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Veröffentlicht am 02.07.2022

Klimt im Spazierstock

Waldinneres
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Das kleine Gemälde "Waldinneres" von Gustav Klimt gilt seit Ende des Krieges als Raubkunst und ist verschollen. 2009 taucht es in einem Bankschließfach in Zürich wieder auf. Der Barbesitzer Gottfried kann ...

Das kleine Gemälde "Waldinneres" von Gustav Klimt gilt seit Ende des Krieges als Raubkunst und ist verschollen. 2009 taucht es in einem Bankschließfach in Zürich wieder auf. Der Barbesitzer Gottfried kann sich nicht erklären, wie das Bild in den Besitz seines Vaters Hermann gekommen ist, der sich vor Jahrzehnten erhängt hat. Hatte die schwere Depression des Vaters mit dem Gemälde zu tun?

Der Roman beginnt in der Gegenwart mit einem am Boden liegenden Maler und rollte die Geschichte des Klimt-Bildes dann von hinten auf. Es gibt viele Zeitsprünge und Perspektivwechsel, die verwirren könnten; da ich das Buch aber an zwei Tagen durchgelesen habe, habe ich gut durch die Geschichte hindurchgefunden. Die Handlung ist wirklich faszinierend, allerdings klingt sie spannungsgeladener, als sie ist. Das Geschehen wird ruhig erzählt und die Fluchtgeschichte spielt auch nur eine kleine Rolle, der größte Teil der Handlung findet in der Gegenwart statt und was das Geheimnis und das Bild mit den Beteiligten und den Nachkommen gemacht haben.

Gottfrieds Café-Bar ist das Herzstück, hier gehen alle Charaktere ein und aus. Ein Zufluchtsort für den ehemaligen Weltenbummler und seine Freunde. Ich hätte mir noch ein bisschen mehr Tiefe bei den Figuren gewünscht, sie sind mir nicht so nahe gekommen und das Ende war dann etwas "überfrachtet". Dennoch hat mich das Buch gut unterhalten und ich habe es wirklich gerne gelesen. Der Titel des Bildes, das es übrigens wirklich gibt, ist gleichzeitig ein Schnittpunkt in der Fluchtgeschichte, denn im Inneren des Waldes verschwindet nicht nur das Bild.

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Veröffentlicht am 26.04.2022

Wendewunden

Eine andere Zeit
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Was ist aus Suse geworden? Auch nach 30 Jahren kann ihre Schwester Enne nicht mit dem ungewissen Schicksal abschließen, dass Suse bei der Grenzöffnung in Ungarn 1989 im Gewühl der Menge verschwunden ist. ...

Was ist aus Suse geworden? Auch nach 30 Jahren kann ihre Schwester Enne nicht mit dem ungewissen Schicksal abschließen, dass Suse bei der Grenzöffnung in Ungarn 1989 im Gewühl der Menge verschwunden ist. Suse ist fort und Enne ist geblieben, in dem winzigen Ort an der Ostsee, in den auch die Cousine aus dem Ruhrpott gezogen ist. Christina hat schon als Kind ihre Ferien im Osten verbracht und fühlte sich dort wohler als im Westen. Als im Haus gegenüber von Enne eine gewisse Frau Pohl einzieht, die sich sehr geheimnisvoll gibt, brechen bei allen alte Gefühle auf.

In ruhigem Ton, fast schon nüchtern, erzählt Helga Bürster in ihrem neuen Roman von der "Kriegsenkel"-Generation. Anhand einer Familie wird ein Netz von Schicksalen aufgezeigt. Da ist die Elterngeneration, die als Kinder und Jugendliche den Krieg erlebt haben, vieles verdrängt und totgeschwiegen haben. Die nächste Generation wiederum (Suse, Enne und Christina) wächst im geteilten Deutschland auf. Während Enne fest an den Arbeiter- und Bauernstaat glaubt, ist Christina mit ihrem Leben im kapitalistischen Westen unzufrieden und blüht nur auf, wenn sie nach Vorpommern an die Küste reisen kann.

