ist eine Berufsgruppe, mit der man selten zu tun hat und die man nicht wahrnimmt, wenn sie nicht gerade Reisehinweise verfassen. Wie aufreibend, verantwortungsvoll und gefährlich so ein Job ist, zeigt uns Lucy Fricke in diesem Buch.

Fred ist schon seit Jahren Konsulin und kennt sich aus. In ihrer Branche wechselt man alle vier Jahr das Land. Ihr Posten im beschaulichen Montevideo scheint etwas zum Ausruhen zu sein.

Mit köstlichem Humor beschreibt die Autorin das Leben und Lebenlassen in Uruguay, einem Land, das irgendwas zwischen kuschelig und kurios ist. Herrlich zu lesen, wie sich die deutsche Botschaft damit arrangiert, bis ein unglücklicher Zwischenfall erfordert, dass jemand Verantwortung übernimmt. Auch das ist ein Aspekt von Freds Beruf.

Jahre später bekommt sie den Posten in Istanbul und da geht es anders zu. Hier ist dann echte Diplomatie gefragt, wenn einen ein falsches Wort ins Gefängnis bringen kann, Deutsche aus unterschiedlichsten Gründen in Schwierigkeiten geraten und Hilfe von der deutschen Botschaft erwarten. Ein Tanz auf dem Drahtseil. Fred muss plötzlich abwägen, was nötig, was legal und was sinnvoll ist. Und sie selbst ist auch nicht aus Stein.

Dieses Buch ist viel zugleich, ein eindrucksvolles Berufsportrait, beinahe ein Thriller, ein kritischer Blick in die Türkei, die Geschichte einer Frau, die sich in einer Männerdomäne behauptet, wobei auch das Zusammenspiel von Karrierewunsch, Älterwerden, Liebe und Einsamkeit im Alter kommt zum Tragen kommt. Es ist einfühlsam und auch urkomisch, ergreifend und staubtrocken, spannend und originell.

Bettina Hoppe ist eine geniale Sprecherin für das Hörbuch und trifft ganz wunderbar den maliziösen Ton des Textes, ein großer Spaß und ein Erlebnis. Es dauert 5 Stunden, 1 Minute. Ich hätte auch mehr davon vertragen.

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Veröffentlicht am 23.02.2022

Ein Geniestreich

Tell
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Die Geschichte von Wilhelm Tell hat kennt man vielleicht, hat man auf der Bühne gesehen, mehrfach gelesen, gibt es ein Musical? Auf jeden Fall hat man sie noch nicht wirklich miterlebt, bis man dieses ...

Die Geschichte von Wilhelm Tell hat kennt man vielleicht, hat man auf der Bühne gesehen, mehrfach gelesen, gibt es ein Musical? Auf jeden Fall hat man sie noch nicht wirklich miterlebt, bis man dieses Buch gelesen hat.
In lustig altertümelnder Sprache erzählen hier alle Betroffenen persönlich, wie sie die Geschehnisse um Tell und den Apfel erlebt haben, Tells Familie, Nachbarn, der Pfarrer, einige Soldaten und sogar Gessler, der Landvogt, der Blick wechselt ständig. Es ist ein bisschen wie ein Staffellauf, nach zwei-drei Seiten gibt man das Stöckchen an den nächsten weiter. Das ist anfangs gewöhnungsbedürftig, man muss gut aufpassen, aber es macht Spaß und das Leseerlebnis sehr intensiv.
Es ist erschütternd, wenn man dabei ist, wie betrunkene Habsburger sich durchs Land schlagen, schrecklich, was die einfache Bevölkerung in der Schweiz zu erleiden hatte, herzzerreißend jedes einzelne Schicksal. Dieses Buch entwickelt nach kürzester Zeit Sogwirkung, man kann es nicht mehr aus der Hand legen, ist mittendrin und leidet mit.
Joachim B. Schmidt ist hier ein Geniestreich gelungen. Er schafft es bewundernswert, sich in jede einzelne Figur glaubhaft einzufühlen, verleiht auch der kleinsten Randfigur ein Gesicht und einen Hintergrund und das auf nur 288 Seiten. Dazu vermittelt er eindrucksvoll das Ambiente und den Zeitgeist, Mittelalter in der Schweiz, pur und authentisch, großes Kino!
Und letztlich wird auch nicht nur eine Geschichte erzählt. Man bekommt außerdem vorgeführt, wie Legenden entstehen, wie ein eigenbrötlerischer Bergbauer zum Helden werden kann, den heute noch jeder kennt.
Ich bin tief beeindruckt und würde gerne sieben Sterne verteilen für ein absolutes Ausnahmebuch mit Schleife und Glöckchen.

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Veröffentlicht am 19.02.2022

Großes Kino

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße
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Dieses Buch ist ein großer Spaß.

Zum 30. Jahrestag des Mauerfalls will man Spektakuläres bieten. Ein Held muss her, am besten ein unbekannter. War da nicht was mit einer Massenflucht? Michael Hartung ...

Dieses Buch ist ein großer Spaß.

