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Veröffentlicht am 08.08.2023

Temporeicher Wissenschaftsthriller über globale Erderwärmung, Permafrost, Kipppunkte, Anthrax ... und Backpulver

Toxin
15

Kathrin Langes und Susanne Thieles jüngstes Werk „Toxin“ ist unverkennbar der Nachfolger zur überzeugenden und allseits gelobten „Probe 12“ und somit der zweite Band dieses Autorenduos. Bereits das Cover, ...

Kathrin Langes und Susanne Thieles jüngstes Werk „Toxin“ ist unverkennbar der Nachfolger zur überzeugenden und allseits gelobten „Probe 12“ und somit der zweite Band dieses Autorenduos. Bereits das Cover, welches wiederum mit der auffallenden Kombination aus Neon-Gelb-Grün und Schwarz aufwartet, sorgt für einen extrem hohen Wiedererkennungswert und ist stimmig zum Titel gewählt. Einmal mehr verbinden die beiden Autorinnen, wie schon beim Vorgängerband, auf grandiose Art und Weise mit ihrem wunderbar mitreißenden Schreibstil atemberaubenden Thrill und geladene Action mit wissenschaftlich fundierten und hervorragend recherchierten Fakten, die das aktuelle Zeitgeschehen intensiv aufgreifen.

„Toxin“ beginnt mit zwei zunächst recht sibyllinischen Zitaten von einerseits Miguel de Cervantes und andererseits einer Wortneuschöpfung der Inuit, deren Zusammenhang zum Geschehen sich dem Leser erst im Laufe das Buches in voller Tragweite erschließt. Ging es in „Probe 12“ noch um Phagen, beschäftigt sich „Toxin “ politisch wiederum hoch aktuell, mit Kipppunkten in der allseits diskutierten Klimaproblematik und mit der globalen Erderwärmung.

Wie wird diese Ausgangsbasis nun also in den Plot eines atemberaubenden Wissenschaftsthrillers gepackt? - In einer Rückblende um 10 Jahre wird dem Leser ein Vorfall im Arctic Village in Nordalaska geschildert, bei dem, bedingt durch die Erderwärmung, Teile des lokalen Permafrost auftauen, was schließlich einen Hangabrutsch größeren Ausmaßes bewirkt. Hierdurch kommen die Gebeine von Rentieren zum Vorschein, die wiederum gefährliche Milzbranderreger (Bacillus anthracis - kurz Anthrax) freisetzen, an denen mehrere Menschen versterben. Bei einem Zeitsprung ins „Heute“ lernen wir Gereon Kirchner kennen, der im Rahmen des vor Jahrzehnten ins Leben gerufenen Permafrosttunnel-Projekts in Alaska Proben solcher Milzbrandbakterien nehmen und aus ihnen zusammen mit seinem Geschäftspartner Mike Reed und seiner Mitarbeiterin Airi Young ein Mittel gegen Krebs herstellen möchte. In eben jenem Tunnel findet er überraschender Weise hochbrennbares Aluminiumpulver und trifft urplötzlich auf eine ihm bekannte Person.
„Klappe und Cut!“ - Wie immer bei Kathrin Lange und Susanne Thiele wird in den jeweiligen Kapiteln nie zu viel verraten, wodurch das Spannungslevel immer hoch gehalten wird, die konsequenten Cliffhanger mit anschließendem Szenenwechsel am Ende jedes Abschnitts und die Vielzahl von parallelen Handlungssträngen tun ihr Übriges hierzu. In einem dieser Stränge erfahren wir dann im weiteren Verlauf, dass Gereon Kirchner der aktuelle Lebenspartner von Nina Falkenberg ist, also der Heldin und Hauptprotagonistin aus „Probe 12“. Von Berlin aus, welches erst vor kurzem aufgrund der viel zu hohen Temperaturen und starken Regenfällen überflutet war, kann sie Gereon seit Tagen nicht erreichen. Darüber hinaus wirft die Presse die Frage auf, ob Gereon mit seiner Nutzbarmachung der Milzbranderreger für die Krebsforschung am ungeklärten Tod von Berliner Obdachlosen schuld sein könnte. Zusätzliche Spannung verspricht ein weiterer Handlungsstrang in welchem Nina Tom Morell, einen weiteren guten Bekannten und Helden aus dem Vorgängerband, bittet nach Alaska zu reisen und mehr über den vermissten Gereon herauszufinden. Dort angekommen, wird die Leiche einer Frau gefunden, in deren Tod möglicherweise Gereon involviert ist. Ferner wird von Klimaaktivisten und einflussreichen Gegenorganisationen, geschmierten Lobbyisten, großartigen Ermittlerteams und potentiellen Revolverhelden mit einer gemeinsamen Vegangenheit im Arctic Village die Rede sein – sowohl im fernen Alaska, als auch auch im hiesigen Berlin ist demzufolge permanent für Hochspannung gesorgt.

