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Veröffentlicht am 02.11.2022

Wunder, Kuriositäten oder doch Objekt? - Eine außergewöhnliche Geschichte über die Zirkuswelt im viktorianischen England

Zirkus der Wunder
3

Nell ist anders als die anderen. Zumindest wollen ihr das all die anderen Bewohner in ihrem armen Dorf im südlichen England weismachen, die sie meiden und wie eine Aussässige behandeln. Dabei ist sie eine ...

Nell ist anders als die anderen. Zumindest wollen ihr das all die anderen Bewohner in ihrem armen Dorf im südlichen England weismachen, die sie meiden und wie eine Aussässige behandeln. Dabei ist sie eine normale junge Frau, wären da nicht ihre außergewöhnlichen Muttermale:

"Ihr Gesicht sieht aus, als hätte jemand einen Pinsel genommen, vom Wangenknochen bis ans Kinn gezogen und anschließend viele braune Farbkleckse auf Gesicht und Hals getupft." (S. 16)

Eines Tages im Jahr 1866 zieht Jasper Jupiters Zirkus der Wunder in das kleine Dorf von Nell: Ein Highlight im sonst so tristen Alltag, denn die zahlreichen "Kuriositäten", besonders kleine und große Menschen oder eine Frau mit Bart, locken viele Zuschauer ins Zelt. Auch Nells Vater wird vom bunten Treiben angezogen und wittert ein Geschäft: Er verkauft seine Tochter für 20 Pfund als Leopardenmädchen an Jasper, den Impresario. Während dieser Verrat für Nell zunächst ein absoluter Schock ist, findet sie sich nach und nach im Zirkus zurecht und findet ein Zuhause, die erste Liebe und eine Familie. Schnell wird "Nellie Moon" zum neuen Star des Zirkus, doch das bringt ganz neue Herausforderungen mit sich.

Was wie eine bunte, frohe Zirkusgeschichte im Stil von "The Greatest Showman" klingt, ist ein sehr atmosphärischer Roman, der an vielen Stellen ziemlich düster ist. Es gibt drei Protagonisten, aus deren Sicht abwechselnd die Geschichte erzählt wird:

Nell, die vom "hässlichen Entlein" zu einem Rising Star heran- und über sich hinaus wächst. Eine insgesamt liebenswürdige Protagonistin, deren Weg ich gern verfolgt habe. An einigen Stellen ist sie mir jedoch zu wenig spür- und greifbar gewesen.

Jasper, der Impresario des Zirkus, der mit seiner Show noch bekannter werden möchte als der große P. T. Barnum, koste es, was es wolle. Für mich der interessanteste Charakter, denn seine dominante, kalte und berechnende Art hat ihn zwar durch und durch unsympathisch gemacht, gleichzeitig spürte ich eine merkwürdige Faszination.

Toby, Jaspers unscheinbarer, stiller Bruder, der sich stets in seinem Schatten zu bewegen weiß, jedoch ein Geheimnis mit sich rumzutragen scheint. Eine interessante Figur, bei der ich die ganze Zeit hoffte, dass er endlich zu einer eigenen Identität findet, losgelöst von seinem großen Bruder. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass er nach jedem Schritt vorwärts, drei zurück macht.

Die unterschiedlichen Sichtweisen dieser drei gottverschiedenen Charaktere machen dieses Buch sehr besonders, da wir Einblicke in die Absichten, Gedanken und Gefühle der Protagonisten erlangen, die sonst im Verborgenen geblieben wären. Dadurch bekommt der Leser an vielen Stellen eine dunkle Vorahnung, die manchmal sehr beklemmend ist.

Insgesamt ist die Erzählweise der Autorin jedoch durch verhältnismäßig wenig Introspektion geprägt, vieles kann man nur erahnen. So auch die Liebesbeziehung zwischen Nell und Toby, deren Anfänge für den Leser eher im Verborgenen bleiben, die eher schwer nachzuvollziehen ist.

Der Roman zeichnet sich durch seine lebendige und bildhafte Sprache aus, die gleichzeitig sehr faktisch scheint. Zudem weiß Elizabeth Macneal ihren ganz eigenen Weg mit ihren Figuren zu gehen, so war die Charakterentwicklung und vor allem das Ende völlig unerwartet für mich und hat mich im ersten Moment komplett schockiert. Nachdem ich es ein paar Tage habe sacken lassen, habe ich jedoch immer mehr verstanden, was die Autorin sich dabei gedacht haben könnte und empfand das meiste dann doch als passend. Positiv zu erwähnen ist auch die historische Einordnung als Nachwort, die die oft menschenverachtende Zurschaustellung von Personen mit besonderen Merkmalen zur damaligen Zeit thematisiert. Dies wird auch immer wieder in Gesprächen zwischen den Mitgliedern des Zirkus thematisiert: Ist es eine selbstbestimmte Arbeit? Mache ich mich zum Objekt? Große und tiefe Fragen, die mich sehr zum Nachdenken angeregt haben.

