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Veröffentlicht am 19.12.2022

Moderne Geschichten aus dem 19. Jahrhundert

Das Monster und andere Geschichten
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REZENSION – Der amerikanische Schriftsteller Stephen Crane (1871-1900), der während seiner Kur in Badenweiler an Tuberkulose starb, schuf in seinen nur 28 Lebensjahren ein beachtliches Werk aus Lyrik, ...

REZENSION – Der amerikanische Schriftsteller Stephen Crane (1871-1900), der während seiner Kur in Badenweiler an Tuberkulose starb, schuf in seinen nur 28 Lebensjahren ein beachtliches Werk aus Lyrik, Romanen und vielen Erzählungen. Während der 1895 erstveröffentlichte und seit 1954 mehrfach auf Deutsch übersetzte Bürgerkriegsroman „Die rote Tapferkeitsmedaille“ auch durch seine Verfilmung mit Audie Murphy (1951) vielleicht noch manchem Leser ein Begriff sein mag, hat es sich der Pendragon Verlag zur Aufgabe gemacht, auch die Erzählungen des über Jahrzehnte vergessen Schriftstellers der heutigen Leserschaft bekannt zu machen. Im September erschien mit dem Erzählband „Das Monster und andere Geschichten“ mit überwiegend erstmals auf Deutsch übersetzten Erzählungen im Bielefelder Verlag schon die vierte Ausgabe mit Werken Cranes.
Es sind vor allem seine Erzählungen, die in ihren feinen Milieu-Schilderungen das literarische Talent Stephen Cranes beweisen. Die von ihm mit scheinbar leichter Hand in ihrem Charakter so treffend beschriebenen Menschen sind offensichtlich keine fiktiven Figuren, sondern dürften ausnahmslos reale Vorbilder im Leben des Schriftstellers haben – ob in seiner Kindheit in der ländlichen Provinz oder in seinem späteren Leben als Kriegsberichterstatter oder als Reporter in den Slums von New York. Denn die einfachen Soldaten, die kleinen Leute in den Armenvierteln und die Bürger des Provinzstädtchens Whilomville, die gleich in mehreren seiner Erzählungen wiederkehren, sind Cranes Hauptpersonen – allen voran die Arztfamilie Trescott mit dem kleinen Jimmy, in dem man das Alter Ego des Autors vermuten darf. Vielleicht ist es gerade diese Nähe zu realen Vorbildern, weshalb Crane seine Figuren manchmal durchaus kritisch wie in „Das Monster“, aber meistens humor- und liebevoll beschreibt.
