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Veröffentlicht am 16.08.2022

Enemy-to_lover done the right way

I Kissed Shara Wheeler
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“Coming of age in a rural, conservative-leaning town of 500 is in itself no easy feat. Growing up queer in such an environment is much harder. Supporting queer youth, regardless of one’s own political ...

“Coming of age in a rural, conservative-leaning town of 500 is in itself no easy feat. Growing up queer in such an environment is much harder. Supporting queer youth, regardless of one’s own political and religious beliefs, is crucial.
I was raised in a religious family, in a small town with minimal diversity, in terms of race, political affiliation, and, least of all, sexual orientation and gender identity. Most of my town consisted of straight, white, Christian, cisgender, working-class people, with the majority identifying as politically conservative. Queerness felt like a taboo, something rarely talked about aside from the occasional hushed rumors: “I heard so-and-so is gay!”
There were a small handful of “out” members of the LGBTQ+ community in my town and at my high school, but those who were open about their sexuality and gender identities were visibly excluded socially and, more often than not, judged for their divergence from the status quo. With minimal representation in my hometown and in the media, I grew up hiding my queerness and internalizing toxic misconceptions about gender and sexuality that, to this day, I am still unlearning.” Growing Up Queer in a Small Town (thenation.com)

Das ist ein Text von Hannah Reynolds, die darüber schreibt als queere Person in einer amerikanischen Kleinstadt aufzuwachsen. Sie spricht über den Anpassungsdruck der ständig auf sie wirkte und über die Angst zu vereinsamen.
So wie Hannah geht es vielen queeren Menschen, die sich aus Angst vor Ausgrenzung und Gewalt verstellen und verstecken müssen, ehe sie endlich als Erwachsene ihre Heimat verlassen können, um woanders als der Mensch leben zu können, der sie wirklich sind.
Wir können uns gar nicht vorstellen wie es ist sich jahrelang zu verstellen, aufzupassen was man sagt und mit wem man etwas teilt, nur weil man nicht so ist wie andere es wollen.
Wir können uns nicht die unterdrückten Gefühle und Talente, die anerzogenen Schuldgefühle und Trauma vorstellen, die man erleidet wenn man nicht-hetero ist.
Und wozu das alles? Damit unreflektierte Menschen nicht an ihrem Weltbild arbeiten müssen? Das ist unfair.
“I kissed Shara Wheeler” ist ein Jugendroman von Casey McQuiston der genau darauf eingeht und zeigt, was aus Jugendlichen wird, die ständig für ihre Identität kämpfen müssen.
Unsere Protagonistin ist Chloe Green, die Enemy-to-Lover-Geschichten verschlingt, im Theater und der Hektik drum herum aufblüht, verdammt ehrgeizig ist und schnell wegen Kleinigkeiten aufbraust. Außerdem ist sie selbst bisexuell und hat das Gefühl in der protestantischen Kleinstadt zu ersticken, nachdem sie dort aus Los Angeles mit ihrer Familie hinziehen musste, um sich um ihre Großmutter zu kümmern.
Ihr einzigen Hoffnungslichter sind ihre Theaterfreunde, die Vorfreude darauf für die Uni wegzuziehen und die Auseinandersetzung mit ihrer höchstpersönlichen und überperfekten Nemesis Shara Wheeler, deren Vater auch der Direktor der christlichen Privatschule ist die Chloe besucht.
Kurz vor dem heiß ersehnten Schulabschluss verschwindet Shara aber und damit Chloes Chance endlich zu beweisen, dass sie die bessere ist. Deswegen sieht sich Chloe gezwungen Shara zu finden, um ihren Titel als Schulbeste genießen zu können.
