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Veröffentlicht am 09.10.2022

Nicht perfekt, aber lesenswert

Dschinns
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Ja, was sagt man jetzt dazu? Am Ende hatte ich doch eine Träne im Knopfloch, obwohl ich zu großen Teilen mit diesem Buch gerungen habe.

Hier stirbt ein Vater. Er tut das sehr eindrucksvoll und überraschend ...

Ja, was sagt man jetzt dazu? Am Ende hatte ich doch eine Träne im Knopfloch, obwohl ich zu großen Teilen mit diesem Buch gerungen habe.

Hier stirbt ein Vater. Er tut das sehr eindrucksvoll und überraschend gleich im ersten Kapitel und lässt uns, während er in den letzten Zügen liegt, ein klein wenig in seinen Kopf gucken. Er ist ein Türke, der mit seiner türkischen Familie in Deutschland gelebt hat. Jetzt wollte er eigentlich zurückkehren.

Zu seiner Beerdigung reist dann seine Familie an. Jedes einzelne Familienmitglied stellt sich persönlich vor, erzählt uns die Geschichte einer Gastarbeiterfamilie aus unterschiedlichsten Perspektiven.

Das ist zu großen Teilen spannend und großartig erzählt. Fatma Aydemir bringt einem eloquent und einfühlsam die unterschiedlichsten Typen nahe. Allerdings ist die Dramaturgie des Ganzen so planvoll angelegt, dass es die Individualität der Figuren doch wieder relativiert. Wir hätten ganz wunderbar mit Ümit leiden können, der den plötzlichen Tod seines Vaters verdauen muss und dazu verdammt ist, die Leiche herzurichten wie es die Tradition verlangt. Seine Homosexualität ist natürlich auch ein Problem, in dieser Situation aber ein unnötiges Topping. Es drängt sich der Eindruck auf, dass man möglichst vielfältige Probleme in einem Roman unterbringen wollte und das nimmt der eigentlich guten Geschichte mehr als es ihr gibt.

Da geht es um Türken, Deutsche und auch Kurden, unterschiedliche Kulturen, die aufeinanderprallen, aber auch um Traditionen, Familiensinn, das Patriarchat, Selbstbestimmung, Männer, Frauen und ihr Rollenverständnis im Wandel der Zeiten, Selbstverwirklichung, Identität und vieles mehr. Das ist viel Stoff für ein nicht allzu dickes Buch, ich war lange Zeit unsicher, ob es mir gefällt.

Am Ende mausert es sich aber doch noch zu einem wirklich anrührenden Aufruf zu Toleranz und Offenheit, eine tolle Botschaft, die berührt, kein perfektes Buch, aber ein sehr lesenswertes.

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Veröffentlicht am 24.08.2022

Originell, mit einer winzigen Prise Pathos

Die Köchinnen von Fenley
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„Ein Buch wie eine Umarmung“ steht auf der Rückseite dieses Buches. Da ist was dran, ein wenig jedenfalls. Ich hätte vielleicht gesagt: „Ein Buch wie eine warme Decke“, eine Patchworkdecke, englisch, geblümt, ...

„Ein Buch wie eine Umarmung“ steht auf der Rückseite dieses Buches. Da ist was dran, ein wenig jedenfalls. Ich hätte vielleicht gesagt: „Ein Buch wie eine warme Decke“, eine Patchworkdecke, englisch, geblümt, kuschelig, nicht ganz neu, aber angenehm.

Hier geht es wieder um die tapferen Frauen, die im Zweiten Weltkrieg jenseits der Front ums Überleben kämpfen. 1942 sind Lebensmittel in England stark rationiert. Da muss man erfinderisch sein, wenn man trotz allem leckere Gerichte servieren möchte, deshalb ruft die BBC einen Wettbewerb ins Leben: Die Köchin, die aus ihrer Ration das beste Menü zaubern kann, darf Comoderatorin einer bekannten Kochsendung werden. Ein sicherer Job in schwierigen Zeiten lockt die unterschiedlichsten Küchenfeen an den Herd.

Audrey, Zelda, Nell und Gwendoline haben alle ganz eigene Sorgen und einen guten Grund, diesen Wettbewerb gewinnen zu wollen. Man lernt sie gut kennen, sie sind alles taffe Frauen, aber nicht jede weckt auf Anhieb Sympathien. Trotzdem raufen sie sich zusammen. Das ist schön und macht ein Buch über Krieg und Entbehrungen doch irgendwie kuschelig.

Als Zugabe bekommen wir noch zu jeder Situation das passende Kochrezept nebst Entstehungsgeschichte. Das ist hoch interessant und auch witzig. Manche davon sind gewöhnungsbedürftig, manche aber auch sehr spannend. Nells scharf angebratener Hase mit Holunderweinsauce oder Audreys Pilzsuppe muss ich unbedingt mal ausprobieren, oder auch Mrs. Quince‘ Kuchen für besondere Anlässe, den liebt einfach jeder.

Dieses Buch ist ein wunderbarer Schmöker, der mal eine etwas andere Kriegsgeschichte erzählt, unterhaltsam, anrührend, originell und in schöner Sprache dargeboten. Die kleine Prise Pathos verzeihe ich ihm gerne.

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Veröffentlicht am 13.07.2022

Mehr als eine Familiengeschichte

An den Ufern von Stellata
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Diese umfangreiche Familiengeschichte beginnt im Jahr 1800 mit Giacomo Casadio, der die schöne Viollca heiratet, die mit dem fahrenden Volk nach Stellata kam. Eigentlich dachte man, die passende Frau für ...