Viele offene Fragen werden somit bereits im ersten Drittel des Buches eindrucksvoll motiviert und so ganz nebenbei ein detailliertes wissenschaftliches Hintergrundwissen vermittelt. Im zweiten Drittel werden die zahlreichen Handlungsstränge dann spannungsgeladen weiterentwickelt und geschickt verknüpft und schließlich allesamt im letzten Drittel grandios und schlüssig miteinander verwoben und zusammengeführt ohne zu irgendeinem Zeitpunkt den roten Faden zu verlieren. Obwohl für den ein oder anderen Leser die klimapolitischen Aspekte des ersten Buchdrittels in ihrer Fülle vielleicht ein wenig zu sehr mahnend in den Vordergrund geraten mögen und hier und da auch ein paar kleinere Klischees bedient werden, ist es großartig, wie man als Leser Mosaiksteinchen für Mosaiksteinchen aus verschiedenen Perspektiven unmittelbar in die Ermittlungsarbeit auf beiden Seiten des großen Teichs eingebunden wird und der Wahrheit sukzessive immer näher kommt. Stets kann man sich sehr gut nicht nur in die Handlung, sondern auch in die jeweiligen Gefühlswelten der Hauptcharaktere, die treffend und facettenreich gezeichnet wurden, hinein versetzen. „Toxin“ ist somit ein faszinierender Pageturner mit einer rasanten Handlung und durchaus realem Narrativ, bei dem ein gründliches Nachwort ein überzeugendes Buch abrundet und dem Leser nochmals ungemein hilft, das gesamte Geschehen in jeglicher Hinsicht richtig einzuordnen.

Fazit: Genau wie sein Vorgänger ist „Toxin“ ein großartiger Wissenschaftsthriller, erfrischend und spannend vom Anfang bis zum Ende. Politisch aktuell und wissenschaftlich fundiert, korrekt und informativ, nimmt der Roman spätestens im zweiten Drittel hinsichtlich Action und Dynamik in der Handlung deutlich Fahrt auf, was sich schließlich zu einem atemberaubenden und schwindelerregenden Tempo entwickelt und in einem überaus beeindruckenden Showdown kulminiert. Kaum eine der 464 Seiten des Buches, auf denen sich nicht neue Konstellationen und für den Leser neue Blickwinkel ergeben, die durch die ständigen Cliffhanger und Szenenwechsel die Spannung ins Unermessliche steigern. Oftmals stellt sich genau dann, wenn man glaubt, die Lösung bereits unmittelbar vor Augen zu haben, heraus, dass man komplett falsch lag. Obwohl „Toxin“ völlig unabhängig von „Probe 12“ gelesen werden kann, ist es für diejenigen Leser, die beide Bände kennen, überaus gefällig, vertraute Bekannte treffen zu dürfen. Das auf mehreren Ebenen offene Ende deutet auf ein Fortsetzung hin, dann hoffentlich wiederum mit Nina und Tom als Protagonisten und viel Wissenschaft und Action eingewoben in eine schlüssige Rahmenhandlung. „Toxin“ hat mich von Beginn an abgeholt und auf eine spannende und fesselnde Reise nach Berlin und ins ferne Alaska mitgenommen. Bereits jetzt fiebere ich erwartungsvoll einem Folgeband entgegen.

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Veröffentlicht am 24.10.2022

Ein fulminanter "echter Gablé" über einen bedeutenden Abschnitt englischer Geschichte

Drachenbanner
17

Steht man inmitten einer Gemäldesammlung vor großartigen Bildern, kann man oftmals bereits auf den allerersten Blick erkennen, von welchem der herausragenden Künstler das Werk geschaffen wurde, ganz gleich, ...