Die titelgebende Erzählung „Das Monster“ (1898), mit ihrer Länge eher schon ein Kurzroman, ist zweifellos die beeindruckendste Geschichte in diesem Band. Der Schwarze Henry, Stallbursche der Familie Trescott und Freund des kleinen Jimmy, rettet diesen aus den Flammen und erleidet dabei schwerste Verbrennungen im Gesicht, die ihn zum „Monster“ machen. Jimmys Vater, der Henry gesund gepflegt hat, sorgt aus Dankbarkeit auch weiterhin für ihn. Crane beschreibt hier die typische Situation der Schwarzen im Norden gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die zwar nicht als Sklaven, sondern frei, aber dennoch als Menschen letzter Ordnung sowohl räumlich als auch sozial am äußersten Rand der Gesellschaft leben. Zugleich prangert er die Bigotterie und Engstirnigkeit der weißen Provinzler an: Als vermeintlich tödlich verletzter Lebensretter wird Henry von ihnen noch gefeiert, als lebendes „Monster“ nun mitleidslos erst recht ausgegrenzt. Sogar der „Schwarzen-Freund“ Trescott, einst ein allseits beliebter Arzt, wird fortan gemieden.
Äußerst amüsant sind dagegen Cranes Erzählungen aus der Kindheit – mit uns vertrauten Szenen: So will der kleine Horace („Neue Handschuhe“) aus Angst vor Ärger mit der Mutter nach Kalifornien ausreißen: „Er würde fortlaufen. … Aber am Tor hielt er inne. … Da der Sturm sehr kalt war und dieser Punkt sehr wichtig, entschied er sich zum Rückzug in den Holzschuppen.“ Wer kennt nicht die Not des Schülers („Redner in Nöten“), beim Vortrag vor der Klasse zu versagen, und der deshalb seiner Mutter eine Krankheit vortäuscht: „Am nächsten Tag – ein Samstag und somit schulfrei – war er wunderbarerweise aus der Umklammerung der Krankheit befreit und nahm seine Spiele wieder auf, ein gesunder Junge, wie er lautstark bewies.“ In „Der kleine Engel“ erscheint uns die Jimmys selbstbewusste Cousine aus der Stadt wie eine frühe Ausgabe von Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf: Sie lädt an ihrem Geburtstag die staunenden Dorfkinder zu Eis und anderen Süßigkeiten ein sowie – zum späteren Entsetzen der Eltern – zum gemeinsamen Friseurbesuch.
„Das Monster und andere Geschichten“ ist mit thematisch ganz unterschiedlichen Geschichten ein Buch zum Schmunzeln, aber auch zum Nachdenken. Obwohl alle Erzählungen bereits vor 1900 entstanden, sind sie dank ihrer neuen Übersetzung von Lucien Deprijck (62), der im Nachwort Interessantes zum Autor und seinen Geschichten beisteuert, überhaupt nicht altbacken, sondern wirken modern wie aus unserer Zeit: Provinzielles Denken, Überheblichkeit und Rassismus sind immer noch aktuell wie vor 125 Jahren. Die beschriebenen Charaktere treffen wir auch heute so oder ähnlich in Familie und Nachbarschaft. Genau dies macht die Lektüre dieses Sammelbandes so reizvoll und empfehlenswert.

