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Veröffentlicht am 15.11.2022

Unauffälliges Doppelleben im Hause Goncourt

Doppelleben
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REZENSION – Den Prix Goncourt, der seit 1903 als ältester und bedeutendster Literaturpreis Frankreichs alljährlich im November von der Académie Goncourt für den besten französischsprachigen Roman des Jahres ...

REZENSION – Den Prix Goncourt, der seit 1903 als ältester und bedeutendster Literaturpreis Frankreichs alljährlich im November von der Académie Goncourt für den besten französischsprachigen Roman des Jahres vergeben wird, kennt wohl fast jeder, der gern Bücher liest. Fragt man aber den Literaturfreund nach dem Leben der namensgebenden Schriftsteller-Brüder Edmond (1822-1896) und Jules Goncourt (1830-1870), spürt man oft Unwissen. Diese Wissenslücken lassen sich jedoch seit August mit der im Verlag Galiani veröffentlichten Romanbiografie „Doppelleben“ des Schweizer Schriftstellers Alain Claude Sulzer (69) auf wunderbare Weise schließen.
Der Autor entführt uns mit seinem einfühlsamen Roman zunächst ins Jahr 1869 und lässt uns am Alltag der zwillingsgleich lebenden Brüder Edmond und Jules in ihrer Villa in Auteuil am westlichen Stadtrand von Paris teilhaben. Dort war das Brüderpaar erst ein Jahr zuvor eingezogen. Sie erhofften sich die Stille zum Arbeiten, die in ihrer früheren Stadtwohnung gegenüber der lärmenden Musikwerkstatt von Adolphe Sax, dem Erfinder des Saxophons, nicht gegeben war. Doch kaum eingezogen, brach beim acht Jahre jüngeren Jules die tödliche Syphilis aus, mit der er sich schon als Jüngling 20 Jahre zuvor infiziert hatte und die schließlich 1870 zum qualvollen Tod des erst 39-Jährigen führte.
Sulzer schildert in einer Rahmenhandlung ähnlich nüchtern, fast brutal, wie es im gemeinsamen Tagebuch der Brüder nachzulesen ist, Jules' körperlichen und geistigen Verfall. Rückblicke mit Berichten aus dem bisherigem Leben beider Brüder zeigen bald ein Gesamtbild und lassen uns Edmond und Jules besser kennenlernen. Wir erfahren vom Tod der Mutter, von gesellschaftlichen Treffen mit ihrem Freund Gustave Flaubert und anderen Künstlerkollegen im Palais der Napoleon-Nichte Prinzessin Mathilde Bonaparte. In einer längeren Parallelhandlung erfahren wir vom traurigen Schicksal ihrer Haushälterin Rose.
Vor allem diese Gegenüberstellung zweier Lebensläufe in Glanz und Elend – das Wohlstandsleben der Brüder Goncourt, die sich aufgrund ihres ererbten Grundbesitzes und Vermögens ganz der Schriftstellerei widmen können, und zeitgleich jenes armselige, bedauernswerte Schicksal ihrer Haushälterin Rose – bringen die Spannung und Dramatik in Sulzers Roman. Erst jetzt erkennt man die eigentliche Aussage des Romantitels: Mit „Doppelleben“ ist weniger das Leben der zwei Brüder Goncourt gemeint, die doch eher nur ein, nämlich gemeinsames Leben führten, sondern vielmehr das Leben des Brüderpaares zeitgleich zu jenem ganz anderen ihrer Haushälterin – zwei Leben in zwei Parallelwelten. Diese Gegensätzlichkeit des „Doppellebens“ macht Sulzers gleichnamigen Roman nicht nur für Freunde literarischer Klassiker, sondern auch allgemein für Liebhaber historischer Romane interessant und lesenswert: Obwohl die Brüder Goncourt als genaue Beobachter bekannt sind, denen angeblich keine Kleinigkeit entging, achteten sie doch nur auf ihre eigene Gesellschaftsschicht. Der beklagenswerte „Absturz“ ihrer Haushälterin, die das Brüderpaar schon seit deren Kinderjahren treu umsorgte, zuletzt aber zur Trinkerin und Diebin wird, fiel beiden nicht auf. Rose gehörte für sie zwar als Dienstperson zum Haus, doch der Mensch Rose war für beide uninteressant.
Mit „Doppelleben“ ist dem bereits mehrfach ausgezeichneten Schweizer Autor wieder ein lesenswerter Roman gelungen, der dazu verleitet, sich nach der Lektüre mit den beiden Goncourts noch intensiver zu beschäftigen. Kritisch wäre allenfalls anzumerken, dass Jules' Krankheitsverlauf und körperlicher Verfall nicht in dieser Ausführlichkeit hätte beschrieben werden müssen.