Steht man inmitten einer Gemäldesammlung vor großartigen Bildern, kann man oftmals bereits auf den allerersten Blick erkennen, von welchem der herausragenden Künstler das Werk geschaffen wurde, ganz gleich, ob es beispielsweise ein Dürer, Rembrandt, Michelangelo oder Leonardo da Vinci ist. Bei historischen Romanen verhält es sich ganz ähnlich, hier wird allerdings zumeist Rebecca Gablé als das Maß der Dinge gesehen, insbesondere mit ihrer grandiosen Waringham-Saga oder der ebenso großartigen Helmsby-Serie. Der aktuelle Roman "Drachenbanner", der nunmehr 7. Waringham-Band, ist der unmittelbare Nachfolger von „Teufelskrone“ und – sofort erkennbar – in jeglicher Hinsicht, vom beeindruckenden Cover angefangen, über den Schreibstiel der Autorin bis hin zur gründlichen Recherche, ganz ohne Zweifel ein „echter Gablé“. Während „Teufelskrone“ sich mit Richard Löwenherz und dem teuflischen John Ohneland aus dem Hause der Plantagenets sowie der Magna Charta beschäftigte, ordnet sich „Drachenbanner“ geschichtlich nahtlos bei Johns ältestem Sohn, König Henry III. und dessen Sohn Edward sowie Johns jüngster Tochter Prinzessin Eleanor und ihrem historisch nicht gerade unbedeutenden Ehemann Simon de Montfort ein und umspannt den wichtigen Zeitraum der englischen Geschichte von 1238 bis 1265.

Der Bogen der fiktiven Handlung wird rund um Adela und Bedric erzählt und erinnert so ganz vage an sanft adaptierte Züge aus Shakespeares „Romeo und Julia“. Die beiden sind von Beginn an große Sympathieträger: Sie - von adeligen Stand und ausnahmsweise weiblicher Spross der Waringhams (Amabel und Yvain aus der „Teufelskrone“ haben übrigens auch kurze Gastauftritte), er - ein kerniger Naturbursche mit losem Mundwerk aus einer Leibeigenenfamilie. Die beiden sind am gleichen Tag geboren und Milchgeschwister, da Bedrics Mutter auch Adelas Amme war, und unzertrennlich, … bis zu jenem Tag, als Adela an den Hof von Prinzessin Eleanor entsandt und wenig später mit dem Adeligen Joshua of Meriden verheiratet wird. Adela und Eleanor verbinden vielerlei Eigenschaften und imponieren dem Leser durch ihren starken Charakter, ihr Selbstbewusstsein, ihre liebevolle und direkte Art und einen strategisch enorm weitsichtigen Blick, der vor allem bei Eleanor, geradezu zum Strippenziehen im Hintergrund verleitet. Bedric hingegen muss sich nach dem Tod seines Vaters mühevoll mit der Rolle des Leibeigenen herumschlagen, um Mutter Eldrida und Schwester Bertha kümmern, von seinem Stiefvater Wigot und Adelas ältestem Bruder Raymond drangsalieren lassen und beschäftigt sich mit dem Bogenbau und -schießen.
Allerlei Strapazen stehen den beiden und ihrer Liebe noch bevor und die Autorin investiert dieses Mal zu Beginn des Buches sehr viel Zeit in die fiktive Geschichte, in welche der Leser durch das behutsame Nahebringen aller Protagonisten mühelos hinein findet. Im Laufe des Buches rücken wir immer näher an die tatsächlichen historischen Geschehnisse dieser Epoche heran und wie immer gelingt es Rebecca Gablé die facettenreichen Charaktere sowohl ihrer fiktiven wie auch der geschichtsträchtigen Protagonisten so lebensnah und echt zu zeichnen und so geschickt miteinander zu verweben, dass der Leser das authentische Gefühl bekommt, dass die Fiktiven tatsächlich im Umfeld der Historischen gelebt haben und der Leser mittendrin den Protagonisten über die Schultern schaut. Überaus viel wird dem Leser auf den 928 Seiten des Buches geboten: vom Leben des einfachen armen Volkes, welches trotz Hungersnot und Seuche von seinem verschwenderisch bauwütigen aber schwachen König, der obendrein noch das Königreich Sizilien vom Papst für seinen Sohn Edmund kaufen und erobern möchte, extrem ausgepresst wird, über einen realen Blick auf beispielsweise das mittelalterliche London, den Provisions of Oxford, die jedem Menschen, auch den Leibeigenen Rechte verleihen sollen, dem zweiten Krieg der Barone, der Schlacht von Lewes, Simon de Montfort’s Parlament (dem Vorläufer des späteren House of Commons), bis hin zur finalen, schicksalsträchtigen Schlacht von Evesham mit all ihrer tragischen Konsequenzen. Und die fiktiven Charaktere um Adela und Bedric sind dabei zusammen mit dem Leser stets beeindruckend und zum Greifen nah in der historischen Kulisse mit dabei.

