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Veröffentlicht am 25.04.2022

Traumpfad Manhattan

Auf der Zunge
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Is this the real life? Is it just fantasy?

Eine Frau wandelt durch New York. Weg von ihrer Wohnung, weg von ihrer Ehe, weg von ihrem Leben. Sie sieht Menschen, trifft Menschen, berührt Menschen, die ihr ...

Is this the real life? Is it just fantasy?

Eine Frau wandelt durch New York. Weg von ihrer Wohnung, weg von ihrer Ehe, weg von ihrem Leben. Sie sieht Menschen, trifft Menschen, berührt Menschen, die ihr Geschichten erzählen, die ihr etwas geben, die ihr etwas nehmen, bis sie selbst wieder nach Hause findet, zu sich findet.

Jennifer Clements „Auf der Zunge“ ist ein reizvolles Buch. Ein poetisches Werk mit kurzen (Ab-) Sätzen, mit flackernden Momentaufnahmen, mit Beobachtungen dieser niemals schlafenden Stadt und ihrer bunten Mischung aus Menschen, die tagein, tagaus in ihr leben, arbeiten, flanieren.

Kein Roman, kein Gedicht, irgendetwas dazwischen, ganz einfach zu lesen und doch unglaublich komplex und vielschichtig, mit interessanten, verrückten Figuren, die gleichzeitig, wie es zu New York passt, komplett anonym bleiben, selbst die Hauptfigur, über die Leser:innen lediglich ihr Familienleben, ihren Beruf, ihr ungefähres Alter erfahren.

Nicht alle Episoden sind charmant, interessant, freundlich, manche sind gar etwas öde, andere beängstigend, aber „Auf der Zunge“ ist ein unglaublich fesselnder Spaziergang durch Manhattan, der nie klar real, nie klar ein Traum ist, der einen unglaublichen Interpretationsspielraum bietet und dabei doch ein durchaus passendes Bild von New York zeichnet.

Der fast schon surreale Erzählstil, der Aufbau, das alles wird anecken und kontrovers diskutiert werden, aber das macht Clements Werk zu einer der interessantesten Neuveröffentlichungen des Jahres. Not just another New York Story, obwohl dann irgendwie doch, denn die Figuren, die Orte, die Stadt, sie wirken vollkommen vertraut. Und genau das hat New York ja auch gemeinsam mit diesen Träumen, bei denen man nie weiß, ist das jetzt das echte Leben – oder passiert das alles doch nur in meinem Kopf?

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Veröffentlicht am 13.04.2022

Für immer lesen.

Ich lese!
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Lesen ist ein großartiges Hobby. Bei Sonne und Regen. Zuhause und im Park. Morgens und abends. Und das schon das ganze Leben. Schön, wenn so ein Hobby weitergegeben werden kann. Und noch schöner, wenn ...

Lesen ist ein großartiges Hobby. Bei Sonne und Regen. Zuhause und im Park. Morgens und abends. Und das schon das ganze Leben. Schön, wenn so ein Hobby weitergegeben werden kann. Und noch schöner, wenn es auf so wundervolle Weise illustriert wird, wie in Attilio Cassinellis „Ich lese“.

Auf strahlend weißen Seiten lesen knallbunte Tiere. Eine Katze bei Mondschein im Bett. Ein Hase auf Urlaub im Meer. Ein Eichhörnchen ganz ungestört im Baum. Aber auch zusammen, laut und vorlesen ist auf den insgesamt 56 Doppelseiten zu sehen und zu, ja, lesen.

Die kurzen Sätze sind hier zwar nur Beschreibungen der Bilder, die keine Geschichte erzählen, aber dafür gleich die vielen Bedeutungen und Arten des Lesens nennen und so den Wortschatz der sehr jungen Zielgruppe erweitern.

Das Buch ist offiziell ohne Altersempfehlung, quasi ab 0 Jahren, und vermutlich am besten für Kinder zwischen anderthalb und zweieinhalb Jahren geeignet, wenn es um das reine Vorlesen geht. Die Illustrationen dagegen regen auch ältere Kinder an, selbst zu malen oder sich kleine Geschichten zu überlegen, was genau die Tierchen dort lesen und machen.

Ein Kompliment geht auch an den Insel-Verlag: Das Buch hat eine sehr angenehme Haptik, die Seiten sind in der richtigen Stärke und die Druckqualität ist im Vergleich zu vielen anderen Kinderbüchern sehr hoch. Das macht „Ich lese“ zu einem Buch, das nicht nur Spaß macht, zu lesen und anzusehen, sondern auch zu einem tollen Geschenk für junge Familien, die eines besonders gerne tun: für immer lesen.