Auf der Suche lernt Chloe aber schnell, dass sie von ihren Vorurteilen über die Kleinstadt geblendet wurde und ihre “normalen” Mitschüler*innen doch mehr verbergen, als sie dachte - unter anderem auch, dass sie von den konservativen Normen ihrer Heimat genauso sehr wie Chloeunterdrückt werden.
“I kissed Shara Wheeler” thematisiert, was passiert wenn man von klein auf in einer Welt aufwächst, in der man sich verstellen muss, um überleben zu können.
Was das konkret für die Jugendlichen heißt wird gerade an den polaren Gegensetzen Chloe und Shara deutlich: Während Shara das perfekte, angepasste weiße hetero-christian-Dreamgirl mit blonden Haaren spielt, ist Chloe der gothic-Rebell der ständig Unruhe stiftet.
Als vorzeige-Modell ist Shara der Star am Himmel, zu dem jeder aufschaut. Das blonde Haar ist perfekt, keinmal wurde sie mit abgesplitterten Nagellack gesehen und sie hat tausend Ehrenämter, während sie regelmäßig zu den besten Parties geht. Und natürlich ist sie eine makellose Christin, die auch in ihrer Freizeit in der Schulkapelle anzutreffen ist.
Erst als Shara untertaucht und Chloe nach und nach mehr über Shara lernt merkt sie, dass Chloe nicht die einzige ist die sich ein Schutzschild zulegen musste, um in dieser Kleinstadt zu überleben. So lernt sie auch, dass nicht alle ihre queeren Freunde die Kleinstadt unbedingt verlassen wollen und nicht alle Sportler-Nerds hirnlose und dumpfe Machos sind, sondern sie auch im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihre Identität und Gender hinterfragen.
Chloe hat das alles nie erahnt - sie war zu sehr damit beschäftigt sich und ihre Freundesgruppe vor den Vorurteilen und Mikroaggressionen zu schützen, dass sie selbst Mensch Stereotypisierte und dauergereizt wurde. So hatte sie oft das Gefühl sich noch mehr behaupten zu müssen und reagierte schnell aufbrausend bei Kritik.
Aber auch Shara wird durch Chloes Suche unerwarteterweise mit sich selbst konfrontiert: Erst als Chloe Shara sucht, lernt Shara, dass sie selbst Raum einnehmen darf und dass es Menschen gibt, die sie unterstützen werden auch wenn sie nicht mehr perfekt ist. Aber weil Shara ihr leben lang eine Rolle spielte muss sie erst herausfinden, wer sie überhaupt ist und wie der Raum aussieht, den sie einnehmen will.
Insgesamt zeigt “I kissed Shara Wheeler” wie sich Menschen verhalten, wenn ihnen Normen und eine Moral auferzwungen wird, ohne Raum für ihre eigene Identität zu haben - entweder verbirgt man sich oder tickt aus, ohne genau zu wissen, wogegen man die eigene Wut richten soll.
Den queeren Kindern wurde nämlich ständig klar gemacht, dass sie fehlerhaft waren - so wurden lesbische Schülerinnen von der Schule geschmissen, wenn es das Gerücht gab, dass sie miteinander rumgemacht haben und auf die richtige Verwendung von Pronomen wurde gar nicht geachtet.
Der (christliche) Direktor versuchte ständig, die Jugendlichen zu unterdrücken, damit das Image der Schule und sein eigenes Prestige unangefochten bleibt.
Darunter litten aber nicht nur die queeren Jugendlichen, sondern auch jene die sich uneingeschränkt ihrer anerzogenen geschlechtlichen Rollen entfalten wollten - so gab es einen Sportler, der nur mit sehr viel Mühe den Mut aufbringen konnte im Schulmusical aufzutreten und einen anderen der sich durch “gender affirming” Handeln (Handlungen, mit denen man absichtlich in seiner Geschlechterrolle festigt) an seine Männlichkeit zu klammern statt zu ergründen, wieso er sich doch nicht immer männlich fühlt.
