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Veröffentlicht am 25.10.2022

Besser als jede Talkshow zum Thema

Der Milchmann
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REZENSION – Obwohl der „Der Milchmann“ schon im Jahr 1999 erstmals erschien, hat der jetzt im Verlag Langen-Müller erneut veröffentlichte Roman des in Israel geborenen und seit seinem zehnten Lebensjahr ...

REZENSION – Obwohl der „Der Milchmann“ schon im Jahr 1999 erstmals erschien, hat der jetzt im Verlag Langen-Müller erneut veröffentlichte Roman des in Israel geborenen und seit seinem zehnten Lebensjahr in Deutschland lebenden Schriftstellers und Historikers Rafael Seligmann (75) auch nach 23 Jahren nichts an seiner gesellschaftspolitischen Brisanz verloren. Im Gegenteil: Angesichts des aktuell wachsenden Antisemitismus ist er aktuell wie zuvor und kann immer noch zum besseren Verständnis des deutsch-jüdischen wie des deutsch-israelischen Verhältnisses beitragen. Denn beiderseitiges Verständnis, aber auch Streit - „Streit wie in der Judenschule“ - sind nach Seligmanns Auffassung unabdingbare Voraussetzung, um die nach dem Holocaust zurückgebliebenen seelischen Verletzungen bei Opfern und Tätern sowie bei deren Nachkommen zu heilen. Diese tiefgreifende Vielschichtigkeit der Konflikte nach der Shoah bei den Überlebenden, ihren Angehörigen und deren Nachkommen beschreibt Seligmann, selbst Sohn eines jüdischen Emigranten aus Bayern, in seinem „Milchmann“.
Der aus Polen stammende 70-jährige Jakob Weinberg hat das Vernichtungslager Auschwitz überlebt und lebt in den 1990er Jahren als angesehener Geschäftsmann nach dem Tod seiner jüdischen Ehefrau mit einer nicht-jüdischen Geliebten in München. Seine jüdischen Freunde, alle wie er selbst osteuropäische Überlebende der Shoah, nennen ihn den „Milchmann“. Damals im Vernichtungslager hatte er eine Kiste Trockenmilch gefunden und soll damit – so wird erzählt – seine Mithäftlinge vor dem Hungertod gerettet haben. Weinberg hat dieser Legende aus Eigennutz nie widersprochen. So weit, so gut. Als sein Arzt ihm im Jahr 1995 eine Gewebeprobe entnimmt, um sie im Labor untersuchen zu lassen, wird Weinberg von Todesangst gepackt. Und es kommt noch schlimmer: Nicht nur, dass seine beiden verheirateten Kinder und seine junge Geliebte ihn wegen des beträchtlichen Erbes unter Druck setzen und zusätzlich seine Kumpel von ihm Geld für die Operation eines erkrankten Freundes fordern, sondern völlig ins Wanken gerät seine Welt, als der von ihm verehrte israelische Präsident Yitzhak Rabin einem Attentat zum Opfer fällt und Weinberg erkennen muss: Nicht nur die deutschen Nazis haben Juden ermordet, sondern jetzt ermordet ein Jude den anderen. Gibt es also auch jüdische Nazis? Sind die Grenzen zwischen Gut und Böse fließend?
Ist man als deutscher Leser gewohnt, in Büchern über den Holocaust und die Folgezeit eine meist klischeehaft pauschale Trennung zwischen Tätern (Deutsche) und Opfern (Juden) zu finden, sieht man sich in Seligmanns „Milchmann“ einer fast irritierenden anderen Sichtweise gegenüber: Der Autor beschränkt sich in seinem Roman ausschließlich auf Weinberg und seine jüdische „Mischpoke“, auf dessen eigene Familie und Freundeskreis, und zeigt die gesellschaftspolitischen Konflikte innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Es gibt demnach gravierende Unterschiede im Leben, Denken und Handeln zwischen den Generationen der Überlebenden aus Osteuropa und denen aus Deutschland, zwischen den in der jungen Bundesrepublik aufgewachsenen Kindern und den in Israel lebenden oder den nach Deutschland heimgekehrten Nachkommen – wie Rafael Seligmann selbst. Deutsche Juden sind also keineswegs als homogene Gesellschaftsgruppe anzusehen, sondern so unterschiedlich wie alle Menschen.
Seligmann lässt in seinem provozierenden Roman seine in Deutschland lebenden Glaubensgenossen nicht unverschont. In seinem Roman bestehen die Konflikte nicht zwischen Juden und Deutschen, sondern zwischen der Kriegs- und Nachkriegsgeneration sowie zwischen den orthodoxen und liberalen Juden. Wegen seiner harschen „Kritik in alle Richtungen“ und seiner Forderung nach „mehr Normalität“ im Zusammenleben von Deutschen und Juden wurde Seligmann, der sich selbst als „deutscher Jude“ sieht, schon in den eigenen Reihen als „Nestbeschmutzer“ beschimpft. Doch gerade diese Offenheit und Ehrlichkeit des Autors lässt seinen Roman „Der Milchmann“ noch heute aktuell wirken, provoziert auch den heutigen Leser zum Nachdenken und macht das Buch auch 23 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung noch immer zu einer empfehlenswerten Lektüre: „Der Milchmann“ trägt leichter zum besseren Verständnis und Miteinander bei als jede Talkshow.

