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Veröffentlicht am 29.06.2017

Eindringliches Plädoyer für den Respekt der Persönlichkeit

Stell dir vor, dass ich dich liebe
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„Stell dir vor, dass ich dich liebe“ ist nach „All die verdammt perfekten Tage“ (meine Rezension dazu hier: KLICK) ein neues Buch von der US-Amerikanerin Jennifer Niven für Jugendliche ab 14 Jahren. Der ...

„Stell dir vor, dass ich dich liebe“ ist nach „All die verdammt perfekten Tage“ (meine Rezension dazu hier: KLICK) ein neues Buch von der US-Amerikanerin Jennifer Niven für Jugendliche ab 14 Jahren. Der Titel allein verdient ein Ausrufezeichen in Bezug auf den Inhalt der Geschichte, denn es scheint unmöglich zu sein, dass die Protagonisten in Liebe zueinander finden. Jack und Libby begegnen einander am ersten Tag der elften Klasse der Highschool in Amos/Ohio. Auf dem Cover ist ein Stern, denn wie Sterne sind die Sommersprossen von Libby für Jack und erst sehr viel später merkt er, dass er Libby damit identifiziert und mit vielem mehr, dass ihre Persönlichkeit ausmacht. Das ist für beide wichtig, denn Libby ist übergewichtig und Jack gesichtsblind. So braucht es eine Menge Zeit und viele Einsichten, damit beide eine Brücke des Verstehens zueinander bilden können.

Jack ist der smarte Typ, gut aussehend und amüsant. An potentiellen Freundinnen mangelt es ihm nicht. Doch durch einen Unfall in seiner Kindheit ist ihm die Möglichkeit, Gesichter zu erkennen, abhanden gekommen. Selbst seine Eltern und beiden Brüder vermag er nicht durch bloßes Ansehen zu erinnern. Keiner weiß davon und so lebt er ständig auf einem Pulverfass, dass seine Unfähigkeit auffliegt. Eine Art Sicherheit geben ihm seine besten Freunde, die so prägnante Merkmale aufweisen, dass er sie von anderen unterscheiden kann. Leider ist er dadurch in einer gewissen Abhängigkeit von deren Verhalten anderen gegenüber und ihren Vorstellungen, wie er selbst zu agieren hat.

Libby kehrt nach einer langen Zeit wieder zur Schule zurück. Nach dem Tod ihrer Mutter hat sie begonnen, sinnlos zu essen. Mit fast dreihundert Kilogramm war sie schließlich zu dick, das Haus zu verlassen. Ihr Weg ins Krankenhaus ging durch sämtliche Medien. Etwa die Hälfte ihres Gewichts hat sie inzwischen verloren, aber ihr Bild in der Öffentlichkeit hat sich manifestiert. Am ersten Schultag nach den Ferien wird sie genau zu der von Libby erwarteten Zielscheibe für den Spott der Klassenkameraden, die sie von früher her wieder erkennen und miteinander über sie zu tuscheln beginnen. Bei einem besonders gemeinen Spiel mit ihr beweist Jack seine Solidarität zu seinen Schulfreunden, trifft Libby damit aber an ihrem wunden Punkt.

Laut der Autorin ist der Roman ein persönliches Buch und genau das ist es, was die Geschichte so glaubwürdig und realistisch macht. Jennifer Niven hat als Jugendliche selber Gewichtsprobleme gehabt und lässt ihre Erfahrungen hier einfließen. Noch eindringlicher wird die Schilderung durch das Stilmittel der Übertreibung, denn erst durch Libby besonders hohes Gewicht werden auch die Medien auf sie aufmerksam und bringt ihr eine nicht wünschenswerte Form der Bekanntheit und Stigmatisierung.

Zum Thema Prosopagnosie (Gesichtsblindheit) hat die Autorin sehr gut recherchiert und das Gespräch mit Betroffenen gesucht, davon einige in ihrer Familie. So ist auch die Darstellung des Charakters Jack authentisch, sein Verhalten für mich als Leser nachvollziehbar. Eindringlich ist die Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Peergroups in der Erzählung, anschaulich beschreibt Jennifer Niven die Entstehung und Ausführung von Bullying sowie die Probleme von Lehrern und Eltern im Umgang mit den betroffenen Jugendlichen. Der schulische Lösungsansatz erschien mir sinnvoll. Bis auf ein paar versteckten Hinweisen fehlte mir jedoch ein wenig der Hinweis auf die gesundheitlichen Folgen von Übergewicht.

