Profilbild von Havers

Havers

Lesejury Star
offline

Havers ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Havers über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 08.04.2022

Ein vergessenes Leben

Der große Fehler
0

Jonathan Lee, ein englischer Autor, den ich seit „High Dive“ (Roman über das Attentat auf Margaret Thatcher 1984 in Brighton) sehr schätze, hat diesmal sowohl den Kontinent als auch den zeitlichen Rahmen ...

Jonathan Lee, ein englischer Autor, den ich seit „High Dive“ (Roman über das Attentat auf Margaret Thatcher 1984 in Brighton) sehr schätze, hat diesmal sowohl den Kontinent als auch den zeitlichen Rahmen gewechselt. In „Der große Fehler“ macht er uns mit einem außergewöhnlichen Mann bekannt, Andrew Haswell Green (1820 – 1903), Anwalt, Bürgerrechtler, Philanthrop, aber auch Planer und Unterstützer der städtebaulichen Entwicklung und Veränderung New Yorks. Die New York Public Library, der Bronx Zoo, zahlreiche Parks, die diversen großen Museen, und nicht zuletzt der Central Park gehen auf sein Konto.

Der Romanbeginn ist gleichzeitig Greens Ende. Als er um die Mittagszeit zu seinem Haus zurückkehrt, fallen fünf Schüsse und treffen ihn tödlich. Zwischen Täter und Opfer gibt es keine Beziehung, die beiden sind sich gänzlich unbekannt. War es ein Versehen? Die Suche nach dem Motiv ist wohl das Zugeständnis des Autors an die Spannungsleser und die Klammer, die diese Geschichte zusammenhält, was aber nur deshalb interessant ist, da durch die Herkunft des Täters der PoC Aspekt ein Randthema des Romans wird.

Lee möchte die Geschichte Greens erzählen, das Wesen dieses vergessenen Giganten ergründen. Er springt zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her, schaut sich dessen entbehrungsreiche Kindheit auf einer ärmlichen Farm an, seinen Umzug nach New York, wo er als Lehrling in einem Gemischtwarenladen arbeitet, danach die Ausbildung zum Anwalt, seine enge Freundschaft mit Samuel Tilden, dem Gouverneur von New York und Präsidentschaftskandidaten, dem er sein Leben lang die Treue hält. Die Beschreibung des damaligen New York hingegen ist interessant und ungewöhnlich, streifen doch Schweineherden und wilde Hunde durch die Straßen, wobei auf die Erlegung letzterer Kopfgelder ausgesetzt sind.

Ein knappes Jahrhundert amerikanisches Leben, klingt interessant, aber leider liest sich der Roman anstrengend, ist sperrig, zumal auch der Spannungsbogen von Anfang bis Ende flach bleibt. Die Umstände von Greens Tod kann man recherchieren, ebenso das Motiv des Täters, das in seiner Banalität enttäuschend ist. Interessant finde ich lediglich die Anleihen des Autors bei den großen Namen der amerikanischen Literatur, die immer wieder in den Beschreibungen durchscheinen: Fitzgerald, Steinbeck und Sinclair, um nur einige zu nennen. Kann man lesen, muss man aber nicht.

Veröffentlicht am 13.03.2022

Neues aus Down Under

Der zweite Sohn
0

Loraine Peck taucht mit ihrem Debüt, für das sie 2021 mit dem Ned Kelly Award ausgezeichnet wurde, in die Unterwelt von Sydney ein, in der Rivalitäten zwischen Serben und Kroaten ihre Fortsetzung finden. ...

Loraine Peck taucht mit ihrem Debüt, für das sie 2021 mit dem Ned Kelly Award ausgezeichnet wurde, in die Unterwelt von Sydney ein, in der Rivalitäten zwischen Serben und Kroaten ihre Fortsetzung finden. Auf beiden Seiten gibt es alte Rechnungen, die darauf warten, beglichen zu werden.

Ivan, Milans Erstgeborener und zukünftiger Nachfolger des kroatischen Clan-Chefs, ist tot, wird vor seinem Haus in Sydney erschossen, als er seinen Müll in die Tonne kippt. Eine Vergeltung und Provokation der Serben, die sein Vater nicht unbeantwortet lassen kann. Es ist eine Frage der Ehre und Johnny, „Der zweite Sohn“, soll seinen Bruder rächen. Aber dieser ist nicht für das Familiengeschäft gemacht, will viel lieber mit seiner Frau Amy und seinem Sohn Sasha wie eine normale Familie in Frieden leben. Zumal ihn Zweifel an der Herkunft des Täters kommen, als sich weitere Morde ereignen. Wer hat ein Interesse daran, die beiden Banden gegeneinander aufzubringen? Johnny fasst einen Plan, wie er nicht nur diese Frage klären sondern sich auch noch ohne großes Aufsehen aus dem kriminellen Milieu verabschieden kann.