Darüber hinaus bringt die Autorin dem Leser viele geschichtlich bedeutende Persönlichkeiten jener Zeit nahe (neben den bereits oben genannten u.a. Richard of Cornwall, Henry d’Almain, Guillaume und Aymer de Lusignan, Thomas FitzThomas, Llewelyn ap Gruffydd), allesamt festgehalten im umfangreichen Personenregister. Zusätzlich zum - wie immer - flüssigen, emotional mitreißenden und ausdrucksstarken Schreibstil, gesellt sich dieses Mal auch eine überaus humorige Komponente hinzu und zu Beginn/Ende der einzelnen Abschnitte des Buches findet man wunderbare Zitate und Zeichnungen und zum Auffinden der jeweiligen Orte des Geschehens, sogar eine Karte über das relevante Gebiet von England und Wales. Ganz ohne Zweifel ist „Drachenbanner“ ein ganz großartiger Historischer Roman, der mit Gewissheit zu den besten dieses Genres zählt. Dennoch weißt er ein paar kleinere Schwächen auf. Auch wenn sich das Buch kontinuierlich steigert und spätestens in der zweiten Hälfte alle Erwartungen an einen „echten Gable“ voll und ganz erfüllt, kann das erste Drittel durchaus als ein klein wenig schleppend und zu sehr auf die fiktive Handlung konzentriert empfunden werden, die zudem immer mal wieder von flagranten Zufällen geprägt ist. In diesem Teil hätte Rebecca Gablé die historischen Details vielleicht bereits früher im Buch miteinbeziehen und mit der fiktiven Geschichte vernetzen können und die Zeitsprünge von jeweils vielen Jahren, in denen durchaus wichtige und interessante historische Ereignisse ausgespart wurden, etwas kleiner halten können. All das soll aber die große Qualität, einer von der riesigen Leserschaft und Fangemeinde der Autorin sehnsuchtsvoll erwarteten, großartigen Fortsetzung der Waringham-Saga, in keiner Weise schmälern. Ein beeindruckendes Nachwort mit zusätzlichen geschichtlichen Informationen und einer Einordnung des Geschehens runden das Bild eines faszinierenden historischen Romans ab.

Fazit: Unterm Strich hat Rebecca Gablé mit „Drachenbanner“ einen großartigen, lange ersehnten Waringham-Roman vorgelegt, bei dem fiktive wie auch historische Charaktere wunderbar herausgearbeitet wurden und der durch seine detailgenaue Recherche, historische Nähe und einen großartigen Schreibstil besticht. Wie bei allen Romanen dieser Serie, ist auch dieser in sich abgeschlossen und lässt sich vollkommen unabhängig von den übrigen lesen. Im Vergleich zu den meisten anderen Romanen dieses Genres würde ich ihn als herausragend bezeichnen, unter den zahlreichen Büchern der Autorin selbst würde ich es allerdings nicht unbedingt als das aller-stärkste ihrer Werke ansehen. Sein etwas offenes Ende hingegen schreit förmlich nach einer Fortsetzung, zeitlich hin zum ursprünglichen Beginn der Serie „Das Lächeln der Fortuna“. Für Anhänger des guten historischen Romans, die es genießen, das Leben einer ganzen Generation mit seiner gesamten Palette an Emotionen, Dramen, Liebe und Tod, Auseinandersetzungen Arm-Reich und sehr viel Tiefgang, eingebettet in einen umfangreichen geschichtlichen Hintergrund, mitverfolgen zu dürfen, stellt „Drachenbanner“ ein absolutes Muss dar - für echte Waringham-Fans ohnehin. Mit großer Spannung und Vorfreude sehne ich mich bereits jetzt nach dem nächsten großartigen Roman aus der Feder Rebecca Gablés.