Veröffentlicht am 10.12.2022

Tragische Sehnsucht nach Liebe

Eine Liebe
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REZENSION – Einerseits von der ungewöhnlichen Handlung fasziniert, andererseits auch irgendwie ratlos bleibt man nach Lektüre des 190-seitigen Kurzromans „Eine Liebe“ der spanischen Schriftstellerin Sara ...

REZENSION – Einerseits von der ungewöhnlichen Handlung fasziniert, andererseits auch irgendwie ratlos bleibt man nach Lektüre des 190-seitigen Kurzromans „Eine Liebe“ der spanischen Schriftstellerin Sara Mesa (46) zurück, der im August beim Verlag Klaus Wagenbach erschien. Handelt es sich bei diesem spanischen Bestseller, dessen Original zum besten Buch des Jahres gekürt und mit dem Preis des unabhängigen Buchhandels ausgezeichnet wurde, nun um eine Liebesgeschichte, wie der Titel vermuten lässt, oder doch nicht? Nach der Lektüre bleibt man mit einem unsicheren Gefühl zurück.
In jedem Fall geht es um einen Neuanfang: Die 30-jährige Natalie entflieht nach herber Enttäuschung und Kränkung aus der Großstadt ins winzige Dorf La Escapa (dt. Flucht) im ländlichen Nirgendwo, um in einem angemieteten Häuschen nicht nur ein neues Leben zu beginnen, sondern auch als Übersetzerin wissenschaftlicher Texte sich erstmals in der Übersetzung von Theaterstücken zu versuchen. Doch beides will ihr nicht gelingen.
Als Fremdling in der Dorfgemeinschaft wird sie von den Einheimischen neugierig und kritisch beobachtet. Trotz größtes Bemühens bleibt sie eine Außenseiterin – wie die Roma-Familie und die als „Hexe“ im Dorf verunglimpfte demente Greisin Roberta. Sogar ihr vom Vermieter überlassene, von ihm wohl misshandelte und verwilderte Hund, den sie Sieso (dt. Nichtsnutz) tauft, will ihr nicht vertrauen und beobachtet sie kritisch aus sicherem Abstand. Der „Nichtsnutz“ bleibt wie auch Nat ein Außenseiter. Fühlt auch sie sich als Nichtsnutz – unfähig, ihrem Leben einen Sinn zugeben und Freunde zu finden?
Da der aufdringliche Vermieter nur an der Mietzahlung, nicht aber am Zustand seines Hauses interessiert ist, legt sie selbst unter Mühen auf dem verwilderten Grundstück einen neuen Garten an. Im Haus tropft der Wasserhahn, die Bohlen des Fußbodens sind verzogen und es regnet durchs Dach. Der wie ein Einsiedler lebende „Deutsche“ Andreas, von dem niemand weiß, woher er seinen Spitznamen hat, bietet ihr an, das Dach kostenlos zu reparieren, verlangt allerdings als Gegenleistung Sex. Anfangs nüchtern als „Tauschgeschäft“ eingegangen, wird für die noch unsichere und zurückhaltende Nat aus dem ungewöhnlichen Verhältnis zu diesem älteren Mann „eine Liebe“ - obsessiv und fordernd, aus Sehnsucht nach Vertrauen und Halt. Doch Liebe und Freundschaft bleiben einseitig. Halt findet Nat weder beim Sexpartner Andreas noch bei dem als hilfreicher Freund erscheinenden Píter.
Sara Mesas Roman fasziniert durch die abschreckende, brutal wirkende Nüchternheit in seiner Handlung, in den in ihrem Handeln widersprüchlich auftretenden Dorfbewohnern und in der sachlich knappen Sprache der Autorin: Die verhärmt und in ihrem Leben perspektivlos wirkenden Dorfbewohner sind hart in ihrem Urteil, verachten nicht nur Außenseiterin Nat, deren Liaison ausgerechnet mit dem „Deutschen“ für weiteres Misstrauen sorgt, sondern auch ihre Nachbarn. Die Dörfler scheinen mal vertrauensvoll, mal abweisend, werden unerwartet aggressiv. Erst wenn es gilt, Nat aus dem Dorf zu treiben, scheinen sich alle einig. Von einer harmonischen Dorfgemeinschaft ist jedenfalls nichts zu spüren. Nicht einmal die karge Landschaft bietet einen Hauch von Romantik. Alles erinnert an das ebenfalls vom Wagenbach Verlag im September veröffentlichte Buch „Leeres Spanien“ von Sergio Del Molino über Spaniens sterbende Dörfer. Aber gerade diese Nüchternheit und Gefühlskälte ist es, die Sara Mesas Kurzroman „Eine Liebe“ zu einer dramatischen und auf ihre Art ungemein fesselnden Geschichte, in deren Ablauf sich die Autorin – wie in einem eindrucksvollen Kammerspiel – allein auf ihre Protagonistin beschränkt, auf deren Gefühle und Gedanken, und alle anderen Personen eher als Randfiguren auftreten lässt.

Veröffentlicht am 02.12.2022

Literarischer Genuss trotz punktueller Kritik

Der Friedhof der vergessenen Bücher
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REZENSION – Fünf Jahre nach Abschluss seiner zwischen 2003 und 2017 veröffentlichten Tetralogie um die Bibliothek der vergessenen Bücher, die den spanischen Schriftsteller Carlos Ruiz Zafón (1964-2020) ...