„Stell dir vor, dass ich dich liebe“ ist ein wichtiges Buch um zu zeigen, dass jede Person einzigartig ist und sich diese Verschiedenartigkeit durch psychische und physische Unterschiede ergeben. Jeder hat seine Talente und ist zu respektieren. An einem Maß bestimmter Verhaltensregeln kommt man im Alltag nicht vorbei, ansonsten sollte jeder so leben können, wie er sich wohlfühlt ohne dafür schikaniert zu werden. Gerne empfehle ich das Buch weiter, auch an Erwachsene.

Veröffentlicht am 29.06.2017

Familiengeschichte in bewegten Zeiten

Alles, was folgte
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Fast 48 Jahre sind vergangen seit Oskar „seine“ Ingrid im Februar 1942 beim Tanzen kennen gelernt hat. Es ist ein wichtiger Tag für ihn, der seine folgenden Wochen, Monate und Jahre geprägt hat. Im Buch ...

Fast 48 Jahre sind vergangen seit Oskar „seine“ Ingrid im Februar 1942 beim Tanzen kennen gelernt hat. Es ist ein wichtiger Tag für ihn, der seine folgenden Wochen, Monate und Jahre geprägt hat. Im Buch „Alles, was folgte“ schildert Renate Ahrens nicht nur das Kennenlernen, sondern auch die anschließenden Erlebnisse der beiden im gebeutelten Hamburg und Oskars Kampf im Krieg an der Ostfront und in Gefangenschaft. Die Möwen auf dem Cover des Buchs bewegen sich scheinbar frei und unbesorgt. Diese Unabhängigkeit ist Oskar und Ingrid leider fremd, denn ihre Zukunftsvorstellungen werden aufgrund ihrer Jugend von der elterlichen Generation gezügelt.

Im Vordergrund der Geschichte steht jedoch Katharina, 44 Jahre alt, in Hamburg lebend und freiberufliche Fotografin in Kriegs- und Krisengebiete. Der Roman spielt im Jahr 1990 und auch für die Protagonistin ist es aufgrund der gerade geöffneten Grenzen zu Ostdeutschland eine bewegende Zeit. Eines Tages erhält sie einen Packen mit Briefen von jemandem aus Ostberlin, den sie nicht kennt. Die Briefe hat ihre Mutter Maria nach Ende des Krieges an ihre Schwester Ingrid geschrieben. Für Katharina sind die Briefe kaum fassbar, denn aus ihrem Inhalt geht hervor, dass nicht Maria ihre leibliche Mutter ist, sondern Ingrid. Zunächst will sie den Gedanken daran komplett verdrängen, aber das Thema lässt sie nicht ruhen und so begibt sie sich auf die Suche nach Ingrid und ihren unbekannten Vater, während sie bereits die nächsten nicht ungefährlichen Reisen in Krisenregionen plant.

Die Kapitel wechseln in unbestimmter Reihenfolge zwischen der Ich-Erzählerin Katharina und Oskar. Katharina hat in ihrem Beruf die Gefahr nie gescheut, auch in ihrer neuen Beziehung stellt sie ihren Job an die erste Stelle. Ihre Motivation dazu kann sie nicht genau benennen, doch sie wird mit jeder Reise zu einer Zeitzeugin. Mit ihren Bildern möchte sie zeigen, was eigentlich nicht geschehen darf und so die Öffentlichkeit darauf aufmerksam machen. Auch Oskar hat an bedeutenden Geschehen der Geschichte teilgenommen. Anders als Katharina hatte er nicht die Wahl, sich dem zu entziehen. Beide Protagonisten erzählen von der Liebe, nach der sie gesucht und sie verloren haben und nach Möglichkeiten ihr Leben danach neu auszurichten.

Der Roman liest sich leicht und gängig. Die Handlung treibt ständig voran. Bereits zu Beginn der Erzählung erhält Katharina die Briefe von Maria und ich fieberte über den folgenden Seiten mit, ob es ihr gelingen wird, ihre leiblichen Eltern zu finden. Aber auch die Erlebnisse von Oskar in Kriegszeiten und der Zeit danach ließen mich nicht unberührt.