Systematisch wurden so die Jugendlichen eingeschränkt - und vielen ist das nicht einmal aufgefallen. Das was den Alltag bestimmte wurde als normal und natürlich gegeben angesehen, ohne die Idee aufkommen zu lassen, dass es auch anders gehen könnte. Dieses System besteht nämlich schon seit Jahrzehnten (wenn nicht sogar Jahrhunderten), wie Chloes Mutter es zeigte.
Sie selbst kam aus dieser Stadt und ging zu gleichen Schule, wo sie selbst erleben musste, was es bedeutet ausgegrenzt und unterdrückt zu werden, ehe sie Freiheit in Los Angeles und in der Kunst finden durfte.
Deswegen fande ich es auch so beeindrucken, als sich Chloes beste Freundin (welche lesbisch ist) dazu entschied in der Kleinstadt zu bleiben, statt nach New York zur Uni zu gehen. Sie hat sich dazu entschieden die Stadt zu verändern, um diese strikten Fesseln die die Jugendlichen ersticken zu lösen, statt wie die anderen zu fliehen.
Insgesamt ist “I kissed Shara Wheeler” ein Enemy-to-Lover-Roman der durchgehend unterhaltsam und einfühlsam zeigt, wie es ist als queere Person in einer Kleinstadt aufzuwachsen.
Man lebt in ständiger Alarmbereitschaft ohne die Möglichkeit zu haben die eigenen Interessen und Bedürfnisse ausleben zu können. Der einzige Weg zum Glück ist die Flucht in Städte die durch die vielen Subkulturen und hohe Anonymität toleranter sind, ohne neue Einflüsse in die alte Stadtgemeinschaft zu bringen und so Veränderungen zu ermöglichen.
Die Menschen die sich in diese (heteronormativen) Strukturen einfügen können haben das Glück eine Gemeinschaft zu haben, die sie unterstützt und die Macht über die zu entscheiden, die nicht reinpassen - auch Menschenverachtendes Handeln wird dann damit gerechtfertigt, dass die Person einfach “unnormal” ist und sich hätte “anpassen” können.
Ich finde es aber schade, dass Sharas Glaube nicht mehr thematisiert wurde: Bis zum Schluss bleibt es offen, ob sie ihren Glauben mit ihrer Identität vereinbaren konnte. Gerade aber diese Frage ist richtig spannend, weil ich oft das Gefühl habe, dass der Glaube gerade in Jugendromanen bei Konflikten mit der eigenen Identität das Erste ist was abgelegt wird. Wie komplex Glaube tatsächlich ist wird dabei nicht genug reflektiert und für mich fühlt es sich oft so an, als würde Jugendlichen unterstellt werden, keine ernsthaften Positionen zu etwas so “erwachsenem” wie Glauben haben zu können.
Auf der positiven Seite fande ich McQuistons Schreibstil fantastisch - sie ließ Subtil Chloes Gefühle in die Beschreibung von Situationen und Handlungen einfließen und zeigte so auch die Subjektivität von Chloes Wahrnehmung ohne jemals einen auf die Nase zu binden, dass die ihre Wahrnehmung subjektiv ist. Auch konnte man Chloe so dabei begleiten wie sich ihre Meinungen und Positionen veränderten.
Auch zeigte McQuiston schonungslos welche Konsequenzen Chloes Handeln hatte, denn auf ihrer Suche nach Shara vernachlässigte sie ihre Freunde die sie brauchten und ihre Schuldverpflichtungen, obwohl auch die letzten Noten noch wichtig waren. Dazu wurden aber keine emotionalen Debatten benötigt, den McQuiston ließ dann die Reaktionen und beschriebenen Mimiken von Chloes Freunden für sich selbst sprechen.
Und nur mal kurz am Rande - ich liebe es, dass der Titel des Buches nicht eingedeutscht wurde! Das klappt nämlich selten gut.
“I kissed Shara Wheeler” ist ein Buch, das ich allen empfehle, die humorvolle, aufgeladene und queere Enemy-to-Lover-Geschichten lieben, die nebenbei auch gesellschaftskritisch sind.
Das Buch ist queer, macht Spaß und ist durchgehend spannend ohne sparsam mit Überraschungen zu sein, weswegen es ein toller Roman für zwischen durch oder eine tolle Grundlage für tiefe Gespräche sein kann.
Ich liebe es!