Veröffentlicht am 26.08.2022

Hintergründig, aber locker geschrieben

Ein Mädchen namens Wien
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REZENSION – Ist es wirklich der Mühe wert, eine Rezension über ein kleines Büchlein im Taschenbuchformat mit nicht einmal 90 Textseiten zu schreiben? Doch, sie lohnt sich – zumindest im Falle des im Juli ...

REZENSION – Ist es wirklich der Mühe wert, eine Rezension über ein kleines Büchlein im Taschenbuchformat mit nicht einmal 90 Textseiten zu schreiben? Doch, sie lohnt sich – zumindest im Falle des im Juli in der Edition Faust veröffentlichten Kurzromans „Ein Mädchen namens Wien“ der hierzulande völlig unbekannten libanesischen Schriftstellerin Sahar Mandûr. Seit Jahren setzt sich die 45-Jährige in ihrem Beruf als Journalistin in Beirut für die rechtliche, soziale und kulturelle Situation der Frauen in ihrem Heimatland ein. „Ein Frauenleben“ lautet auch der Untertitel dieser Erzählung, die in Auszügen erstmals in dem 2021 veröffentlichten Band „Kleine Festungen“ mit Geschichten über Kindheit und Jugend in arabischen Ländern auf Deutsch erschien, vorzüglich übersetzt vom Islamwissenschaftler und Arabisten Hartmut Fähndrich.
Tatsächlich schafft es Sahar Mandûr auf knapp 90 Seiten das Leben einer modernen, selbstbewussten Frau im heutigen Libanon mit allen Höhen und Tiefen und den sich daraus ergebenden Konflikten umfassend zu schildern. Die Geburt des Mädchen mit dem für Libanesen so ungewöhnlichen Namen Wien – der Vater schwärmte für österreichische Schlagermusik – fällt in die Zeit des libanesischen Bürgerkriegs, mitten in die Auseinandersetzung zwischen arabischen Nationalisten und prowestlichen Christen. Schon damit ist die Basis für die Suche dieser Frau nach dem Sinn ihres Lebens und ihrem Platz darin gelegt. Sie ist ein zwischen Tradition und Moderne, zwischen arabischer und europäischer Kultur hin- und hergerissenes Mädchen, in weiteren Kapiteln eine junge Frau. Nur dadurch, dass sie sich über alle Tabus und Denkverbote frech hinwegsetzt, versucht sie, sich ihren eigenen Platz in der Gesellschaft zu schaffen.
Auf ihrer mehrjährigen Suche probiert sie alle Möglichkeiten aus, die sich ihr jeweils bieten und verfällt von einem Extrem ins andere – sowohl im beruflichen Bereich, im Liebesleben wie auch im Glauben. Als moderne junge Frau lässt sie sich – wenn auch unwillig, aber der Tradition gehorchend – von den Eltern mit einem ihr unbekannten Mann verheiraten. „Die Atmosphäre zwischen ihm und mir ist recht angespannt, die Stunde der Wahrheit rückt bedenklich näher: In zwei Wochen soll die Hochzeit stattfinden, und die Braut ist keine Jungfrau mehr.“ Doch bald stellt sich zur Schande ihres Mannes heraus, das er zeugungsunfähig ist. „Die ersten fünf Ärzte, die wir aufsuchten, nannte er Lügner. Danach, wir hatten damals vier Jahre Ehe hinter uns, beging er Selbstmord. Nun war ich Witwe. Ich war eine lustige Witwe. Da man mich zwang, vierzig Trauertage in der Wohnung auszuharren, ging ich halt bei Nacht aus und kehrte im Morgengrauen zurück.“
Es ist dieser freche, mal ironische, mal sarkastische Stil der Autorin, mit der sie scheinbar locker das Leben der modernen Libanesin in kurzen, oft Jahre überspringenden Episoden erzählt. Doch diese Lockerheit, der Witz und die scheinbare Oberflächlichkeit der Erzählung täuschen nicht über die Tragik dieser zwiespältigen Lebensweise vieler modern eingestellter Libanesinnen hinweg. „Ein Mädchen namens Wien“ weist schon im Titel auf diesen Konflikt hin, sein Leben einerseits der muslimischen Tradition und Kultur verbunden zu sein, andererseits aber ein modernes, westlich orientiertes Leben genießen zu wollen. Frustriert über die offensichtliche Unmöglichkeit, ein ihr genehmes Leben im Libanon führen zu können, verlässt „Wien“ ihre Heimat voll positiver Erwartung in Richtung Paris.
Man darf davon ausgehen, dass Sahar Mandûr eigene Erfahrungen in diesem Büchlein verarbeitet hat, da sie als Libanesin einige Jahre in London Journalismus studiert und dort die westliche Lebenswelt selbst erfahren hat. Vielleicht lassen sich die gesellschaftlichen Konflikte, die sich den jungen Frauen heute im Libanon stellen, von ihnen tatsächlich nur mit einer gehörigen Portion Sarkasmus und selbstbewusster Überheblichkeit ertragen. Dies ist zumindest die Erkenntnis, zu der man als Leser aus dieser witzig-hintergründigen Erzählung kommen kann. Vielleicht scheinen 20 Euro für knapp 90 Seiten Text etwas viel. Aber die Geldausgabe lohnt sich in diesem Fall durchaus – auch für männliche Leser.