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Veröffentlicht am 12.06.2022

Sehr gelungene, objektive Analyse des Ukraine-Kriegs und der Frage, wie Europa in diese Situation geraten konnte

Zeitenwende
5

„Zeitenwende - Putins Krieg und die Folgen“ von Rüdiger von Fritsch ist ein großartiges Buch über die Ursachen, die Entstehung und den bisherigen Verlauf des Ukraine-Kriegs und gibt darüber hinaus sogar ...

„Zeitenwende - Putins Krieg und die Folgen“ von Rüdiger von Fritsch ist ein großartiges Buch über die Ursachen, die Entstehung und den bisherigen Verlauf des Ukraine-Kriegs und gibt darüber hinaus sogar noch einen Ausblick wohin das Ganze in Europa und weltpolitisch führen könnte.

Der Autor ist vom Fach und als ehemaliger Botschafter in Moskau und Warschau einer der ganz wenigen echten Experten, wenn es um den Kreml, Russland und insbesondere um eine realistische Einschätzung zu Putin und seinen Plänen geht. Rüdiger von Fritsch gibt sich dabei nicht damit zufrieden, nur die Wochen vor dem Krieg zu beschreiben. Vielmehr analysiert er sehr präzise, wie Russland aus seiner Historie heraus in einer Schwächephase die ehemaligen Kolonien verloren hat und Putin diese nun wieder erobern möchte. Vieles davon geht dabei bis zu den Ursprüngen der Rus zurück und „der kleine Bruder“ Ukraine gehört nach Putins Lesart einfach zu Russland dazu. Der Autor erklärt ferner sehr detailliert, wie sich bereits 2014 die Bedingungen im Krim-Krieg und im Donbass zugespitzt und eskaliert haben bzw. von russischer Seite ganz bewusst eskaliert wurden. Auch weist von Fritsch mehrfach darauf hin, dass es in der westlichen Welt einen großen Unterschied macht, ob sich die NATO den ehemaligen GUS-Staaten anbietet, oder ob diese Staaten bei der NATO um Schutz vor Russland bitten. Darüber hinaus wird mit Mythen aufgeräut, wie beispielsweise, dass die NATO versprochen habe, sich niemals nach Osten hin erweitern zu wollen. Ganz offensichtlich hat Russland lange Zeit kein Problem dabei im Falle von u.a. Polen, Tschechien, Ungarn oder der baltischen Staaten gesehen, fühlt sich nun aber bei der Frage, ob die Ukraine bei der NATO aufgenommen werden könnte, bedroht. Rückwirkend und völlig ohne erhobenen Zeigefinger legt Rüdiger von Fritsch offen, wie Europa die Zeichen, die eindeutig auf Krieg hindeuteten, hätte erkennen können – obgleich jeder, inklusive des Autors selbst, diese nicht wirklich auf dem Schirm hatte, sie ignoriert hat oder sie ignorieren wollte. Da auch dem Autor der Ausgang des Krieges nicht bekannt ist, diskutiert er verschiedene Szenarien und erläutert die Konsequenzen des jeweiligen Ausgangs.

Fazit: Mit „Zeitenwende“ hat Rüdiger von Fritsch in sehr kurzer Zeit (das Manuskript hatte bereits im April vorgelegen) ein großartiges Buch über Ursachen und Auswirkungen des Ukraine-Kriegs verfasst. Er geht dabei auf viele Details ein und bespricht auch Lösungswege, wie – je nach unterschiedlichem Ausgang - nach dem Krieg vorgegangen werden könnte. Zusätzlich zur historischen Komponente geht er auch sehr deutlich darauf ein, wie wirksam Sanktionen gegen Russland sich auswirken können. Mir persönlich hat das Buch sehr gut gefallen und ich kann es jedem politisch Interessierten nur wärmstens empfehlen, um sich eine eigene Meinung bilden oder aktiv bei Diskussionen mitsprechen zu können. Auch wer glauben sollte, sich bei dieser Thematik bereits recht gut auszukennen, wird eines besseren belehrt und eine enorme Erweiterung seines Wissenshorizonts zu aktuellen und geschichtlichen Fragen in Bezug auf Russland und Putin verspüren: Ein großartiges Buch, welches unbedingt gelesen werden sollte.