Veröffentlicht am 14.10.2022

Sprachlich frein geschliffene Road Novel

Lincoln Highway
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REZENSION – Schon mit seinem preisgekrönten Romandebüt „Eine Frage der Höflichkeit“ (2011) schaffte der amerikanische Schriftsteller Amor Towles einen beachtlichen Erfolg, der es ihm erlaubte, zwei Jahre ...

REZENSION – Schon mit seinem preisgekrönten Romandebüt „Eine Frage der Höflichkeit“ (2011) schaffte der amerikanische Schriftsteller Amor Towles einen beachtlichen Erfolg, der es ihm erlaubte, zwei Jahre später seinen Beruf als Investmentbanker nach 20 Jahren aufzugeben, um sich ausschließlich der Schriftstellerei zu widmen. Sein zweiter Roman „Ein Gentleman in Moskau“ (2016) stand zwei Jahre auf der Bestsellerliste der New York Times und war ein in 30 Sprachen übersetzter, herausragender Weltbestseller, der 2018 auch auf Deutsch übersetzt wurde. Nun erschien im Juli bei Hanser Literaturverlage Amor Towles dritter Roman „Lincoln Highway“.
Wieder ist dem Autor ein ausgezeichneter, unbedingt lesenswerter Roman gelungen ist, der allerdings nicht mit seinem Vorgänger mithalten, vielleicht auch gar nicht verglichen werden sollte. Schilderte der „Gentleman in Moskau“ in ironisch-satirischem Tonfall eine Zeitreise durch vier Jahrzehnte sowjetischer Politik und Geschichte, ähnelt „Lincoln Highway“ einer klassischen amerikanischen Road Novel.
Der von manchem als „Americana“ eingeordnete Roman schildert den amerikanischen Traum von vier jungen, auf sich allein gestellten Amerikanern, trotz schwieriger Ausgangsbedingungen unbeirrt ihren Weg zu gehen, um etwas vom Lebensglück abzubekommen, auch wenn die Fahrt zunächst in die völlig falsche Richtung führt und manche Rück- und Tiefschläge zu überwinden sind: Der 18-jährige Emmett wird vorzeitig aus der Jugendbesserungsanstalt entlassen, um sich nach dem Tod des Vaters in Nebraska um seinen erst achtjährigen Bruder Billy kümmern zu können. Beide vermuten ihre vor Jahren verschwundene Mutter in San Francisco, dem Endpunkt des Lincoln Highway im „goldenen Westen“. Kurz vor Abreise mit Emmetts altem Studebaker tauchen Emmetts Mithäftlinge Duchess und Woolly auf, die die Strafanstalt unerlaubt verlassen haben. Sie wollen allerdings nach New York City an der Ostküste. So beginnt eine zehntägige Odyssee von vier charakterlich völlig unterschiedlichen Jugendlichen.
Auch in seinem neuen Roman trifft Autor Towles sprachlich den perfekt zu seinen unterschiedlichen Protagonisten passenden Stil. Dies ist umso bedeutender, da alle Vier im Wechsel selbst aus ihren jeweils eigenen Jugendjahren sowie über ihre gemeinsamen Erlebnisse während dieser Fahrt erzählen. Dabei versuchen sie, jeweils nach eigenem Vermögen ihre Vergangenheit aufzuarbeiten und ganz persönliche Konsequenzen für ihr zukünftiges Leben zu ziehen. Die Erzählungen dieser unterschiedlichen Charaktere ergeben in Summe ein stimmiges Gesamtbild.
Towles schafft es mit seiner feinfühligen Art zu erzählen, dass man die vier jungen Protagonisten trotz oder vielleicht gerade wegen mancher charakterlicher Schwächen schnell liebgewinnt und sie voll Mitgefühl bei ihrem Streben nach etwas Glück begleitet. Allerdings wirkt dieser auch in Melancholie abdriftende Sprachstil gelegentlich unpassend und unglaubwürdig, passt er doch nicht unbedingt zu Duchess, der, getrieben von Rachegelüsten, sich durch seine Neigung zu brutaler Gewalt von den anderen unterscheidet. So mag „Lincoln Highway“ nicht in allen Punkten das literarische Niveau seines Vorgängers „Gentleman in Moskau“ erreichen. Doch verzichtet man – wie eingangs angemahnt – auf einen direkten Vergleich, ist auch dieser dritte Roman von Amor Towles, allein für sich betrachtet, eine durchaus empfehlenswerte und gefällige Lektüre.