Renate Ahrens ist es gelungen, wichtige Daten des letzten Jahrhunderts gekonnt in eine Familiengeschichte einzuweben und dabei noch ein paar unbekanntere Fakten einzufügen. Obwohl ich als Leser aufgrund der parallel geführten Erzählstränge einen leichten Wissensvorsprung bei der Suche nach ihren Eltern vor Katharina hatte, blieb sehr lange offen, ob sie erfolgreich verlaufen würde. Der Schluss des Romans ist überraschend und wird nicht jedem gefallen. Mich hat der Roman fasziniert und mir nochmal einige wichtige Zeitgeschehnisse in Erinnerung gerufen. Gerne empfehle ich das Buch daher weiter.

Veröffentlicht am 15.04.2024

Übergrifflichkeit, Mord und verzwickte Familienverknüpfungen

Ostseefinsternis
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Die Gegend zwischen Fehmarnsundbrücke und der nächsten Ortschaft auf der Festlandseite ist für mich verbunden mit Strandurlaub. Im Kriminalroman „Ostseefinsternis“ von Eva Almstädt wird dort allerdings ...

Die Gegend zwischen Fehmarnsundbrücke und der nächsten Ortschaft auf der Festlandseite ist für mich verbunden mit Strandurlaub. Im Kriminalroman „Ostseefinsternis“ von Eva Almstädt wird dort allerdings ein Mann tot aufgefunden, der vermutlich ermordet wurde. Für die Lübecker Kommissarin Pia Korittki ist es inzwischen die 19. Ermittlung in einer Serie von Kriminalfälle, die an der Ostseeküste und der Umgebung geschehen. Das Cover vermittelt einen stimmungsvollen Eindruck des Tatorts.

Pia Korittki hat nicht nur mit der Aufklärung des Todesfalls einiges zu tun, sondern auch mit einer Vergewaltigung, die kurze Zeit vorher geschehen ist. Es wird vermutet, dass die beiden Verbrechen in einem Zusammenhang stehen könnten. Pia und ihre Kolleg(inn)en stoßen bei den Ermittlungen auf verzwickte Verknüpfungen zweier Familien, die miteinander verfeindet sind. Es ist nicht einfach, hinter die Wand aus Verschweigen, Lügen, Rache und Missgunst zu sehen. Doch eigentlich hatte Pia geplant, die Herbstferien mit ihrem Sohn im neuen Haus ihres Freunds zu verbringen. Es kommt ihr sehr gelegen, dass die Unterkunft nur wenige Kilometer vom Tatort entfernt liegt.

Als Leserin habe ich zum ersten Mal ein Buch der Ostsee-Krimireihe von Eva Almstädt gelesen, weil die Geschichte dort spielt, wo ich gerne urlaube. Jedoch wurde ich von der Autorin in ausreichendem Maße mit Hintergrundinformationen zum beruflichen und privaten Umfeld Pia Korittkis informiert. Nur über Pias Freund hätte ich mir noch mehr Auskünfte gewünscht, die aber für die Ermittlungen keine Rolle gespielt hätten.

Die Autorin baut von Beginn an Spannung auf. Bei den Befragungen der Tatverdächtigen wird es für die Kommissarin nicht einfach, die familiären Verbindungen zu durchschauen. Anders als Pia hatte ich auf der vorderen Klappenbroschur einen Stammbaum zur Verfügung, bei dem ich nachschlagen konnte. Neben den beiden im Fokus stehenden Familien benehmen sich auch der neue Arzt des Dorfs und die Mitarbeitenden eines Ingenieur- und Architekturbüro in der nächsten Kleinstadt verdächtig. Es gibt mehrere Personen, die verschiedene, jedoch ein gutes Motiv für ein Verbrechen haben.

Für mich war es ein besonderes Leseereignis, weil ich die Lokalitäten kannte. Das Dorf ist überschaubar, so dass sich die Bewohner, wie in der Geschichte, vermutlich gut kennen, mal abgesehen von den Touristen. Dadurch wird Pias Arbeit und die ihrer Kolleg(inn)en nicht einfacher, denn man ist auf den eigenen Ruf bedacht. Bevor es am Ende zu einer Auflösung mit steigender Spannungskurve kommt, verharren die Ermittlungen ein wenig auf der Stelle. Währenddessen hinterfragt Pia sich selbst und ihre Arbeit. Im Umfeld ihres Privatlebens kommen ihr unerwünscht Tatverdächtige in den Blick, was zum Schluss nochmal für einen zusätzlichen Konflikt sorgt.