Veröffentlicht am 22.08.2022

Packendes Familiendrama

Die Nacht unterm Schnee
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REZENSION - „Ein Schriftsteller verfügt selten über mehr als seine Biografie, … seine eigene, von den Echos und Schatten der Vergangenheit und dem Vorschein der Zukunft umschwebte Geschichte“, schreibt ...

REZENSION - „Ein Schriftsteller verfügt selten über mehr als seine Biografie, … seine eigene, von den Echos und Schatten der Vergangenheit und dem Vorschein der Zukunft umschwebte Geschichte“, schreibt der mehrfach preisgekrönte Schriftsteller Ralf Rothmann (69) zu Beginn seines im Juli beim Suhrkamp Verlag veröffentlichten Romans „Die Nacht unterm Schnee“. Mit diesem Buch schließt er nach „Im Frühling sterben“ (2015) und „Der Gott jenes Sommers“ (2018) seine autobiografisch geprägte Trilogie über den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit ab. Dieser dritte Band lässt sich zwar auch ohne die beiden ersten gut lesen, doch wäre deren vorherige Lektüre zum besseren Verständnis der drei wichtigsten Charaktere hilfreich. Bestimmte den ersten Band die Zwangsrekrutierung des 17-jährigen Melker-Lehrlings Walter Urban, waren es im Folgeband die 12-jährige Luisa Norff und deren Erlebnisse kurz vor Ende des Kriegs, steht nun im abschließenden Band das durch Flucht und Vergewaltigungen geprägte Leben von Elisabeth Urban im Vordergrund, die nach dem Krieg in der Ehe mit Walter vergeblich Halt zu finden sucht.
Aus Luisas Erzählungen über gemeinsame Jahre in Schleswig-Holstein im Restaurant der Mutter, in dem Elisabeth als Büfettkraft arbeitet, während ihr Verlobter Walter Melker auf einem Gutshof ist, aus späterer Korrespondenz beider Frauen sowie aus Luisas Eindrücken und Erleben bei späteren Besuchen des Ehepaares auf dem Gutshof und schließlich im Ruhrgebiet, wo Walter nun als Bergmann arbeitet, erfahren wir vom hoffnungslosen Versuch des kriegsgebeutelten Paares, in den Jahren 1945 bis 1980 ein irgendwie erträgliches Leben zu führen. Nicht die Liebe, sondern die Schrecken der Vergangenheit haben beide ein Paar werden lassen. „Während der stille Walter sich mit seiner Geschichte [im Bergbau] unter Tage vergrub …., vermied seine Frau es, zur Besinnung zu kommen …“. Die hart arbeitende Frau und Mutter zweier Kinder tanzt auf jedem Volksfest und in Bars, um Durchlittenes zu vergessen.