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Veröffentlicht am 28.02.2022

Eine Krankheit mit vielen Vorurteilen

Als ich aus der Zeit fiel
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Für mich ist Mental Health ein wichtiges Thema, da ich davon ausgehe, dass mein Handeln davon abhängt, wie ich die Welt um mich herum wahrnehme.
Und das auch wortwörtlich, wie es Jens Jüttner mit seinem ...

Für mich ist Mental Health ein wichtiges Thema, da ich davon ausgehe, dass mein Handeln davon abhängt, wie ich die Welt um mich herum wahrnehme.
Und das auch wortwörtlich, wie es Jens Jüttner mit seinem Buch “Als ich aus der Zeit fiel” gezeigt hat.

“Als ich aus der Zeit fiel” von Jens Jüttner ist ein Sachbuch, welches 2020 durch den Pinguletta-Verlag veröffentlicht wurde und Jütters Umgang mit der eigenen Schizophrenie thematisiert.

Dabei ist Jüttners Herangehensweise interessant: Während Jüttner seine Erfahrungen und den Umgang mit seiner Schizophrenie teilt, ergänzt er seine Erfahrungsberichte mit allgemeinen Erklärungen und versucht so, seine Krankheit zu entstigmatisieren.
So macht Jüttner schnell klar, dass Schizophrenie kein Schicksalsschlag ist, den man hinnehmen muss, sondern es sich auch bei der Schizophrenie um eine Krankheit handelt, gegen die gekämpft werden kann.
Die Ursachen für das Auslösen dieser Krankheit sind nicht eindeutig bestimmbar - zu den Auslösern können traumatische Erlebnisse, aber auch Drogenkonsum, fallen. Klar ist aber, dass die Betroffenen in einer Welt gefangen sind, die sich nur um sie dreht und aus der es nur schwer ein Entkommen gibt.
Aber Jüttner zeigt, dass es ein Entkommen geben kann: Der Weg ist steinig und beginnt mit der Feststellung, dass man krank ist, ehe man mit der Suche nach den richtigen Medikamenten und der richtigen Therapie richtig Fahrt aufnimmt. Dieser Weg setzt aber auch voraus, dass man mit sich selbst und den Menschen um einen herum ehrlich ist - zu schnell kann es passieren, dass man aus Scham oder Stolz nicht die Hilfe in Anspruch nimmt, die man so dringend benötigt.

Besonders Jüttners persönliche Perspektive fand ich verdammt spannend: Psychische Krankheiten werden noch immer stigmatisiert oder klein geredet - so hat man keine Depression, sondern ist einfach faul und vegetiert vor sich hin. Und es gibt kein ADHS, sondern nur schlechte Erziehung. Auch Trauma bedeutet nur, dass man verweichlicht ist und Triggerwarnungen sind nur dazu da, dass man nicht mehr alles sagen darf. Das Outing als psychisch krank kann somit einen beruflich und sozial ins Aus führen - wenn das Outing überhaupt ernst genommen wird.

Durch Jüttners persönliche Erfahrungen, die er selbstreflektiert teilt, wird klar: Nein, psychische Krankheiten bedeuten nicht, dass man verrückt oder sozialer Dreck ist. Psychisch krank zu sein bedeutet, dass man sich selbst sein größter Gegenspieler ist und man sich ständig fragt, wieso man nicht das Gleiche kann wie alle anderen auch. Das wird dadurch gesteigert, dass man psychische Krankheiten nicht sehen kann, weswegen das Umfeld nur eingeschränkt unterstützen kann und es auch den Betroffenen selbst schwer fällt, sich ihre Krankheit einzugestehen und therapieren zu lassen.

Deswegen ist “Als ich aus der Zeit fiel” für mich ein wertvolles Buch, das ich weiterempfehlen will - nicht nur, weil sich Jüttner präzise und authentisch artikuliert und schwierige Konzepte niedrigschwellig erklären kann, sondern auch um das Verständnis für Mental Health zu fördern.

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Veröffentlicht am 10.02.2022

Begegnung bedeutet Veränderung

Kleine Philosophie der Begegnung
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Das Buch ist das, was Philosophie sein soll: Prägnant, niedrigschwellig und lebensnah.
„Kleine Philosophie der Begegnung“ ist ein Buch von Charles Pépin, welches 2022 durch den Carl Hanser Verlag veröffentlicht ...