Veröffentlicht am 12.10.2022

Visionärer SciFi-Politthriller

Interspace One
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REZENSION – Zugegeben: Ich gehöre nicht zu den erklärten Fans heutiger Science-Fiction-Literatur und dürfte mir eigentlich gar kein Urteil zu diesem Genre erlauben. Die Lektüre meines letzten SciFi-Romans ...

REZENSION – Zugegeben: Ich gehöre nicht zu den erklärten Fans heutiger Science-Fiction-Literatur und dürfte mir eigentlich gar kein Urteil zu diesem Genre erlauben. Die Lektüre meines letzten SciFi-Romans liegt schon Jahrzehnte zurück und ein Versuch vor wenigen Jahren, erneut in diese Literaturgattung einzusteigen, scheiterte beim damals ausgewählten Buch kläglich an der abschreckenden Überladung mit mir unverständlichen technischen Begriffen, wodurch mir als Laien schnell die Lust genommen wurde. Ganz anders erging es mir mit „Interspace One“, dem im September beim Piper Verlag veröffentlichten Roman von Andreas Suchanek (40), der für seine Urban-Fantasy-Reihe „Das Erbe der Macht“ mit dem Deutschen Phantastik-Preis 2019 ausgezeichnet wurde. Schon der Klappentext seines neuen Romans hatte mich neugierig gemacht, und ich wurde nicht enttäuscht.
Etwa 1 500 Jahre nach unserer Zeit hat die Menschheit das Sol-System vollständig besiedelt. Trotz zahlreicher künstlicher Habitate und unserer Erde angepasster Welten ist Lebensraum immer noch Mangelware. Großmächtige Allianzen kontrollieren das Universum. Längst herrscht ein Wettrennen in die Weiten des Alls, doch der Weg zu weit entfernten Sonnensystemen dauert Jahre. Deshalb werden menschliche Klon-Körper in Kryostase-Tanks an Bord von Raumschiffen in die Tiefe des Weltalls geschickt, die durch Übertragung menschlicher Gedächtnisse, so genannter Engramme, nach dem Erwachen die jeweilige Persönlichkeit des menschlichen Originals annehmen. Nach einer solchen Übertragung erwacht Commander Liam Mikaelson im Jahr 3 486 in seinem Klon-Körper an Bord des Forschungsraumschiffes EXPO-EA-96 in einem weit entfernten Sonnensystem, um mit seinem Team eine von der Europäischen Allianz geplante Erkundungsmission auszuführen.
Doch er muss feststellen, dass sein Raumschiff, statt im Orbit um die zu erforschende Welt zu kreisen, auf einem bislang unbekannten Planeten, einer sogar „verbotenen Welt“, abgestürzt ist. Der Schiffskörper ist beschädigt, Systeme sind ausgefallen und auch zahlreiche Klon-Tanks sind ausgefallen, so dass Mikaelson mit nur wenigen intakten Team-Mitgliedern in gefährlicher Situation die Probleme lösen muss. Als im Maschinenraum eine verkohlte Leiche gefunden wird, stellt sich ihm die Frage, wer die Mission verhindern will und ob vielleicht sogar ein Mörder unter ihnen ist. Erschwert wird die Situation dadurch, dass der Planet sich als feindselig erweist und die Rückkehr nach Hause immer unwahrscheinlicher wird.
Natürlich kommt auch dieser Science-Fiction-Roman nicht ohne eine Vielzahl technischer Begriffe und technologischer Visionen aus. Doch beides hält sich in überschaubaren Grenzen, lässt sich auch von Laien gedanklich nachvollziehen oder kann notfalls einfach als gegeben hingenommen und bei der Beurteilung des Romans schlicht vernachlässigt werden. Denn viel entscheidender ist allein die Handlung. Die von Autor Suchanek im Jahr 3 486 geschilderte Version des politischen Systems innerhalb des Sol-Systems unterscheidet sich kaum von unserer heutigen auf unserer Erde. Es scheint, als hätten Menschen und Machthaber seitdem nichts hinzugelernt. Auch in 1 500 Jahren gibt es noch immer die Blockbildung der Systeme, die sich im besten Fall nur gegenseitig belauern, hin und wieder aber auch bekämpfen. Noch immer gibt es Egomanen und deren Machtmissbrauch zum Schaden der Menschen.
Natürlich ist „Interspace One“ ein Science-Fiction-Roman, dazu ein überaus gut gemachter. Aber eigentlich ist Suchaneks Buch mehr als dies: Es ist ein visionärer Politthriller. Denn es geht in seinem Roman kaum um den Kampf der Menschen gegen feindliche Außerirdische, sondern um das scheinbar unveränderliche Wesen des Menschen mit seinen guten wie schlechten Charaktereigenschaften. Insgesamt ist „Interspace One“ ein rasanter Page-Turner, der sowohl Freunden der SciFi-Literatur als auch allen anderen Liebhabern aktionsreicher Romane gefallen dürfte. Mich hat Suchaneks spannende Space Opera jedenfalls motiviert, bald einen weiteren SciFi-Roman zu lesen.