Rothmann thematisiert in seinem Roman, wie die Kriegserlebnisse nicht nur die Seelen vieler Menschen jener Generation geschädigt hat, sondern auch in den Generationen der Kinder und Enkel nachwirken kann. Es geht um die Unfähigkeit der Betroffenen, aus eigenen Gewalterfahrungen zu lernen. So versucht Walters und Elisabeths inzwischen zum Schriftsteller gewordener Sohn Wolf, ein literarisches Selbstbildnis des Autors Ralf Rothmann, das Verhalten der gelegentlich gewalttätigen Mutter sich zu erklären: „Aus Frust über die freudlose Ehe oder auch aus Wut über seine [Walters] Vorwürfe und Drohungen … packte sie mich, das kleine Abbild ihres starken Mannes, bei den Haaren, um meinen Kopf gegen den Spülstein zu schlagen.“
Es ist die erschreckende Vorgeschichte der mehrfach Vergewaltigten, die die eigentlich lebensfrohe Elisabeth in jungen Jahren hart und verbittert werden ließ. „Ach Mensch, was hätte nicht alles werden können ohne diesen ollen Krieg.“ Nachdem ein Selbstmordversuch scheitert, nimmt sie auf ihre Art auf Volksfesten und in Tanzschuppen Rache an den Männern, indem „sie sich kühl berauschte an diesem einen eruptiven Moment der Schwäche, den sich die Männer nach Feierabend in ihren Armen leisteten. Der gab ihr eine gewisse Macht und damit zeitweise das ersehnte Selbstwertgefühl ….“
Ralf Rothmann schreibt in einfühlsamen, stellenweise auch in unerbittlichen Worten und in Einzelheiten geschilderten Milieu- und Alltagssituationen über die Sehnsüchte der verlorenen Generation. Als älterer Leser vermag man sich nur zu gut in die vom Autor sehr authentisch wiedergegebene Atmosphäre und Szenerie jener Nachkriegsjahre einfühlen, als viele Eltern nur vergessen oder verdrängen wollten und auf Fragen der Kinder schwiegen. Man erinnert sich noch an die damals modern wirkenden Wohnungseinrichtungen, die Kleidung, die Musiktitel. Doch der unbedingt lesenswerte und preiswürdige Roman „Die Nacht unterm Schnee“ ist nicht nur Rückschau auf vergangene Zeiten. Er ist auch ein aktueller Roman angesichts der vielen Verzweifelten in heutigen Kriegsgebieten, der auch jüngeren Lesern unbedingt zu empfehlen ist.

Veröffentlicht am 07.08.2022

Historisch authentisch und humorvoll

Das wahre Motiv
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REZENSION – Ein Serienmörder schlägt im Fasching des Jahres 1895 im Münchner Künstlerviertel zu. Ausgerechnet der preußische Reserveoffizier Wilhelm Freiherr von Gryszinski, der mit Kunst und Künstlern ...