Diese umfangreiche Familiengeschichte beginnt im Jahr 1800 mit Giacomo Casadio, der die schöne Viollca heiratet, die mit dem fahrenden Volk nach Stellata kam. Eigentlich dachte man, die passende Frau für ihn gäbe es gar nicht, aber Viollca war da anderer Meinung.

Seitdem haben die Mitglieder der Familie entweder überraschend blaue Augen oder tiefschwarzes Haar und immer wieder hat jemand besondere Fähigkeiten, ist hellsichtig wie Viollca oder kann mit Toten sprechen. Noch Generationen später stellen sie alle ein Schälchen Milch für die Schlange des Hauses vor die Tür. So erklärt bekommen abergläubische Traditionen einen Sinn.

Sie sind alle originelle Menschen in dieser Familie, jede Generation bietet eine spannende Geschichte und erzählt gleichzeitig die Geschichte Italiens bis in die 1990er Jahre hinein. Das macht großen Spaß. Allerdings sind sie auch wirklich viele. Man rast hier durch die Zeit und lernt immer wieder neue Menschen kennen, neue Schicksale und es spricht sehr für dieses Buch, dass man sich trotzdem nicht langweilt. Es ist schön erzählt, einfühlsam, man gewinnt sie alle lieb, bangt mit, leidet mit, staunt, weint und lacht mit. Trotzdem denkt man so etwa in den 1960er Jahren, jetzt ist es genug. Irgendwann sind es dann doch zu viele Figuren. Man verliert den Überblick, da hilft auch der Stammbaum im Anhang nicht viel.

Trotzdem habe ich dieses Buch gerne gelesen. Es ist ein unterhaltsamer Schnellkurs in italienischer Geschichte und Mentalität und zeigt, die vielfältigen Gesichter dieses Landes, das wir nur allzu leicht auf blaues Meer und leckeres Essen reduzieren.

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Veröffentlicht am 29.06.2022

feinste Satire

Ein Sommer in Niendorf
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Solche Leute gibt es wohl. Roth ist 50, Jurist und Zyniker aus Überzeugung. Zufrieden ist er nicht, aber wie kann man auch zufrieden sein, wenn einfach niemand weit und breit seinen Ansprüchen genügt. ...

Solche Leute gibt es wohl. Roth ist 50, Jurist und Zyniker aus Überzeugung. Zufrieden ist er nicht, aber wie kann man auch zufrieden sein, wenn einfach niemand weit und breit seinen Ansprüchen genügt. Die Menschen sind zu dumm, zu feist, zu hässlich, zu laut.

Er nimmt eine Auszeit in Niendorf an der Ostsee, wo er niemanden treffen wird und in Ruhe das Buch schreiben kann, was er schon lange schreiben wollte. Er wäre schon längst ein Bestsellerautor, wenn er nur irgendwann mal seine Ruhe gehabt hätte.

Roth zuzuhören ist wirklich unterhaltsam. Humor hat der Mann, das muss man ihm lassen, nur geht der ganz und gar auf Kosten anderer. Roth ist ein böses Lästermaul, ein fieses sogar, und obwohl man oft über seine despektierlichen Betrachtungen lacht, wünscht man ihm doch eine ordentliche Bauchlandung.

Das Hörbuch liest der Autor selbst und auch wenn man sich ein bisschen daran gewöhnen muss, hat man doch bald das Gefühl, niemand sonst könnte das je besser. Er hat einen ganzen Strauß skurriler Typen kreiert und macht sie lebendig, schnodderig, tumb, lässig, maliziös oder auch dummdreist, beherrscht er perfekt und singt sogar, wenn´s benötigt wird.

Dieses Buch ist feinste Satire, bissig, böse, aber sehr unterhaltsam. Der Plot ist die Spur erwartbar, aber ein großer Spaß ist es trotzdem.

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Veröffentlicht am 27.06.2022

Spannend und anrührend

Der Mann, der vom Himmel fiel
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Walter Trevis ist ein Autor mit ungewöhnlichen Ideen, und offensichtlich ein Spezialist dafür, die Situation von Ausnahmemenschen einfühlsam in Szene zu setzen. Nicht nur das, er kann sich auch in Aliens ...

Walter Trevis ist ein Autor mit ungewöhnlichen Ideen, und offensichtlich ein Spezialist dafür, die Situation von Ausnahmemenschen einfühlsam in Szene zu setzen. Nicht nur das, er kann sich auch in Aliens einfühlen, wie man hier lesen kann.

Ein Mann vom Planeten Anthena kommt auf die Erde und hat eine Mission. Er ist den Menschen intellektuell weit überlegen, versucht sich anzupassen und lässt sich dann aber vom allzu Menschlichen vereinnahmen, ein einsamer Alien mit Heimweh in der Zwickmühle. Das ist eine hoch spannende Geschichte, sogar eine Tragödie, die einen mitnimmt und viele Denkansätze liefert.

Der Planet Anthena ist am Ende, ausgetrocknet, sind wir auf dem gleichen Weg und wollen es nicht hören? Und wie sollte man damit umgehen, wenn man auf tatsächlich Aliens treffen würde?

Dieses Buch wurde in den 60er Jahren geschrieben und kommt einem trotzdem sehr aktuell vor. Es liest sich leicht und hat Sogwirkung, obwohl gar nicht so viel passiert. Mir hat es sehr gefallen.

Eine ungewöhnliche Geschichte, die anrührt, einfühlsam und spannend geschrieben, mit ein paar winzigen Längen.

Ich muss jetzt unbedingt noch die Verfilmung sehen.

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