Veröffentlicht am 11.10.2022

Spannendes Genre-Mix aus Krimi und historischem Reisebericht

Die Passage nach Maskat
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REZENSION – Auf den ersten Blick scheint der neue Roman von Cay Rademacher (57) auf der aktuell beliebten Welle der vielen in den Zwischenkriegsjahren spielenden Krimis mitzuschwimmen. Denn auch sein im ...

REZENSION – Auf den ersten Blick scheint der neue Roman von Cay Rademacher (57) auf der aktuell beliebten Welle der vielen in den Zwischenkriegsjahren spielenden Krimis mitzuschwimmen. Denn auch sein im August beim Dumont Buchverlag erschienenes Buch „Die Passage nach Maskat“ ist zeitlich gegen Ende der Goldenen Zwanziger angesiedelt. Doch Rademachers Roman spielt nicht in Berlin, sondern der Autor lässt seine Figuren an Bord der „Champollion“, eines 1925 in Dienst gestellten Passagierschiffs der französischen Reederei Messageries Maritimes, von Marseille aus in den Orient reisen. Mit dieser ungewöhnlichen Szenerie gelingt es dem Autor, sich trotz ähnlicher Charaktere und vergleichbarem historischem Hintergrund von anderen Krimis wohltuend abzusetzen.
Hauptfigur seines Romans ist der aus dem Krieg traumatisiert heimgekehrte U-Boot-Fahrer und jetzige Fotojournalist Theodor Jung – Rademachers Hommage an den Berliner Fotojournalisten Erich Salomon (1886-1944) –, der für die „Berliner Illustrirte“, damals größte Zeitschrift Europas, eine Bildreportage über diese Schiffsreise und ihre exotischen Häfen machen soll. Eigentlicher Grund für Theodors Anwesenheit an Bord ist die Begleitung seiner recht selbstbewussten Frau Dora und ihrer Eltern, des Hamburger Kaufmanns Hugo Rosterg und dessen Ehefrau Martha. Der Großhändler will im Orient exotische Gewürze für den deutschen Markt einkaufen. Mit dabei sind Sohn Ernst und der ehrgeizige Prokurist Bertold Lüttgen, der Dora abzuwerben hofft, um als ihr Ehemann zum Teilhaber der Firma zu werden.
Nach zwei Seetagen verschwindet Dora spurlos. War der Roman bisher eine interessante, wenn auch harmlose Beschreibung des illustren Bordlebens, wandelt er sich nun plötzlich in einen immer spannender werdender Krimi. Denn nicht nur Theodors Schwiegereltern, sondern auch der Erste Offizier und alle anderen Passagiere, die Theodor inzwischen kennengelernt