REZENSION – Ein Serienmörder schlägt im Fasching des Jahres 1895 im Münchner Künstlerviertel zu. Ausgerechnet der preußische Reserveoffizier Wilhelm Freiherr von Gryszinski, der mit Kunst und Künstlern nur wenig anfangen kann, wird vom Münchner Polizeidirektor Ludwig von Welser (1841-1931) mit der Ermittlung beauftragt. Doch der junge Kriminalist, den der Polizeidirektor erst vor eineinhalb Jahren aus Berlin als Sonderermittler zur königlich bayerischen Gendarmerie geholt hat und der sich schon bald nach Dienstantritt in seinem ersten Mordfall bewähren konnte, ist wie kein anderer für diesen Auftrag geeignet: Er hatte als junger Jurist beim berühmten Grazer Strafrechtler Hans Groß (1847-1915), dem Gründer der modernen Kriminologie, hospitiert und soll nun in der bayerischen Hauptstadt die neuen, von Groß erfundenen kriminalistischen Methoden wie Fingerabdruck- und Spurensicherung am Tatort einführen, zumal es in München noch keine richtige Kriminalabteilung gibt. So macht sich der kürzlich zum preußischen Major der Reserve beförderte Freiherr mit seinem neumodischen, ebenfalls von Hans Groß entwickelten Tatortkoffer, der bei der Gendarmerie inzwischen Gryszinskis Markenzeichen ist, und, unterstützt von den beiden Wachtmeistern Vogelmaier, genannt Spatzl, und Eberle, an die Ermittlungsarbeit in einem von Künstlern geprägten, moralisch lockeren Umfeld, das ihm als Preußen mental völlig fremd ist.
Nach ihrem erfolgreichen Romandebüt „Der falsche Preuße“ (2021) über Gryszinskis ersten Mordfall, konzentriert sich Uta Seeburg in ihrem Folgeband „Das wahre Motiv“, kürzlich im Verlag Harper Collins erschienen, auf das bunte Faschingstreiben in Schwabing, dem als „Schwabylon“ berüchtigten Viertel mit seinen sogar für Münchner Konservative allzu lockeren Moralvorstellungen und rauschenden Festen. Auf der Suche nach dem unheimlichen Mörder, der seine Opfer in kunstvollen, an Gemälde der klassischen Mythologie erinnernde Posen drapiert, muss der preußische Kriminalist tief ins Umfeld der Schwabinger Bohème eintauchen, sich mit konservativen Malerfürsten wie Franz von Lenbach und Franz von Stuck als Vertreter der konservativen Künstlergesellschaft Allotria abgeben ebenso wie mit modernen Künstlern der jungen Münchner Secession oder mit progressiven Dichtern wie Frank Wedekind und Oskar Panizza.
Als wäre dies nicht genug, überrascht auch noch Ehefrau Sophie ihren Mann und die entsetzten Schwiegereltern aus altem preußischen Adel mit einem selbst verfassten Kriminalroman, für dessen Vermarktung sie sogar schon den jungen, kürzlich nach München übersiedelten Verleger Albert Langen (1869-1909) gewinnen konnte. Und zu allem Überfluss nistet sich dann noch der preußische Geheimdienstmitarbeiter Carl-Philipp von Straven ein weiteres Mal in Gryszinskis Wohnung ein mit dem Auftrag, die junge Künstlergruppe auszuspionieren. In ihr vermutet die preußische Regierung eine anarchistische Zelle, die ein Attentat auf den Kaiser plant. Wieder schon im ersten Fall steckt Gryszinski in dem Gewissenskonflikt, entweder seine Ehre als bayerischer Beamter zu verletzen oder jene als preußischer Offizier zu verlieren.
Auch in ihrem zweiten Krimi schafft es die promovierte Literaturwissenschaftlerin Uta Seeburg ausgezeichnet, diese unruhige, vom gesellschaftlichen Wandel geprägte Zeit der Jahrhundertwende – sei es in der Kunst, in der Gesellschaft des Adel oder der Kriminalistik – historisch authentisch und atmosphärisch dicht einzufangen. Vor allem aber gelingt der gebürtigen Berlinerin, die selbst seit vielen Jahren in München lebt, die mentalen und kulturellen Unterschiede zwischen Preußen und Bayern augenzwinkernd und humorvoll zu zeigen, deren Grenzen letztlich doch fließend erscheinen: Seeburgs Preuße aus Berlin entwickelt recht schnell einen unerwartet unpreußischen Hang zum Genuss bayerischer Leckereien wie Bier und Schweinsbraten. Nicht zuletzt diese „Reibung“ bekannter Klischees über Preußen und Bayern geben den Krimis um den preußischen Offizier in München ihr gewisses Alleinstellungsmerkmal unter den deutschen Krimis, verschaffen ihnen den besonderen Reiz und machen deren Lektüre zum erholsamen Spaß. Wir dürfen uns schon auf den dritten Band freuen, der – so die Aussage der Autorin – bereits in Arbeit ist.

Veröffentlicht am 26.05.2022

Historisch interessant und sehr authentisch

Der blonde Hund
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REZENSION - Nach ihren historischen Berlin-Krimis „Der weiße Affe“ (2017) und „Die schwarze Fee“ (2019) folgte im Februar im Pendragon Verlag mit „Der blonde Hund“ Kerstin Ehmers dritter Fall für den jungen, ...