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Veröffentlicht am 10.06.2022

Karikatur eines (erfolgreichen) Politikers

Strömung
3

„Strömung“ ist die Romanpremiere von Jakob Augstein. Der Autor selbst ist mittlerweile ein bekannter und bewährter Journalist sowie Sachbuchautor und als rechtlicher Sohn des ehemaligen „Spiegel“-Gründers ...

„Strömung“ ist die Romanpremiere von Jakob Augstein. Der Autor selbst ist mittlerweile ein bekannter und bewährter Journalist sowie Sachbuchautor und als rechtlicher Sohn des ehemaligen „Spiegel“-Gründers Rudolf Augstein und leiblicher Sohn des Schriftstellers Martin Walser und der Übersetzerin Maria Carlsson lasten die Erwartungen natürlich ganz besonders hoch … und Jakob Augstein macht das mit seinem Erstlingswerk richtig gut. „Strömung“ ist kein Werk im Stile Heinrich Bölls, Thomas Manns oder Günter Grass‘ - den Literaturnobelpreis sollte man also nicht unbedingt im Blick haben, obwohl der Roman sprachlich schon eine ganze Menge hergibt. Es handelt sich ebenso wenig um einen politisch autobiografischen oder Schlüsselroman, und dennoch geht es um das Leben des (fiktiven) Politikers Franz Xaver Misslinger.

Dessen Karriere nimmt zu Beginn des neue Jahrtausends so richtig Fahrt auf, nachdem er sich - als bei den Klassenkameraden nicht gerade sonderlich beliebtes und ziemlich unsportliches Kind, so irgendwie trickreich durchs Leben geboxt hat, und er schließlich in der Person des „Walter“, einem ehemaligen Spitzenpolitiker, seinen großen Unterstützer gefunden hat. Mitreißende Reden halten, ja das kann Franz Xaver Misslinger so exzellent wie kaum ein zweiter und aus dem Mangel seines Namens formt er einen kernigen Slogan „Mein Name ist Franz-Xaver Misslinger und bei mir hört das Scheitern mit dem Namen auf.“, mit welchen er typischerweise sich selbst vorstellt. Sein Weg scheint bereits vorgezeichnet, hin zur Parteispitze einer freiheitlichen, demokratischen Partei (durch die Erwähnung des Dreikönigstreffens wird sie eindeutig als die FDP entlarvt) zu zeigen. Um für den entscheidenden Parteitag „die ultimative“ Rede entwerfen zu können, gönnt sich Misslinger eine inspirierende Auszeit in den USA, der Wiege der Freiheit und der Demokratie, bei der nach seiner Lesart auch seine Ahnen, die Angeln, eine entscheidende Rolle gespielt haben. Und da es mit seiner Ehe immer weiter bergab geht, nimmt er seine jugendliche Tochter, die mit beiden Beinen auf dem Boden steht und viel mehr in der Realität lebt als Misslinger, mit auf diese Reise. Wie fast schon zu erwarten, reden die beiden von Anfang an komplett aneinander vorbei.

Und so erkennt der Leser recht schnell, dass Franz Xaver Misslinger tief in seiner ganz eigenen Welt gefangen scheint, entfremdet vom normalen Menschen, vom Wähler, selbst von seiner Familie. Er geht komplett auf in der Welt der Floskeln, bei denen mit vielen Worten, ganz wenig transportiert wird; er versucht andere zu belehren und wundert sich dabei, wie es seiner Frau und seiner Tochter eindrucksvoll gelingt, komplexe Sachverhalte informativ in nur wenige Worte zu packen. Ablenkung verschaffen Franz Xaver Misslinger unter dem Decknamen Bruno Bolognese u.a. heimliche Sex-Chats. Dabei hat es ihm auf seiner Amerikareise ganz besonders Arta Demirovic, die ihm aufreizende Bilder von sich schickt, angetan. Interessant wird es, wenn Misslinger parallel zu Telefonaten und Gesprächen mit der Tochter, bei Chats mit seiner Frau und Frau Demirovic die Adressaten verwechselt.