hat, versichern ihm gegenüber, Dora niemals an Bord gesehen zu haben. Tatsächlich ist ihr Name nicht einmal auf der Passagierliste verzeichnet. Im Verlauf seiner Suche beginnt Theodor bald an seinem Verstand zu zweifeln. Nur Stewardess Fanny, die selbst seit zwölf Jahren nach ihrem im Krieg verschwundenen Verlobten sucht, versteht und unterstützt ihn. „Jung dachte an das, was Fanny ihm geraten hatte: Betrachte die Sache von außen, analysiere die Lage kühl, als ginge dich das gar nichts an.“ Theodor beginnt ganz sachlich, Indizien zu sammeln und seine Beobachtungen auszuwerten.
Je weiter man in der „Passage nach Maskat“ vorankommt, erinnern Handlung und Figuren an den 1937 erstveröffentlichten Klassiker „Tod auf dem Nil“ von Agatha Christie. Hier wie dort machen sich bald alle Mitreisende verdächtig, treten bisher verdeckte Beziehungen untereinander zutage. Was hat es mit der exzentrischen britischen Lady und ihrer geheimnisvollen Gesellschaftsdame auf sich? Welche Rolle spielen der italienische Anwalt oder der amerikanische Ingenieur? Wieso ist Kaufmann Rosterg mit dem Ersten Offizier des Schiffes so vertraut? Und was hat der Schuldeneintreiber eines in Berlin bekannten mafiösen Ringvereins an Bord zu suchen? Ist auch die berühmte Nackttänzerin Anita Berber (1899-1928) in das Verschwinden Doras eingebunden? Was verbirgt sich in der Attrappe des dritten Schornsteins, vor dem ein Matrose ständig Wache steht? Es wird immer mysteriöser. Bald gibt es den ersten Toten an Bord, und mit jedem weiteren steigert sich das Tempo des Krimis zum überraschenden Ende hin.
Neben der spannenden Handlung ist es vor allem das ungewöhnliche Genre-Mix dieses Krimis mit einem authentisch wirkenden Bericht einer historischen Orient-Reise in britisch-kolonialer Zeit mit fiktiver Einbindung realer Persönlichkeiten und Ereignisse, das „Die Passage nach Maskat“ zu einer unterhaltenden, aber auch interessanten und deshalb empfehlenswerten Lektüre macht.

Veröffentlicht am 15.08.2022

Spannender Krimi als Trilogie-Auftakt

Sturmrot
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REZENSION – Vor vier Jahren trat in Schweden ein verschärftes Sexualstrafgesetz in Kraft, im Volksmund auch Zustimmungsgesetz genannt. Seitdem werden auch sexuelle Übergriffe als Vergewaltigung gewertet, ...