REZENSION - Nach ihren historischen Berlin-Krimis „Der weiße Affe“ (2017) und „Die schwarze Fee“ (2019) folgte im Februar im Pendragon Verlag mit „Der blonde Hund“ Kerstin Ehmers dritter Fall für den jungen, aus dem provinziellen Wittenberge (Elbe) stammenden Kommissar Ariel Spiro, der nun inmitten politischer und sozialer Wirren der Zwanziger Jahre in der Reichshauptstadt rätselhafte Mordfälle aufzuklären hat.
Diesmal wird im November 1925 eine Leiche aus einem Berliner Kanal gefischt, die bald als ein Journalist vom „Völkischen Beobachter“, dem Presseorgan der erstarkenden Nationalsozialisten, identifiziert wird. Doch der Fall erweist sich als kompliziert, zumal es in derselben Nacht noch ein zweites, schwer verletztes Opfer – einen jungen Mann – gegeben haben soll, das allerdings nicht mehr auffindbar ist. Erst der später auftauchende Ausweis des jungen Mannes lässt einen Zusammenhang erkennen: Der ermordete Journalist nutzte als „Ziehvater“ des früheren Waisenjungen, den er „Canis“ (Hund) nannte, schamlos aus. Auf der Suche nach diesem „blonden Hund“, den er als Zeugen braucht, kommt Spiro in Sachsen und Ostpreußen mit den Artamanen in Kontakt, einem vom 25-jährigen Heinrich Himmler als Jugendbewegung gegründeten radikal-völkischen Siedlungsbund.
Während Spiro keine Zeit für Freundin Nike Fromm hat, befasst sich diese als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sexualwissenschaft des Dr. Magnus Hirschfeld dort mit einem schwer misshandelten Strichjungen. Beim Versuch, die Verursacher dieser Misshandlung zu finden, gerät sie ins Umfeld homosexueller Perversitäten. An diesem Beispiel zeigen sich die negativen Auswüchse damaligen Bemühens um sexuelle Freiheit, deren unterschiedliche Facetten ebenso stimmig in die Romanhandlung eingebaut sind wie der damals in den Salons der gehobenen Gesellschaft gepflegte Spiritismus und die Verbreitung der von Rudolf Steiner gegründeten Anthroposophie.
So schildert Kerstin Ehmer auch in ihrem dritten Krimi wieder auf sehr eindrucksvolle Weise das politische und gesellschaftliche Leben in der Reichshauptstadt zur Zeit der überhaupt nicht goldenen Zwanziger Jahre in all seinen vielfältigen Erscheinungsformen. Politisch erleben wir das allmähliche Erstarken der Nationalsozialisten, die zu einer bedrohlichen Macht heranwachsen, ohne von der Bevölkerungsmehrheit schon als Gefahr erkannt zu werden. Für die NSDAP ist es die Zeit der „Säuberungen“, in der sie sich von brutalen, in den Vorjahren noch nützlichen Kämpfern befreit, um künftig als seriöse national-konservative Partei politischen Einfluss zu gewinnen. Die Voraussetzungen sind gut: Der Antisemitismus zeigt sich bereits offen in allen Schichten der Gesellschaft.
Ihre atmosphärisch dichte Schilderung dieses vielschichtigen, prallen und turbulenten Berliner Lebens in einer schwierigen Zeit voller Widersprüche verknüpft die Autorin mit einem spannenden Kriminalfall. Sowohl Ariel Spiro als auch seine Freundin Nike Fromm geraten darin in einen unaufhaltsamen Strudel aus politischer Macht und brutaler Gewalt, aus dem sie sich nicht befreien können. Zwar klären sich die Mordfälle trotz aller Hindernisse am Ende auf, doch die eigentlich schuldigen Hintermänner bleiben unentdeckt. Zu weit reichen inzwischen schon die Tentakel der Nazi-Führung – sogar bis in Spiros Kriminalkommissariat. So steht Kerstin Ehmers Kommissar letztlich nicht als erfolgreicher Ermittler da, sondern als ziemlich hilfloser Kriminalist, dem auch die Unterstützung seiner Vorgesetzten versagt bleibt. Dieser offene Schluss des Romans lässt seine Leser nachdenklich zurück, denn wir alle wissen, wie die Zeitgeschichte weitergeht. Wer sich für historische Krimis über die Zeit der Weimarer Republik interessiert, sollte diesen in Sprachstil und Authentizität ausgezeichneten Roman „Der blonde Hund“ lesen.