Peck lässt uns abwechselnd aus zwei unterschiedlichen Perspektiven einen Blick auf die Ereignisse werfen. Zum einen ist das natürlich Johnny, seine Herkunftsfamilie, der er Loyalität schuldet, aber auch dessen Sehnsucht nach einem ruhigen, unspektakulären Leben Frau und Kind. Amy hingegen ist die Außenseiterin, die Australierin, die eingeheiratet hat, nicht dazugehört und deshalb auch mit kritischem Blick beobachtet, was in dieser Familie vor sich geht, weshalb sie am liebsten mit Johnny und Sasha weit weg von Sydney neu anfangen möchte.

Die Handlung ist zwar im Clan-Milieu angesiedelt, aber dafür war mir dieser angebliche Thriller viel zu zahm, hatte eher etwas von einem Roman über eine Einwanderfamilie, die im neuen Leben nicht heimisch geworden ist und noch immer Traumata aus der Vergangenheit mit sich herumschleppt. Dass Frauen in Gangsterkreisen üblicherweise nichts zu melden haben, ist klar, schließlich muss sich ja jemand um die Kinder und den Haushalt kümmern (Ironie aus). Aber dass Amy, das naive Dummchen, eines Tages aufwacht und völlig schockiert darüber ist, dass sowohl ihr Mann als auch dessen Familie ihren Lebensunterhalt mit kriminellen Geschäften finanzieren…sorry, aber das scheint mir dann doch zu weit hergeholt.

Als Thriller funktioniert der Roman nur bedingt, und auch für einen Whodunit ist die Story zu durchsichtig. Ivans Killer hatte ich recht schnell auf dem Schirm, lediglich über das Motiv musste ich etwas länger rätseln. Kann man lesen, muss man aber nicht.

Veröffentlicht am 12.03.2022

Quo vadis, Schwedenkrimi?

Fuchsmädchen
0

Die Leiche einer Vierzehnjährigen wird mit aufgeschnittenen Pulsadern in einem stillgelegten Kalksteinbruch aufgefunden, in den Haaren Reste einer Schnur, auf dem Körper mit Filzstift die Zahl 26 aufgemalt. ...

Die Leiche einer Vierzehnjährigen wird mit aufgeschnittenen Pulsadern in einem stillgelegten Kalksteinbruch aufgefunden, in den Haaren Reste einer Schnur, auf dem Körper mit Filzstift die Zahl 26 aufgemalt. Außerdem treibt am Fundort eine Fuchsmaske im Wasser. Kurz darauf taucht die nächste Maske an einem weiteren Leichenfundort auf, wobei das Opfer, eine ältere Antiquarin, eine kreuzförmige Wunde am Hals hat. Die Maske lässt vermuten, dass es einen Zusammenhang der beiden Fälle gibt und ein Serienmörder sein Unwesen treibt.

Sanna Berling und Eir Pedersen bekommen den Fall zugewiesen, zwei Ermittlerinnen, die dem Handbuch für die Darstellung kaputter schwedischer Polizeibeamten entsprungen sein könnten. Sanna wohnt in einem Lagercontainer, ist tablettenabhängig und trauert um Mann und Kind, beide Opfer einer Brandkatastrophe. Eir ist frisch im Team, strafversetzt, hat ein Problem mit ihrer Impulskontrolle und eine drogenabhängige Schwester, um die sie sich kümmert. So weit, so bekannt, alles schon einmal gelesen. Und auch die Auflösung des Falles strotzt jetzt nicht wirklich vor Originalität, sondern erfüllt im Großen und Ganzen die Klischees des Genres, wobei offenbar der religiöse Fanatismus besonders in den ländlichen Gegenden Schwedens auf fruchtbaren Boden zu fallen scheint.

Mit Wehmut denke ich an Sjöwall/Wahlöö und Mankell zurück, denn schwedische Kriminalromane waren lange Zeit ein Garant für spannende Unterhaltung. Düstere Atmosphäre, kantige Ermittler und ein Mordfall, der oft durch gesellschaftlichen Veränderungen beeinflusst war. Aber leider auch ein Erfolgskonzept, das zu einer Goldgräberstimmung in der Buchbranche führte und den Markt mit den Krimis/Thrillern aus dem hohen Norden flutete. Ohne Rücksicht wurde alles veröffentlicht, solange es nur aus Skandinavien kam. Darunter hat die Qualität gelitten, und so gibt es Stand jetzt, wie auch im vorliegenden Thriller, kaum noch einen Unterschied zu der üblichen Massenware, die weder überzeugen noch überraschen kann.

Veröffentlicht am 17.12.2021

Langatmig und verwirrend

Der Uhrmacher in der Filigree Street
0

Gaslicht, Nebelschwaden und mechanische Erfindungen, dazu eine Bombenexplosion. Das alles verortet im London des Jahres 1883, so dass dieser viktorianische Hintergrund die optimalen Voraussetzungen für ...