Helga Bürster wertet nicht, sie schildert Ost und West facettenreich. Weder ist hier alles gut, noch dort alles schlecht. Die Menschen stehen im Mittelpunkt und was sie aus ihrem Leben gemacht haben, welche Chancen sie hatten und welche sie davon genutzt haben oder auch nicht. Durch Rückblicke wird die Vergangenheit seit den 1970er Jahren herangeholt an die Gegenwart, als Frau Pohl auftaucht.

Der Roman lebt von der spröden, direkten Sprache. Den kurzen Sätzen und klaren Ansagen, oft mit Humor gewürzt. Typisch Norddeutsch möchte man sagen. Wie bei "Luzies Erbe" liest sich dies wirklich wunderbar. Geschickt werden historische Fakten eingebaut, so der unglaubliche Lehrerüberhang in den 1980er Jahren, die Schneekatastrophe 1978/79. Gefallen haben mir auch die kleinen Dinge, denen die Autorin Aufmerksamkeit geschenkt hat: ein angebrannter Topf (noch gute Vorkriegsware) oder die RAF-Fahndungsplakate in den Postämtern. So wird nicht nur die Stimmung an der vorpommerschen Küste eingefangen, sondern auch die Atmosphäre in der kleinen Küche der Familie Jendrich.

Wer eintauchen möchte, in eine ruhig erzählte Familiengeschichte, ist hier genau richtig. Es handelt sich nicht um einen Spannungsroman, wie vielleicht durch das Verschwinden von Suse und das plötzliche Auftauchen von Frau Pohl vermutet werden kann. Am Ende bleibt einiges offen, wie im richtigen Leben: Es gibt nicht auf alles eine Antwort.

Ich habe das Buch sehr gerne gelesen und es hätte durchaus etwas länger sein können.

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Veröffentlicht am 21.04.2022

Freundschaft ist ein Rätsel und eine Kraft

Ein Wochenende
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Ein Wochenendhaus an der Küste Australiens ist seit Jahrzehnten der Treffpunkt von vier unterschiedlichen Freundinnen. Jetzt ist eine gestorben und die drei anderen treffen sich dort ein letztes Mal, um ...

Ein Wochenendhaus an der Küste Australiens ist seit Jahrzehnten der Treffpunkt von vier unterschiedlichen Freundinnen. Jetzt ist eine gestorben und die drei anderen treffen sich dort ein letztes Mal, um das kleine, etwas heruntergekommene Häuschen auszuräumen. Dabei entledigen sie sich nicht nur des alten Gerümpels, sondern auch einiger Lebenslügen und ihre Freundschaft wird auf eine harte Probe gestellt.

Charlotte Wood schreibt schonungslos über das Altwerden, indem sie den drei Protagonistinnen Jude, Wendy und Adele extrem nahe kommt; keine Runzel, kein Fettpölsterchen, kein Wehwehchen und kein ungepflegter Fuß bleiben unkommentiert. Was einerseits etwas übertrieben oft dargestellt wird, ist andererseits auch das große Plus des Romans, nämlich die detailreichen Schilderungen, dieses genaue Hinsehen. Dabei bleibt es nicht bei den Äußerlichkeiten, auch das Innenleben der einst erfolgreichen Theaterschauspielerin Adele, der intellektuellen Wendy und der durchorganisierten ehemaligen Restaurantleiterin Jude werden haarklein auseinandergenommen. Als Ersatz für die verstorbenen Sylvie hat Wendy ihren altersschwachen Hund Finn dabei, fast taub, blind und inkontinent. (Er muss ein bisschen oft als Gag-Moment herhalten.) So denkt Wendy über die kleine Truppe auch als die "drei - vier - hinfälligen, gequälten Kreaturen im Sand" (S. 154). Durch den Tod Sylvies gerät das fragile Gefüge der Freundinnen durcheinander und es kommen Lügen und unterdrückte Gefühle an die Oberfläche, dass es nur so kracht.