Insgesamt für mich ein Leseerlebnis der besonderen Art, das mir sehr nahe ging. Somit kann ich eine klare Leseempfehlung aussprechen für alle, die eine außergewöhnliche Geschichte im viktorianischen England mit Zirkus-Setting erleben möchten.

Vielen herzlichen Dank, dass ich bei dieser Leserunde dabei sein durfte!

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Veröffentlicht am 29.10.2022

Eine außergewöhnliche Protagonistin!

Klara und die Sonne
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"Glaubst du an das menschliche Herz? Ich meine natürlich nicht einfach das Organ, sondern spreche im poetischen Sinn. Das Herz des Menschen. Glaubst du, dass es so etwas gibt? Etwas das jedes Individuum ...

"Glaubst du an das menschliche Herz? Ich meine natürlich nicht einfach das Organ, sondern spreche im poetischen Sinn. Das Herz des Menschen. Glaubst du, dass es so etwas gibt? Etwas das jedes Individuum besonders und einmalig macht?" (S. 251)

Klara ist eine KF, eine künstliche Freundin. Ein intelligenter, humanoider Roboter, der durch das Sonnenlicht gespeist wird. Geschaffen um einen menschlichen Jugendlichen beim Erwachsenwerden zu begleiten, wartet sie sehnsüchtig in ihrem Schaufenster darauf, dass sich ein Kind für sie entscheidet. Sie ist nicht mehr das neueste Modell, dennoch besitzt sie eine außergewöhnliche Beobachtungsgabe, mit der sie zu verstehen versucht, was es bedeutet, Mensch zu sein. Eines Tages wird sie von der kranken 13-jährigen Josie erwählt und von deren Mutter gekauft. Nach und nach taucht Klara tiefer in das Leben und die Geheimnisse der kleinen Familie ein und findet heraus, was der eigentliche Absicht des Kaufs war.

Was düster klingt, ist eine ruhige, wärmende Geschichte.
Klara ist als KI eine ganz besondere Ich-Erzählerin. Durch ihre kindliche, aber sehr einfühlsame Brille lernt der Leser ihr Leben bei Josie und die dystopische Welt kennen. Gern hätte ich noch mehr zum Setting erfahren. Themen wie Klassenunterschiede und ethische Fragen zu KIs werden nur angeschnitten, was allerdings Raum für eigene Gedanken lässt: Können Roboter Menschen ersetzen? Was macht uns Menschen eigentlich aus? In meinen Augen hat das Buch ein paar Längen, an einigen Stellen plätschert die Geschichte etwas dahin. Dennoch ein kluges Buch, welches ich gern gelesen habe und noch lange nachhallte.

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Veröffentlicht am 29.02.2024

Stark angefangen, stark nachgelassen

Leuchtfeuer
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In einer Augustnacht im Jahr 1985 steigen drei Jugendliche in ein Auto: Die ältere Schwester Sarah, die zu viel getrunken hat, sodass ihr Bruder Theo fährt, obwohl er keinen Führerschein besitzt, und Misty, ...

In einer Augustnacht im Jahr 1985 steigen drei Jugendliche in ein Auto: Die ältere Schwester Sarah, die zu viel getrunken hat, sodass ihr Bruder Theo fährt, obwohl er keinen Führerschein besitzt, und Misty, Theos Schwarm. Bei einem tragischen Unfall kurz vor dem sicheren Zuhause stirbt Misty. Voller Schuldgefühle beschließt die Familie einfach nicht darüber zu sprechen, zu unvorstellbar und schrecklich das Geschehene.

Zu verschiedenen Zeitpunkten, die nicht chronologisch abgehandelt werden, und mithilfe von unterschiedlichen Erzählperspektiven erfahren wir mehr über das Leben der Familie Wilf nach dem Unfall. Besonders die Kinder, Sarah und Theo, haben den Vorfall nicht verarbeitet und ihre ganz eigene Weise gefunden, mit dem Schmerz umzugehen. Auch die Nachbarsfamilie von Gegenüber wird in die Geschehnisse miteingewebt ab dem Zeitpunkt, wo Dr. Wilf bei der plötzlichen Geburt des kleinen Waldo hilft. Ihre Schicksale scheinen fortan miteinander verknüpft zu sein, wie es besonders im Jahr 2010 spürbar ist.

Mit einem starken Auftakt hat mich die Autorin in der ersten Hälfte des Buches gefesselt. Ich wollte unbedingt mehr über die beiden Familien und ihre Schicksale erfahren, wissen, wie die Fäden, die erst lose zerstreut schienen, zusammengeführt werden. Bis zu den Ereignissen im Jahr 2010 ist das sehr gut gelungen, mit den Zeitsprüngen in die Pandemie hat sich die Handlung für mich leider verloren. Durch die vielen Zeit- und Personenwechsel blieben mir viele Charaktere bis auf Waldo zu blass. Die gewollt melancholische Stimmung konnte mich meist nicht erreichen. Die Message blieb mir zu platt und das Ende hat mich nicht zufriedengestellt, mir fehlte eine echte Tiefe. Damit konnte mich der Roman schlussendlich leider nicht überzeugen.

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