Das Buch ist das, was Philosophie sein soll: Prägnant, niedrigschwellig und lebensnah.
„Kleine Philosophie der Begegnung“ ist ein Buch von Charles Pépin, welches 2022 durch den Carl Hanser Verlag veröffentlicht wurde und sich mit der Frage beschäftigt, was Begegnungen ausmacht.
Dabei argumentiert Pépin auf mehreren Ebenen: Wenn Begegnungen am Anfang des Buches noch das offene aufeinander zugehen waren nimmt seine Argumentation im Verlauf des Buches an philosophischer Tiefe zu, ehe sich Pépin Hegels Hermeneutik widmet und dabei durch Erfahrungsberichte den Realitätsbezug nicht verliert.
Das wundervolle an diesem Buch ist, dass kein Vorwissen benötigt wird, um gleich Anschluss zum Thema zu finden. Dieser Zugang wird durch Pépins präzise und klare Schreibweise erleichtert weswegen er auch komplexe Themen leicht verständlich vermittelt. Dabei schildert Pépin Erfahrungen, die man aus dem eigenen Alltag kennt: Sei es das wie-von-selbst entstandene Gespräch mit einer zuvor fremden Person, bei dem man sich fühlt, als würde man gerade tatsächlich gesehen werden oder wenn man mit einer Person an einem Projekt arbeitet, das überraschenderweise so viel mehr wurde.
Dabei zeigt Pépin geschickt auf, was Begegnungen mit uns machen. Oder auf Philosophendeutsch: Er zeigt, dass Begegnungen ein hermeneutischer Zirkel sind.
Denn Begegnungen führen zu Veränderungen: Veränderungen in uns und Veränderungen in der Art und Weise, wie wir die Welt betrachten. Oder konkreter: Begegnungen zwingen uns dazu unsere Stereotypen und Vorurteile zu hinterfragen und auf die Probe zu stellen. So können wir nicht mehr sagen, dass Kunst wertlos ist, wenn uns gezeigt wurde, dass Kunst erlebt werden kann. Wir können nicht mehr sagen, dass die Jugend verdorben ist, wenn wir sehen, dass Kinder mit anderen Werten aufwachsen. Wir können nicht mehr sagen, dass Frauen gleichberechtigt sind, wenn wir sehen, wie Frauen noch immer an veralteten Rollenidealen bemessen werden.
Diese Veränderungen gehen auch nicht in uns verloren, denn sie werden auch in unserer Welt wirksam – gerade dann, wenn wir anders auf Menschen zugehen und neue Möglichkeiten erkennen, uns selbst zu verwirklichen. Das passiert dann, wenn wir uns selbst durch Kunst verwirklichen, obwohl wir sie vorher geächtet haben, Jugendliche fördern, statt sie zu verurteilen oder für Frauenrechte einstehen, anstatt Frauen mangelnde Mündigkeit vorzuwerfen.
Deswegen ist dieses Buch eine Begegnung, die ich allen empfehlen kann. Es ist eines der wenigen Bücher, die mich geprägt haben und dazu führte, dass ich mehr Vorfreude im Alltag auf das Außergewöhnliche empfinden wollte. „Kleine Philosophie der Begegnung“ ist ein Buch für die Menschen, die Neugier an allem Neuen haben und es lieben in jedem neuen Kontakt Potenzial für neue Erfahrungen zu sehen.

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Veröffentlicht am 05.01.2022

Was bedeutet es eine Frau zu sein?

Milch Blut Hitze
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“Könnte es eines Tages auch ihr passieren, dass ein Mann sie kleiner macht, als sie war?” (S.88)

Am Anfang konnte ich noch gar nicht einschätzen, auf welche Reise ich mich mit diesem Buch einlasse. In ...

“Könnte es eines Tages auch ihr passieren, dass ein Mann sie kleiner macht, als sie war?” (S.88)

Am Anfang konnte ich noch gar nicht einschätzen, auf welche Reise ich mich mit diesem Buch einlasse. In jedem Fall hätte ich nicht gedacht, dass ich mich in so vielen unterschiedlichen Arten wiederzuerkennen.

“Milch Blut Hitze” ist der Debüt-Roman von Dantiel W. Moniz der 2022 durch den C.H. Beck Verlag im Deutschen veröffentlicht wird. Der Name ist dabei Programm, denn die unterschiedlichen Kurzgeschichten spiegeln verschiedene Facetten davon wider, was es bedeutet eine Frau zu sein - sei es die Milch, mit der man Neugeborene nährt, das Blut, dass man während der Periode blutet oder die Hitze aus Leidenschaft, die man in sich aufsteigen fühlt, ehe sie einen verschlingt.

Wir begleiten in voneinander unabhängig stattfindenden Kapiteln unterschiedliche Frauen dabei, wie sie an gesellschaftlichen Erwartungen scheitern, ihre Rollen hinterfragen oder sich trotz aller Hürden und Hindernissen von den Vorstellungen ihres christlich-konservativen Umfelds losreißen und dabei wie urzeitliche mesopotamische Göttinnen wirken.