Auf engstem Raum, eben jenem Strandhaus, und mit nur wenig Personal beschreibt Wood was Freundschaft ausmacht, mal sympathisch schelmisch, mal gnadenlos direkt.

Ich habe das Buch gerne gelesen, hätte mir aber mehr humorvolle Momente gewünscht. Die gab es auch, aber sie wurden von den wenig erfreulich geschilderten Aussichten auf das Altwerden überlagert. Die facettenreichen Charaktere haben mir gut gefallen. Jede der drei Frauen hat ein spannendes Leben von über 70 Jahren bereits hinter sich und die Frage ist, was bleibt, wenn nicht Freundschaft?

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Veröffentlicht am 18.04.2022

Eine Form der Unsterblichkeit

Der große Fehler
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New York hat einem einzigen Mann viel zu verdanken: u.a. den Central Park, den Bronx Zoo, die Public Library und das Metropolitan Museum of Modern Art. Dabei wurde Andrew Green als Kind eines armen Farmers ...

New York hat einem einzigen Mann viel zu verdanken: u.a. den Central Park, den Bronx Zoo, die Public Library und das Metropolitan Museum of Modern Art. Dabei wurde Andrew Green als Kind eines armen Farmers geboren, arbeitete als Verkäufer in einem kleinen Laden und auf Trinidad für einen Zuckerrohrplantagenbesitzer. Schließlich wird er mit 83 Jahren vor seinem Wohnhaus in New York erschossen. Ein umtriebiges Leben, das auf fatale Weise endet.

Jonathan Lee hat Andrew Green ein kleines literarisches Denkmal gesetzt. Bisher sind die öffentlichen Gedenkstätten eher spärlich gesät, angesichts seiner immensen Leistungen.

Lee läßt uns an Greens Leben in blumigen, ausschweifenden und kunstfertigen Sätzen teilhaben. Dabei fokussiert er sich sehr oft auf die Innenansicht des Protagonisten und weniger auf sein äußerliches Leben. Fast wie eine Marotte erscheint die Vorliebe des Autors für die dreifache Wiederholung eines Wortes oder einer Wortfolge (Epizeuxis), dieses Stilmittel verwendet er auffallend häufig. Auch kommt das Buch ohne Anführungszeichen in der wörtlichen Rede aus, was zunächst etwas gewöhnungsbedürftig ist. Die Sprache des Romans entschädigt aber für diese "Mankos".

Green ist von Beginn an ein Charakter, der in allem Potential und Verbesserungsmöglichkeiten sieht. Zielstrebig verfolgt er sein Begehren, ein Gentleman in New York zu werden, nicht ohne die eine oder andere List anzuwenden oder sich zu verstellen. Seine homosexuelle Neigung stürzt ihn mehrfach in Krisen und bestimmt in weiten Strecken sein Leben. Seine Haushälterin Mrs. Bray ist mir der liebste Charakter, gewitzt und zupackend. Die Figur des Inspector McClunsky, der den Mord an Green aufklären soll, kann ich nicht richtig greifen, sie erscheint mir etwas wirr. Die Spannung zieht das Buch nicht aus dem Krimianteil, also dem Tod des Protagonisten, sondern aus seinem ungewöhnlichen Leben. Und das wäre auch der größte Kritikpunkt, denn das kommt meines Erachtens zu kurz. Über die bedeutenden Projekte hätte ich gerne mehr erfahren, denn die Schnipsel und Szenen, die der Autor uns zuwirft, sind wirklich unglaublich interessant.

Die Kapitelüberschriften des Buches sind übrigens die Namen der Tore des Central Parks, immer auch mit einer inhaltlichen Entsprechung, das ist sehr schön gemacht. Das Cover-Motiv des Elefanten findet seinen Bezug im Roman zu Inspector McClusky. Der Titel des Buches wird mehrfach im Text erwähnt und läßt sich auf unterschiedliche Art deuten, auch dies ein bemerkenswerter Aspekt des Romans.