Zum 30. Jahrestag des Mauerfalls will man Spektakuläres bieten. Ein Held muss her, am besten ein unbekannter. War da nicht was mit einer Massenflucht? Michael Hartung könnte dieser neue Held sein, findet ein Journalist. Natürlich hat Hartung damals das Stellwerk so beeinflusst, dass ein Zug unerlaubt in den Westen fuhr, aber es war ein Unfall. Der Presse ist das egal.

„Geschichte ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat“

Wunderbar humorvoll wird hier die Geschichte eines unfreiwilligen Helden erzählt, der unbeholfen aber sympathisch ist und in eine Situation gerät, die immer absurder wird. Dabei wir auch einiges an Ost-West-Problematik aufgearbeitet:

„Er fand es seltsam, dass diese ganzen laktoseintoleranten Rotzgören einschließlich ihrer nervigen Eltern die gute alte Vollmilch ja quasi zum Gift erklärt hatten. Wischnewski würde jede Wette eingehen, dass es Laktoseintoleranz in der DDR nicht gegeben hatte. Es hatte jede Menge andere Formen von Intoleranz gegeben, das schon, aber wegen eines Viertelliters Milch hatte sich doch im Osten niemand ins Hemd gemacht.“

Es wird philosophiert, analysiert und auch die ein oder andere Wahrheit ausgesprochen:

„Freiheit, hören Sie doch auf mit diesem Quatsch. Wer will denn wirklich frei sein? Warum arbeiten die Menschen ewig lange im selben Betrieb? Warum heiraten sie? Warum schaffen sie sich einen kleinen Garten an, in den sie dann jedes verdammte Wochenende fahren. Warum buchen sie ihr Ferienhaus an der Ostsee schon ein Jahr im Voraus? Weil sie frei sein wollen?“

Und obwohl man sich eingelebt und es sich in der Schublade mit niveauvollem Humor schön bequem gemacht hatte, mausert sich das Ganze sogar noch unerwartet zu einer anrührenden Geschichte, die ans Herz geht. Großes Kino!

Der Sprecher des Hörbuchs ist auch eine Entdeckung. Seine Stimme ist zunächst etwas gewöhnungsbedürftig, aber man gewöhnt sich erstaunlich schnell daran und dann passt sie ganz wunderbar zu Hartung, dem Helden vom Bahnhof Friedrichstraße.

Tolles Buch, tolles Hörbuch, dicke Empfehlung!

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Veröffentlicht am 14.02.2022

Von Schein und Sein

Die Gezeiten gehören uns
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Über dieses Buch bin ich durch Zufall gestolpert und habe eine Autorin entdeckt, die ich mir merken werde.

Wir sind in Sea Cliff, der noblen Ecke von San Franzisco, irgendwann in den 80ern. Dort wird ...

Über dieses Buch bin ich durch Zufall gestolpert und habe eine Autorin entdeckt, die ich mir merken werde.

Wir sind in Sea Cliff, der noblen Ecke von San Franzisco, irgendwann in den 80ern. Dort wird der Grundstückswert nach der Aussicht bemessen, Meer, Golden Gate Bride oder beides. Und da gehen die Mädchen in Uniform zur Privatschule, auch die 13järige Eulabee und ihre neue Freundin.

Erst meint man, man liest eine simple Schulgeschichte über Teenager und ihre Befindlichkeiten, die angesagten Mädchen und Familien, ein Thema, das wohl schon in reichlich Fernsehserien verarbeitet worden ist. Der Erzählstil hebt es aber auf eine deutlich andere Ebene.

„Maria Fabiola ist eine Bemerkerin, aber auch eine Lacherin. Sie hat ein Lachen, das in ihrem Brustkorb anfängt und wie Flötentöne aus ihrem Mund kommt. Sie ist bekannt für ihr Lachen, weil es das ist, was die Leute ein ansteckendes Lachen nennen, aber ihres funktioniert anders. Ihr Lachen ist ein Lachen, das einen deswegen zum Mitlachen zwingt, weil man nicht will, dass sie alleine lacht.“

Ganz großes Kino!

Wer zählt wie viel und warum, wird hier messerscharf analysiert. Das Lesen ist ein großer Spaß, bis man dann unversehens in einem veritablen Psychodrama landet. Es geht um Schein und Sein, was passiert, wenn jemand an der schönen Fassade kratzt und die Fakten nicht zum Image passen? Eulabee gerät ins Abseits, als sie es wagt, Marie Fabiolas Behauptungen zu widersprechen.

Sie muss erleben, welch üble Auswirkungen Snobismus, Mobbing und Vorurteile haben können und auch wenn hier Schulkinder im Fokus stehen, ist es auch ein Blick auf die amerikanische Gesellschaft generell.

Natürlich ist das Thema dieses Buches nicht neu, aber es ist noch immer aktuell, weshalb es wohl auch noch immer nötig ist, darauf hinzuweisen. Hier wird es höchst unterhaltsam und anrührend präsentiert, ein tolles Buch, das ich gerne empfehle.

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