„Ostseefinsternis“ von Eva Almstädt hat mich gut unterhalten, denn es vermittelt das mir realistisch erscheinende Bild klassischer Kriminalarbeit in einem verzwickten Fall. Gerne empfehle ich das Buch an Lesende des Genres weiter.

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Veröffentlicht am 09.04.2024

Stimmungsvolle Urban-Fantasy

Nightowls
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In ihrer Urban Fantasy „Nightowls – Boten der Dämmerung“ wirft Kathrin Tordasi einen besonderen Blick auf die Nacht, in der Nyx, James und Leon ihre Fähigkeiten ausleben können. Die drei haben verschiedene ...

In ihrer Urban Fantasy „Nightowls – Boten der Dämmerung“ wirft Kathrin Tordasi einen besonderen Blick auf die Nacht, in der Nyx, James und Leon ihre Fähigkeiten ausleben können. Die drei haben verschiedene Eltern, die verstorben sind, als sie noch Kinder waren. Deswegen wurden sie von Diane Harling adoptiert und auf deren Wohnsitz gebracht, bevor der Orden des Ersten Tages auf ihre speziellen Fähigkeiten aufmerksam werden konnte.

Die Adoptivgeschwister verfügen über paranormale Talente. Diane möchte die drei davor bewahren zum Chaosträger zu werden. Ihrer Meinung nach wird es dazu kommen, wenn sie ihre speziellen Begabungen vernachlässigen oder undiszipliniert damit umgeht. Dennoch kommt es zu einem tragischen Vorfall mit weitreichenden Konsequenzen. Einige Jahre später rettet James eine Zivilistin vor den Übergrifflichkeiten eines Boten des Tages. Bald wird deutlich, dass es in London jemanden geben muss, der die Stadt mit Chaos füllt. Diese oder dieser Unbekannte muss aufgehalten werden, damit der dadurch vermutete Weltuntergang verhindert werden kann.

In ihrer ersten Fantasy für erwachsene Lesende erschafft Kathrin Tordasi eine Welt voller Mythen, die ineinandergreifen. Nyx kann Träume zu sich locken, doch mit ihrem zunehmendem Alter fühlt sie Unstimmigkeiten darin anwachsen. Außerdem ist es ihr eigen, eine Tür zur Nacht zu öffnen. Dagegen kann James Dunkelheit erzeugen und er spürt das Chaos in anderen Menschen. Ihre Talente ergänzen sich im Kampf gegen das Böse, das in der Geschichte immer mächtiger wird und schließlich zu einem furiosen Finale führt. Bis dahin jedoch versorgte mich die Autorin als Leserin mit zahlreichen Mysterien rund um die Nacht und dem drohenden Chaos. Die Erklärungen sind komplex, wodurch das Ausmaß des drohenden Grauens erst langsam bewusst wird.
Ebenso wie bei ihrer Kinderbuchserie „Brombeerfuchs“ geht es in der Geschichte darum, dass man durch den gemeinsamen Einsatz seiner Fähigkeiten eher zu einer Lösung gelangt. Jedoch scheinen die Widersacher gute Gründe zu haben, das Chaos auf ihre Weise zu verhindern. Die Autorin versucht redensartlich die zwei Seiten einer Medaille sichtbar zu machen. Selbst Nyx und James sind sich nicht immer klar darüber, ob sie auf der Seite des Guten stehen, was die Lektüre zu einem abwechslungsreichen Leseerlebnis macht, obwohl die Begründungen auch zu gewissen Längen führen. In „Nightowls“ sind die Gefühle der Protagonistinnen und des Protagonisten tief, manchmal zwiespältig und konfliktbehaftet. Ihre Handlungen sind von Freundschaft, Liebe, Hass, Furcht und Trauer getrieben.
„Nightowls – Boten der Dämmerung“ von Kathrin Tordasi ist eine Geschichte über die Rivalität zwischen Nacht- und Tagboten. Die Autorin schlägt sowohl laute wie auch leise Töne an, wenn sie das Chaos wirbeln lässt, beziehungsweise die entsprechenden Erklärungen dazu beschreibt. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung für diese stimmungsvolle Fantasy.