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Veröffentlicht am 07.04.2022

Entspannte Landfrische

Leo und Dora
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Wie wohltuend ein Buch sein kann, in dem gar nicht mal so viel passieren sein, während Krieg und Pandemie die Welt da draußen fest im Griff haben. Dabei ist „Leo und Dora“ zeitlich gar nicht mal so unpassend ...

Wie wohltuend ein Buch sein kann, in dem gar nicht mal so viel passieren sein, während Krieg und Pandemie die Welt da draußen fest im Griff haben. Dabei ist „Leo und Dora“ zeitlich gar nicht mal so unpassend eingeordnet.

Es ist das Jahr 1948. Der Zweite Weltkrieg ist rum, aber in Palästina ist es immer noch unruhig. Einer der Gründe, warum Leo auf dem Weg in die USA ist, auf Einladung seiner alten Freunde Alma und Hugo, in deren Sommerhaus in Connecticut er endlich sein neues Buch schreiben will. Oder soll.

Seit Jahren hat er nichts veröffentlich, der Krieg kam dazwischen, der Geschmack der Leser:innen änderte sich und überhaupt ist Leo innerlich ausgebrannt. Ähnlich wie Almas und Hugos Haus, als Leo endlich ankommt. Stattdessen wird er in ein kleines Provinzhotel einquartiert, zwischen Frauen und Kindern, deren Männer unter der Woche in New York arbeiten, an den Esstisch gesetzt, wo die schwäbische Köchin Frau Kniffel für Leo ungenießbare Speisen auftischt. Und das Miss Dora gehört – die für dem knorrig-knurrigen Leo nach und nach das Gefühl gibt, doch am richtigen Ort gelandet zu sein.

Agnes Krups Geschichte ist wenig überraschend, aber sie ist charmant und humorvoll, voller Anekdoten über die Literaturgeschichte und Eigenheiten der Bewohner an der Grenze zwischen New York und Connecticut, der Region, in der sie selbst lebt, wenn auch Jahrzehnte später. Ihre Figuren erinnern an die liebenswerte Schrulligkeit der Bewohner von Stars Hollow in Gilmore Girls und ähnlich undramatisch geht es in ihrem Buch auch vor.

Der Krieg ist vorbei, Menschen sind gestorben, ein Kind wurde mindestens ohne Einverständnis gezeugt, aber über allem liegt der Schleier der Vergangenheit, eine Mischung aus Verklärung und Akzeptanz. Einzig ein Dammbruch sorgt für eine kurze Aufregung, aber Schaden nehmen auch hier nur die Segelboote. Und die Pläne von Leo, so schnell wie möglich, zurück nach Tel Aviv zu kehren, aber dafür gibt es einzig und allein einen Grund: Dora.

Eine süße, unaufgeregte Liebesgeschichte zweier gar nicht mehr so junger Menschen in den Irrungen und Wirrungen ihrer Zeit ist vielleicht genau das richtige für diese Monate, bis vielleicht selbst einmal Koffer zur Landfrische gepackt werden, in der Eifel, in den Bergen oder doch in Sharon, Connecticut.

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Veröffentlicht am 28.03.2022

Zwiebelbook

Für diesen Sommer
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Wie viele Geschichten passen eigentlich in ein Leben? Oder zumindest in ein Buch von rund 450 Seiten? In Gisa Klönnes „Für diesen Sommer“ sind es viele: Vater-Tochter-Entfremdung, Geschwisterstreit, Weltkriegsdrama, ...

Wie viele Geschichten passen eigentlich in ein Leben? Oder zumindest in ein Buch von rund 450 Seiten? In Gisa Klönnes „Für diesen Sommer“ sind es viele: Vater-Tochter-Entfremdung, Geschwisterstreit, Weltkriegsdrama, Umweltbewegung, Kindstod, Depressionen, Suizid, ein bisschen natürlich auch die Liebe. Und zwischen den Zeilen sicher noch ein paar mehr.

Zissy steht vor der Tür ihres Elternhauses, das sie seit dem Tod ihrer Mutter nicht mehr betreten hat. Ihr Vater und ihre Schwester Monika legten keinen Wert darauf, nachdem sie wenige Stunden zu spät im Krankenhaus eingetroffen war, um sich noch verabschieden zu können, eigentlich eh schon längst nicht mehr da war, aus vielen Gründen, die sie aber eigentlich auch gar nicht so sehr interessieren. Aber jetzt wird sie gebraucht.