Wir erhalten Einblicke in gescheiterte Schwangerschaften, gebrochene Ehen, die Verachtung einer Tochter gegenüber ihrer gefügigen Mutter, aber auch Frauen, die sich dazu entschieden haben, vogelfrei zu leben und losgelöst im Mondlicht tanzen. Wir begegnen Männern die Angst vor der potenziellen Sexualität von Frauen haben, die aus den Frauen sonst eine Lilith machen könnte, die ihre Gaben zur Befriedigung ihrer eigenen Begierden verwenden würde.

Moniz macht keinen Halt davor authentisch die unschönen Seiten des Frauseins zu zeigen - sei es die patriarchale Unterdrückung, der verlangte Gehorsam von Willen und Körper, die Angst vor oder das Sehnen nach Mutterschaft, schwache Partner, die einen nur aufhalten oder sogar Fehlgeburten und die Verdrängung von sexuellem Missbrauch.

In den Geschichten ging es nämlich nie darum, die richtige oder falsche Entscheidung zu treffen oder einen moralischen Standpunkt zu vertreten, sondern darum, Ausschnitte aus Leben zu zeigen, die auch in der Realität stattfinden könnten. Dabei haben die Figuren und ihre Erfahrungen für sich selbst gesprochen und waren unter die Haut gehend lebendig, denn der Zwiespalt, in denen sie sich befunden und die Verzweiflung, die sie gefühlt haben, machten sie menschlich und nahbar.
Deswegen hatte ich auch ständig das Gefühl einer Freundin zuzuhören, die mir von ihren Erlebnissen berichtet, und musste mich immer wieder fragen, wie ich an der Stelle der Figuren gehandelt hätte.

Während des Lesens fiel es mir dementsprechend auch schwer Abstand zu den Figuren und ihren Geschichten zu halten, denn die unterschiedlichen Geschichten sprachen Gefühle und Erfahrungen an, die ich selbst erlebt habe oder mir von einer Freundin vertraulich anvertraut hätten sein können. Es war so, als hätte es Moniz auf den Punkt gebracht, wie ich mich in ähnlichen Situationen gefühlt habe.

Aber genau das ist, was dieses Buch so bewegend macht: Die Erzählungen und Figuren sind so lebendig und lebensnah, dass sie mir unter die Haut gegangen sind, weil die Erfahrungen der Figuren mir auf die eine oder andere Art passieren könnten.
Und wie im richtigen Leben gab es in den Geschichten kein Richtig oder Falsch, sondern nur die Entscheidungen, die die unterschiedlichen Figuren mit ihrem eigenen Gewissen vereinbaren müssen.

Auch der Schreibstil hat mich beim Lesen mitgerissen, denn jede einzelne der Geschichten hatte eine unterschiedliche Stimmung, die schwer in Worte zu fassen ist: Von Befangenheit, Verachtung, Nostalgie und Mystik war vieles dabei, was dafür sorgte, dass ich mich kaum von den Zeilen lösen konnte und die Geschichten und ihre Handlunge unterstützt hat.

Präzise wurden Gefühle benannt und geschickt in Handlungen umgesetzt, die unmissverständlich aufzeigten, um was es den Figuren in dieser Situation ging und welchen inneren Kampf sie kämpfen mussten. Beim Lesen hatte ich auch das Gefühl, als wären die Geschichten magisch aufgeladen - das war gerade dann der Fall, als sich eine Figur gegenüber den Willen eines Pfarrers behauptet hat oder eine Gruppe von Frauen unter Mondschein ihr Ritual gefeiert haben - es hat sich so angefühlt, als wäre ich während dem Lesen Teil von etwas größerem gewesen.

Ich kann das Buch allen weiterempfehlen, die Freude an prägnanten und packenden Kurzgeschichten haben, die authentische Einblicke in andere Leben bieten. Man wird nicht davon verschont werden mit den unterschiedlichen Figuren mitzufühlen und wird sich selbst vielleicht mit anderen Augen zu sehen.