Gaslicht, Nebelschwaden und mechanische Erfindungen, dazu eine Bombenexplosion. Das alles verortet im London des Jahres 1883, so dass dieser viktorianische Hintergrund die optimalen Voraussetzungen für einen interessanten Steampunk-Roman bietet. Die Frage ist nur, ob „Der Uhrmacher in der Filigree Street“ dieses Versprechen einlösen kann.

Die Handlung ist um eine geheimnisvolle Taschenuhr und drei Hauptfiguren herum aufgebaut: Nathaniel Steepleton, ein kleiner Angestellter im Innenministerium, der sich um die Übermittlung der ein- und ausgehenden Nachrichten kümmert. Grace Carrow, eine unkonventionelle Physikstudentin an Oxfords neuem College für Frauen. Herr Mori, ein exzentrischer japanischer Uhrmacher mit besonderen Fähigkeiten. Verbunden wird dies durch den Bombenanschlag auf Scotland Yard, bei dem die Taschenuhr eine nicht unwesentliche Rolle spielt, und der offenbar auf das Konto der Fenier, einer Geheimorganisation, die für ein unabhängiges Irland kämpft, geht. Doch wer hat die Bombe gebaut, und was hat die Taschenuhr damit zu tun? Jetzt könnte ein Sherlock Holmes von Nutzen sein, der deduktiv und für die Leser*innen nachvollziehbar den Hintergrund dieses Ereignisses aufklärt.

Aber leider fehlt eine solche Figur, die Tempo und Spannung in die Handlung gebracht hätte. Zwar verbindet die Autorin die Geschichten der Figuren, schlägt aber immer wieder völlig überflüssige Haken, gibt Informationen, die für den Fortgang der Handlung keinerlei Relevanz haben und deren Sinn sich nicht erschließt. So wird aus diesem Erstling eine langatmige, verwirrende, mit Banalitäten überhäufte pseudo-philosophische Abhandlung über Zufall, Schicksal und Vorbestimmung als ein atmosphärischer und spannender Steampunk-Roman.

Veröffentlicht am 16.12.2021

Über das Überleben in schwierigen Zeiten

Die Übersetzerin
0

Handlungsort des Romans von Jenny Lecoat, zu dem sie sich durch ihre eigene Familiengeschichte inspirieren ließ, ist die Kanalinsel Jersey, und wahrscheinlich sind die wenigsten Leser*innen mit deren jüngere ...

Handlungsort des Romans von Jenny Lecoat, zu dem sie sich durch ihre eigene Familiengeschichte inspirieren ließ, ist die Kanalinsel Jersey, und wahrscheinlich sind die wenigsten Leser*innen mit deren jüngere Geschichte vertraut. Mir war zumindest bis zu einem Urlaub vor vielen Jahren nicht bekannt, dass Jersey das einzige britische Gebiet war, das im Zweiten Weltkrieg von den Nationalsozialisten besetzt wurde. Bis heute zeugen davon die baulichen Überreste von Bunkern, Wachtürmen etc., die dem Atlantikwall zuzurechnen sind. Der Plan, Jersey als Basis zu benutzen, um von dort über die englische Südküste Großbritannien zu erobern, misslang glücklicherweise.

Im Zentrum der Handlung steht Hedy Bercu, eine österreichische Jüdin, die 1938 aus Wien nach Jersey flüchtet, um der Deportation zu entgehen. Wirklich willkommen ist sie, wie alle Flüchtlinge, dort nicht, sondern wird eher geduldet. Das ändert sich, als 1940 die Wehrmacht die Insel okkupiert und die Registrierung der Ausländer verlangt. In erster Linie geht es ihnen darum, ihre Macht zu demonstrieren und Juden aufzuspüren. Anfangs scheint sich für Hedy alles zum Guten zu wenden, bekommt sie doch einen Job als Übersetzerin bei den Deutschen und findet in einem Wehrmachtsoffizier einen Freund. Doch die Zeiten ändern sich, und so bleibt ihr drei Jahre später nichts anderes übrig, als ihr Überleben in fremde Hände zu legen und unterzutauchen.

Obwohl Hedys Erfahrungen ein Teil ihrer Familiengeschichte sind, schaut die Autorin äußerst distanziert auf deren Schicksal. Mitgefühl oder Empathie sucht man in diesen Beschreibungen vergebens, aber auch Hedy ist keine Sympathieträgerin. Was um sie herum passiert, interessiert sie nur soweit, wie es ihr eigenes Leben und ihre Sicherheit tangiert. Selbst diejenigen, die ihr zu überleben helfen, beurteilt sie mit Überheblichkeit und lediglich danach, ob und wie sehr sie ihr nützlich sein könnten.

Unter dem Strich ist „Die Übersetzerin“ ein enttäuschender Roman über das Überleben in schwierigen Zeiten, der sein Potenzial verschenkt hat. Kann man lesen, muss man aber nicht.