Ihr Vater kann den Alltag nicht mehr gut alleine absolvieren, hat die von Monika geplante Kur abgesagt, verweigert den Umbau des Hauses in ein altersgerechtes Domizil, sitzt lieber zuhause und zeichnet Ameisenbären. Zu viel für Monika, die mit Burnout in eine Klinik muss, nachdem ihr Mann Zissy um Hilfe gebeten hat. Eine Klinik, mit der Zissy und „Moka“ mehr verbindet, als sie ahnen.

Gisa Klönne schreibt mal aus der Sicht von Zissy, mal aus der Gedankenwelt des Vaters. Springt immer wieder zwischen dem Zweiten Weltkrieg und heute, der frühen Kindheit der Töchter bis zur Jugendbewegung der 80er-Jahre. Für die Leser:innen ein bisschen fordernd, aber der Geschichte der Familie durchaus angemessen, die Konzentration darf sich nicht einmal einen kurzen Moment ausruhen, ansonsten droht mindestens eine hochgradige Verwirrung und nervöses Zurückblättern.

„Für diesen Sommer“ ist ein langsames, ein leises, ein melancholisches, stellenweise etwas zu pathetisches, aber auch immer wieder hoffnungsvolles Buch. Ein Gespräch mit der Nachbarin, ein Ausflug zum See, ein kurzer Spaziergang ohne Rollstuhl lassen die Entfremdung schwinden, das Geschwisterverhältnis versöhnlicher werden.

Ein Buch, eine Familiengeschichte wie eine Zwiebel, unglaublich vielschichtig, kaum ein Auge trocken lassend, mit wunderlichen und liebevollen, aber auch tieftraurigen Episoden, das keine Generation auslässt – und so vielleicht Leser:innen dazu bewegt, sich nach jahrzehntelangem Stillstand zu bewegen, mit der eigenen Familie auszusprechen und zu versöhnen.

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Veröffentlicht am 04.02.2022

Thunderbolt and Lightning

Zusammenkunft
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Wie ein Blitz ist dieses Buch. Unglaublich grell. Und schnell vorbei. Viel zu schnell? Nein. Sein Nachhall, der Donner, wirkt lange und laut.

Die Protagonistin arbeitet im Finanzsektor. Hat sich aus ...

Wie ein Blitz ist dieses Buch. Unglaublich grell. Und schnell vorbei. Viel zu schnell? Nein. Sein Nachhall, der Donner, wirkt lange und laut.

Die Protagonistin arbeitet im Finanzsektor. Hat sich aus prekären Verhältnissen hochgearbeitet. Führende Position, Eigentumswohnung in London, keinerlei Sorgen. Finanzieller Art. Denn sie ist eine Frau. Und schwarz. Und somit Opfer von Sexismus und Rassismus. Mal offen und direkt, wie bei einer Begegnung mit einem Betrunkenen in der Bahnstation. Meist versteckt oder (gar-nicht-mal-snett verpackt, in zynischen Bemerkungen von Kollegen oder den Eltern ihres Freundes, die sie eh nur als „die aktuelle Freundin ihres Sohnes“ sehen.

Natasha Brown erzählt ihre Geschichte, aber auch die einer ganzer Generation von Menschen anderer Herkunft, von Frauen, von Rollenbildern und Rollen in diesem Theater, das wir Leben nennen. Ohne etwas vorweg nehmen zu wollen, um den Nachhall dieses Buches nicht zu zerstören: Manche Themen sind in den letzten Jahren publik geworden dank #metoo und BLM, manche sind neu, aber eigentlich auch nur für die Leser:innen, die nicht davon betroffen sind, die diese Erfahrungen nicht gemacht haben.

Brown gelingt dabei eine starke Dramaturgie – von „random Einzelfällen“ (die natürlich keine sind) zum Leben der Protagonistin. Von ihrem Berufsalltag hin zu ihrer Beziehung mit einem Sohn reicher, einflussreicher Eltern und weiter zu ihrer Krebserkrankung, die sie nicht behandeln lassen möchte, da der Krebs der Gesellschaft mehr schmerzt als der in ihrer Brust.

Und obwohl „Zusammenkunft“ so kurz wie eine Novelle erscheint, so steckt auf den 113 Seiten mehr als in manchem 400 Seiten-Roman. Mehr Inhalt, mehr Tiefe, mehr Gewicht. Es ist schnell gelesen. Aber vorbei ist es damit noch lange nicht. Achtet auf den Nachhall – und nehmt etwas davon mit in euer Verhalten!

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