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Veröffentlicht am 02.04.2024

Berührende Geschichte über das Leben der Großtante des Autors

Annas Lied
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Der Debütroman „Annas Lied“ von Benjamin Koppel, einem dänischen Jazz-Saxophonisten, Komponisten und Musikproduzent, ist eine Hommage an seine Großtante, deren Leben er darin beschreibt. Beruhend auf Fakten ...

Der Debütroman „Annas Lied“ von Benjamin Koppel, einem dänischen Jazz-Saxophonisten, Komponisten und Musikproduzent, ist eine Hommage an seine Großtante, deren Leben er darin beschreibt. Beruhend auf Fakten und ergänzt mit Fiktion erzählt er von seiner Familie, die Ende der 1920er Jahre in Kopenhagen lebte. Damals war Hannah, die Schwester seines Großvaters, acht Jahre alt. Sie hatte vier ältere Bruder. Die Wurzeln ihrer Eltern lagen in Polen, doch inzwischen lebten weitere Verwandte in der Nähe. In der dänischen Hauptstadt hatte Hannahs Vater sich als Schneider niedergelassen.

Der Autor lässt den Alltag in der quirligen Familie lebendig werden. Er beschreibt die jüdischen Riten, die Hannahs Eltern befolgen und darauf achten, dass dabei ihre Kinder eingebunden sind. Klassische Musik spielt eine große Rolle. Drei der vier Brüder von Hannah wurden Musiker. Der Wunsch der Mutter, dass ihre Söhne Frauen heiraten, die ihrer Religion angehören, ging jedoch nicht in Erfüllung, obwohl erbetene Ehevermittlungen erfolgreich versprechend waren. Aufgrund ihres musischen Talents ist Hannahs großer Traum, Pianistin zu werden, doch ihre Eltern haben eine ganz andere Zukunft für sie geplant.

Hannahs Mutter Bruche erweist sich als Matriarchin, die ihren Willen unter Umständen mit Wutanfällen durchzusetzen vermag. Das Verhalten ihres Ehemanns wirkt ausgleichend auf sie, aber auch er kann es ihr nicht immer recht machen. Bruche ist stolz auf ihre Kinder, jedoch spürt Hannah auch ihre tiefe Enttäuschung über die Abkehr der Söhne von den religiösen Gepflogenheiten. Sie will sie nicht ebenfalls enttäuschen und ordnet sich unter. Im Weltkrieg flieht Hannah mit ihren Eltern nach Schweden, doch nachdem Frieden eingekehrt ist, führt das Schicksal sie nach Paris, wo der von den Eltern Ausgewählte auf sie wartet.

Benjamin Koppel hatte das große Glück, seine Tante noch im hohen Alter kennenzulernen und vieles aus ihrem Leben aus erster Hand zu erfahren. Hannahs Leben hatte einige tragische Tiefen, aber sie hat nie den Mut aufgegeben, obgleich ihr vieles versagt blieb. Ihr sind kritische Ansichten zu ihrem Lebensstil angetragen worden, doch sie ist immer treu geblieben, was manchem unverständlich sein mag. Vor allem auf den ersten beiden Dritteln des Buchs passiert ständig etwas Unvorhersehbares. In den späteren Dekaden von Hannahs Leben verweilt der Autor nur noch bei einzelnen Szenarien und schreitet dadurch in der Handlungszeit schnell voran. Erst im hohen Alter erfüllt die Protagonistin sich einen langgehegten Wunsch.

Im Roman „Annis Lied“ beschreibt der Autor Benjamin Koppel den Lebensweg seiner Großtante Hannah Koppelmann, die einer jüdischen Familie mit religiösen Traditionen angehörte. Ihr Leben wird gestreift von der Geschichte der Judenverfolgung, ebenso ist es verknüpft mit der Liebe zur Musik. Mit dem Bewusstsein, dass man hier über ein tatsächlich gelebtes Leben liest, wird das Geschriebene zu einem berührenden Lesegenuss, den ich gerne weiterempfehle.

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