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Veröffentlicht am 29.12.2021

Der Appell an den inneren Misfit

Misfits
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“Außenseiter” ist einer der Begriffe, die gerne achtlos rumgeschleudert werden, ohne sich zu fragen, was dieser Begriffe wirklich bedeutet - ob im Pausenhof, auf der Arbeit, in der Familie oder Uni. Außenseiter ...

“Außenseiter” ist einer der Begriffe, die gerne achtlos rumgeschleudert werden, ohne sich zu fragen, was dieser Begriffe wirklich bedeutet - ob im Pausenhof, auf der Arbeit, in der Familie oder Uni. Außenseiter sind meistens die Leute die nicht zu einer Gruppe gehören, diejenigen mit einer abweichenden Wahrnehmung, abweichenden Interessen oder die einfach irgendwie anders wirken. Aber was heißt es ein Außenseiter - ein Misfit - zu sein? Am Anfang bedeutet es Einsamkeit, Scham und die Angst vor sozialer Ächtung. Doch mit Zeit, wenn man reift und lernt, dass es noch andere Communities da draußen gibt, bedeutet ein Misfit zu sein authentisch zu sein. Identität und Selbstbewusstsein. Ein Misfit zu sein bedeutet eine Geschichte zu haben, die von der Norm abweicht und von vielen vielleicht gar nicht erst verstanden werden kann.

Der Roman “Misfits” appelliert an jeden Misfit seine Geschichten zu teilen.

“Misfits” ist ein Roman von der Schauspielerin und Drehbuchautorin Michaela Coel der 2022 durch den Ullstein-Verlag im Deutschen veröffentlicht wurde. Dieser Roman ist Coels Appell an die eigene Authentizität und der Aufruf dazu den Mut zu haben, die eigene Geschichte zu erzählen - unabhängig davon, was der Mainstream verlangt.

Das Buch baut auf einer Rede auf, die Coel für ein Filmfestival verfasst hat. Die Rede selbst unterlag während des Schreibprozesses vielen Veränderungen: Während Coel zunächst noch eine positive und heitere Rede geschrieben hat, wurde ihr klar, dass sie zwar nicht gelogen hat, aber die Rede doch nicht ihrer Wahrheit entsprach. Coel entschied sich dazu, ihre Erfahrungen als Schauspielerin und Drehbuchautorin in einer Branche zu teilen, die auf Intransparenz und Karrieresucht aufbaut. Sie erzählt die Geschichte einer Frau, die sich gegenüber Rassismus und sexuellem Missbrauch behaupten musste, aber auch eine Geschichte über mangelndes Budget, Produzent:innen die zwar behaupteten nicht rassistisch zu sein und der Ideologie nicht angehörten, aber nicht gesehen haben, dass sie farbige Schauspieler anders behandelten. Und sie erzählt über eine Branche, die über die Art und Weise wie Geschichten erzählt werden bestimmt, aber sich gerne von denen inspirieren lässt die dem Mainstream nicht angehören.
Dabei möchte Coel Transparenz: In der Filmbranche geschieht zu viel hinter geschlossenen Türen, ohne Klarheit darüber, wie Geld fließt oder Entscheidungen getroffen werden.
Dadurch erhofft sich Coel denen eine Stimme zu geben, die vom Mainstream verschlungen oder ausgestoßen wurden, um ihnen und sich selbst Gehör zu verschaffen.

Coel hält ein Plädoyer für die, welche sich noch nicht für sich selbst stark machen können, um ihre eigenen Blick auf die Welt zu teilen.
Es sollen die Geschichten erzählt werden, die tatsächlich berühren, die authentisch sind und die sonst vergessen werden - losgelöst von den weißen und hetero-normativen Perspektive und Skripte, die unseren Alltag bestimmen.

Dabei schreibt Coel lebensnah und eingängig, ohne einem beim Lesen das Gefühl zu vermitteln, von oben herab behandelt zu werden. Vielmehr hatte ich das Gefühl, einer Freundin zuzuhören, die selbstreflektiert ihre Erfahrungen teilt und keine Angst davor hat, sich verletzlich und angreifbar zu zeigen.

Deswegen denke ich, dass dieses Buch wertvoll ist und die Leute anspricht, die sich selbst noch nicht ausdrücken können.
Das Buch ist ein Appell stolz auf sich und die eigenen Erfahrungen und auch Narben zu sein, ohne die Scheu davor, nicht dazuzugehören.

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