Insgesamt ein Roman in einer eigenwilligen, blumigen Sprache, die Atmosphäre erzeugt. Wie unter einem Brennglas werden einzelne Lebensepisoden des Protagonisten sehr detailliert geschildert, die für die Entwicklung der Person relevant sind. Bei den Nebenfiguren war das gelegentlich etwas viel. Mir scheint, dass das hektische Großstadtleben mit seinen vielen verschiedenen Facetten hier abgebildet werden soll, so wie Green einst mit den Tornamen des Central Parks die Facetten der Stadt abbilden wollte.

Ich habe das Buch sehr gerne gelesen, hätte mir aber mehr Informationen zu den interessanten Bauprojekten Greens gewünscht. Für alle New York Fans ist das Buch ohne Frage ein Gewinn.

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Veröffentlicht am 31.03.2022

Schlaflosigkeit, Narkose und Tagebücher

Eine Art Familie
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Anker im sturmgepeitschten 20. Jahrhundert ist die Hausgemeinschaft von Ludwig Lendle, seinem Patenkind Alma Grau (fast gleichaltrig) und der Haushälterin Fräulein Gerner. Mit ihnen streifen wir die Wirren ...

Anker im sturmgepeitschten 20. Jahrhundert ist die Hausgemeinschaft von Ludwig Lendle, seinem Patenkind Alma Grau (fast gleichaltrig) und der Haushälterin Fräulein Gerner. Mit ihnen streifen wir die Wirren der beiden Weltkriege, die Teilung Deutschlands und die Errungenschaften der Pharmakologie.

In kurzen Kapiteln und kleinen Szenen wird das Leben von Waisenkind Alma, die ihren Patenonkel Professor Lud Lendle ebenso heimlich liebt, wie sie heimlich seine Tagebücher liest, ebendiesem und dem Fräulein mit den geschichtlichen Ereignissen in Deutschland höchst geschickt verflochten. Dabei schimmert vieles oft nur durch, wird angedeutet oder in einem Nebensatz "versteckt". Die Dialoge und Gedanken der Personen werden eher nüchtern dargestellt, allerdings hat der Autor einen ganz eigenen Ton gefunden. Oft kurze, knackige Sätze, durchsetzt mit Witz und Ironie, Melancholie und treffenden Beschreibungen. Das liest sich fast durchgängig ganz leicht, verleitet aber dazu, die vielen klugen Sätze zu schnell zu lesen.

"Die Zeit flatterte an ihm vorüber, während er selbst stehen zu bleiben schien. Sein Leben, so viel war ihm mittlerweile klar, würde langsamer verstreichen, wenn er mehr erlebte. Dafür aber hätte man sich getrauen müssen, das Leben auf sich wirken zu lassen. Sich herzuschenken, es so tief zu inhalieren, dass es einen berührte. Er dagegen atmete flach hindurch." (S. 178)

Lud ist fasziniert vom Schlaf und fokussiert seine Forschungstätigkeit ganz auf den künstlichen Schlaf, die Narkose. So lenkt er sich ab, von der Person, an die er immer wieder denken muss. Alma sucht derweil im Wald, was sie von Lud nicht bekommen kann. Dann gibt es noch Luds Bruder Wilhelm und dessen Familie, aber dem Professor ist seine kleine WG näher. Am Küchentisch wird über Jahrzehnte politisches, persönliches und wissenschaftliches Geschehen diskutiert.

Erstaunlicherweise hatte ich bisher nichts von diesem Buch gehört. Wenn man sich ein wenig in diesen besonderen Sprachstil eingelesen hat, ist es ein Vergnügen. Ich wünsche dem Buch von Herzen noch viele Leser*innen.

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