REZENSION – Vor vier Jahren trat in Schweden ein verschärftes Sexualstrafgesetz in Kraft, im Volksmund auch Zustimmungsgesetz genannt. Seitdem werden auch sexuelle Übergriffe als Vergewaltigung gewertet, die zuvor anders klassifiziert wurden. So wurde erst 2018 der Straftatbestand der „fahrlässigen Vergewaltigung“ eingeführt. Entscheidend ist seitdem, ob für sexuelle Handlungen ein beiderseitiges, klar zum Ausdruck gebrachtes Einverständnis bestand. Selbst bei sexuellen Handlungen, bei denen die Frau nur auf Drängen des Mannes einwilligt, muss dies vor Gericht nicht zwingend als Zustimmung anerkannt werden, da auch dieses Ja nicht freiwillig erfolgte.
Zurückliegende Fälle, die zur Änderung des schwedischen Sexualstrafrechts sowie zum veränderten Umgang der Polizei mit verdächtigten Kindern führten, bilden den Hintergrund zu dem kürzlich im Rowohlt Verlag veröffentlichten Kriminalroman „Sturmrot“ der schwedischen Schriftstellerin Tove Alsterdal. Der bereits mit dem Schwedischen Krimipreis 2020 und dem Skandinavischen Krimipreis 2021 ausgezeichnete Roman ist Auftakt einer vielversprechenden Trilogie um die Dorfpolizistin Eira Sjödin, die in der nordschwedischen Region Ådalen in die Aufklärung eines Mordfalles eingebunden wird.
Olof Hagström war auf der Überführungsfahrt eines von seinem Chef gekauften Oldtimers spontan in seinen Geburtsort abgebogen, den er vor 23 Jahren verlassen musste. In seinem Elternhaus findet er den Vater, zu dem er seitdem keinen Kontakt hatte, erstochen in der Badewanne. Zu den Ermittlungen wird die ortskundige Mittdreißigerin Eira Sjödin hinzugezogen, die sich kürzlich aus Stockholm in die heimatliche Provinz hatte versetzen lassen, um ihre an Demenz erkrankte Mutter zu versorgen.
Von Nachbarn beim Verlassen des Tatorts vermutlich auf frischer Tat erwischt, wird Olof Hagström sofort als Tatverdächtiger festgenommen, obwohl er den Mord bestreitet. Zu seinen Lasten spricht allerdings die Tatsache, dass er bereits vor 23 Jahren als 14-Jähriger die 16-jährige Lina Stavred vergewaltigt und ermordet hatte. Erst nach wiederholtem Widerspruch hatte er letztlich den Mord damals doch zugegeben, konnte als Minderjähriger jedoch nicht vor Gericht gestellt werden. Stattdessen wurde er vom Vater verstoßen, kam in ein Jugendheim und wurde seitdem nie wieder in seinem Heimatdorf gesehen. Eira Sjödin, die sich im Gegensatz zu ihren ortsfremden Kollegen im Ermittlerteam mit den Menschen und deren dörflicher Lebensart vertraut ist, dringt tiefer in die Hintergründe ein, die eine Verbindung zwischen dem aktuellen und dem damaligen, juristisch längst abgeschlossenen Mordfall als Folge einer Vergewaltigung wahrscheinlich werden lassen.
Tove Alsterdal beschreibt ausführlich Landschaft, Örtlichkeiten und Menschen der nordschwedischen Küstenregion und schafft es dadurch, die charakterlich unterschiedlich geprägten Küsten- und Dorfbewohner bis hin zu den Randfiguren ihres Romans mit deren alltäglichen, auch hintergründig verborgenen Sorgen und Problemen lebendig werden zu lassen. Dies gilt in erster Linie natürlich für Eire Sjödin, die neben ihrer beruflichen Beanspruchung auch durch die Pflege und Sorge um die demente Mutter Kerstin in Anspruch genommen wird. Hinzu kommt die Unsicherheit ihrer eigenen Lebensplanung, einerseits der Mutter wegen als Dorfpolizistin in der Provinz zu versauern oder Karriere bei der Mordkommission in Sundsvall zu machen, andererseits als Mittdreißigerin vielleicht doch noch eine Familie gründen zu wollen.
„Sturmrot“ ist kein spannungsgeladener Action-Krimi, obwohl er gegen Ende in seiner Dramatik anzieht und nach logischem Aufbau des Geschehens für Ermittlerin Eire eine unangenehme Wendung nimmt. „Sturmrot“ ist ein in mehreren Zeit- und Handlungsebenen strukturierter Roman, der vielleicht deshalb stellenweise etwas langatmig wirkt. Allerdings mag man diesem ersten Band zugute halten, dass er in seiner Szenerie und zur Vorstellung der wichtigsten Protagonisten, zu denen neben Mutter Kerstin vor allem Teamleiter Georg Georgsson und ihr junger, in Leben und Beruf noch unerfahrener Kollege August gehören, die notwendige Grundlage auch für die beiden Folgebände schafft. Man darf also auf den zweiten Band „Erdschwarz“ gespannt sein, der schon Mitte Oktober erscheinen soll. Der dritte Band „Nebelblau“ ist erst für Juli kommenden Jahres angekündigt.