So schafft Jakob Augstein also ein sprachlich außerordentlich gefälliges und politisch völlig überzeichnetes Bild des Franz Xaver Misslingers zu entwerfen, bei dem der Protagonisten als Karikatur oder fast schon als Persiflage eines Spitzenpolitikers daher kommt. Ohne dass sich der Leser mit Misslinger auch nur im entferntesten identifizieren könnte, gelingt es Augstein eine Atmosphäre zu kreieren, bei der man einerseits zwar Abneigung gegen Misslinger hegt, andererseits aber durchaus auch Mitleid für den Menschen empfindet, da dieser gar nicht mehr erkennen kann, wie nah er sich am Abgrund befindet.

Fazit: Jakob Augstein hat bei seinem Debüt einen sprachlich sehr schönen und ausgereiften Roman über einen Spitzenpolitiker geschrieben, dessen Hauptcharakter derart überzeichnet wurde, dass es Lesern, denen Ironie und Sarkasmus gefällt, Spaß machen muss „Strömung“ zu lesen. Sicherlich mögen ihm ganz kritische Stimmen vorwerfen, dass Augstein dabei so weit geht, dass er die Politik gewissermaßen vorführen möchte und dass die Handlung des Buches insgesamt eigentlich nirgendwo hinführt. Mir persönlich hingegen hat das Buch gerade aufgrund seiner ironischen Überzeichnung und dadurch dass erwartete Vorurteile gegen die Politik bedient werden, sehr gut gefallen. Als politisch Interessierter sollte man genügend Distanz bewahren können, um all das Lustige einer solchen Persiflage genießen zu können. Das Buchcover ist stimmig gewählt und, obwohl es vermutlich bessere Vorleser als den Buchautor geben mag, fand ich es richtig toll, dass die Hörbuchvariante als Autorenlesung von Jakob Augstein selbst gesprochen wird. In meinen Augen hat er die Bewährungsprobe seines Romandebüts hervorragend gemeistert.

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Veröffentlicht am 23.05.2022

Deep Learning“ nicht nur bei der Maschine, sondern auch beim Leser

Natürlich alles künstlich
6

Mit „Natürlich alles künstlich - Was künstliche Intelligenz kann und was (noch) nicht - KI erklärt für alle“ hat Philip Häusser ein überragendes Buch zum Thema "Künstliche Intelligenz" verfasst. Wer sich ...

Mit „Natürlich alles künstlich - Was künstliche Intelligenz kann und was (noch) nicht - KI erklärt für alle“ hat Philip Häusser ein überragendes Buch zum Thema "Künstliche Intelligenz" verfasst. Wer sich schon immer gefragt haben möchte, was unterscheidet eigentlich künstliche von realer Intelligenz und wie funktionieren eigentlich neuronale Netzwerke, sollte hier unbedingt rein schauen. Als promovierter Physiker, Wissenschaftsjournalist und auch TV-Moderator schafft es der Autor beeindruckend leicht auch komplizierte Sachverhalte verständlich darzustellen, insofern der Leser über ein gewisses naturwissenschaftliches Allgemeinverständnis verfügt.

Sehr überschaubar und gut strukturiert werden die Grundlagen der KI vermittelt und plastische Parallelen beispielsweise zum menschlichen Auge oder Gehirn gezogen. Gleichzeitig wird auch ein historischer Abriss über die Entwicklung gegeben und dargelegt, wann und wo man damals auf die Grenzen der KI gestoßen ist. Dabei wird auch auf die im Laufe der Jahre erzielten Verbesserungen der zugrunde liegenden Algorithmen eingegangen ohne, wie sonst oft üblich, auf Formeln einzugehen. Viel Wissenswertes lernt der Leser über den schwammigen Überbegriff „Künstliche Intelligenz“ und seine Untergattungen „Maschinelles Lernen“, „Neuronale Netze“ und „Deep Learning“ oder wie das Smartphone aus Filtern, die horizontale und vertikale Linien und ähnliches enthalten, im Laufe von nur weniger Layers lernen, Gesichter wiederzuerkennen oder Hunde von Katzen und Zebrastreifen von Zebras zu unterscheiden.

Für mich persönlich stellt „Natürlich alles künstlich - Was künstliche Intelligenz kann und was (noch) nicht - KI erklärt für alle“ von Philip Häusser ein sehr informatives und interessantes Buch dar, bei dem der Leser unter Benutzung der eigenen gehörig viel über über die Thematik der künstlichen Intelligenz und deren Limits lernen kann. Eine klare Empfehlung an all jene, die sich auf populärwissenschaftliche Art über KI weiterbilden möchten.

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