REZENSION – Fünf Jahre nach Abschluss seiner zwischen 2003 und 2017 veröffentlichten Tetralogie um die Bibliothek der vergessenen Bücher, die den spanischen Schriftsteller Carlos Ruiz Zafón (1964-2020) weltweit berühmt gemacht haben, dürfen seine Fans nun erneut in die mystisch-düstere Atmosphäre Barcelonas in der doch nur fiktiven Welt des Autors eintauchen: Nach der deutschen Hardcover-Ausgabe (2021) erschien Ende November beim S. Fischer Verlag nun auch die preiswertere Taschenbuchausgabe des Erzählbandes „Der Friedhof der vergessenen Bücher“. Mit seinen elf Erzählungen, von denen sieben bisher unveröffentlicht waren, setzt Zafón seiner Heimatstadt, die er allerdings schon 1994 als 30-Jähriger in Richtung Los Angeles verließ, erneut ein Denkmal.
Jede dieser elf Erzählungen, die zwischen dem 16. Jahrhundert und unserer heutigen Zeit spielen, nimmt der Autor einzelne Aspekte seiner vorangegangenen Tetralogie noch einmal auf, vertieft die Charaktere der Hauptfiguren – dazu gehören der Dichter David Martin, die Buchhändlerfamilie Sempere ebenso wie der geheimnisvolle Verleger Andreas Corelli –, lässt durch seinen alle Geschichten verbindenden Ich-Erzähler über deren Vorgeschichte berichten oder trägt damit zum umfassenderen Verständnis seiner magischen Welt um die tief unter Barcelona verborgene Bibliothek bei, in der die durch staatliche Willkür verbotenen und in Vergessenheit geratenen Bücher darauf warten, sich endlich ausgesuchten Lesern wieder öffnen zu dürfen.
Wie die vier Romane bilden auch die Erzählungen eine Erfolg versprechende Mischung aus Schauerroman und Thriller, aus historischem Roman und Liebesgeschichte. So dürfte Zafón mit diesem postum veröffentlichten Band eine breite Leserschaft ansprechen. Andererseits mag man gelegentlich auch ein Abgleiten ins Triviale und Kitschige beobachten, wenn immer wieder von engen, labyrinthischen Gassen Barcelonas, von düsteren, in Nebelschwaden eingetauchten Fassaden zu lesen ist, als würde in Spanien niemals die Sonne scheinen. Doch genau diese düstere Schein- oder Parallelwelt, diese mystische Atmosphäre ist es, die Zafóns Romane zu Bestsellern hat werden lassen.
Der vor 20 Jahren erschienene erste Band um die Bibliothek der vergessen Bücher, „Der Schatten des Windes“, ist nach Experten-Aussage „der größte spanische Bucherfolg seit Cervantes' Klassiker 'Don Quijote'“. Da passt es, dass Zafón gerade ihn in der atmosphärisch besonders beeindruckenden Erzählung „Der Fürst des Parnass“ wieder aufleben lässt. Wenn auch nur entfernt nach der realen Vita des spanischen Nationaldichters angelegt, erfahren wir hier vom Werdegang des zu Lebzeiten noch erfolglosen Miguel de Cervantes (1567-1616), der – so erzählt es Zafón – erst durch den teufelsgleichen Verleger Andreas Corelli, schon damals mit Engels-Brosche am Revers und uns aus „Das Spiel des Engels“ bekannt, zum Abfassen seines 1605 erstveröffentlichten und später zum National-Epos erhobenen Ritterromans „Don Quijote“ genötigt wird. Drucker und Verleger dieses Werks ist in Zafóns Geschichte Antoni Sempere, ein Ahnherr des aus „Der Schatten des Windes“ bekannten Buchhändlersohns und Dichters Daniel Sempere. Tatsächlich ist Cervantes in Madrid beigesetzt, doch Zafón lässt ihn in Barcelona begraben. Auf Cervantes' Grab errichtet Sempere ein Bauwerk, „einen Friedhof der Gedanken und Erfindungen, …. dass er eines Tages die größte aller Bibliotheken beherbergen würde, in der jedes verfolgte oder von der Ignoranz und Bosheit der Menschen verschmähte Werk eine Heimstatt fände und auf die Wiederbegegnung mit dem Leser wartete, den jedes Buch in sich trägt“.
Schon zwischen den einzelnen Bänden der Tetralogie vergingen Jahre, so dass es kaum möglich war, sich der jeweiligen Handlung bis zum nächsten Band zu erinnern. Andererseits ließ sich jeder Band auch unabhängig vom Vorgänger lesen. Dasselbe gilt für die nun veröffentlichten Erzählungen. Doch alle Bücher vereint die magische Erzählwelt Zafóns, die seine Werke so einzigartig machen, dass die Lektüre auch dieses Bandes trotz punktueller Möglichkeit zur Kritik schon sprachlich ein literarischer Genuss ist.

Veröffentlicht am 15.11.2022

Unauffälliges Doppelleben im Hause Goncourt

Doppelleben
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REZENSION – Den Prix Goncourt, der seit 1903 als ältester und bedeutendster Literaturpreis Frankreichs alljährlich im November von der Académie Goncourt für den besten französischsprachigen Roman des Jahres ...

REZENSION – Den Prix Goncourt, der seit 1903 als ältester und bedeutendster Literaturpreis Frankreichs alljährlich im November von der Académie Goncourt für den besten französischsprachigen Roman des Jahres vergeben wird, kennt wohl fast jeder, der gern Bücher liest. Fragt man aber den Literaturfreund nach dem Leben der namensgebenden Schriftsteller-Brüder Edmond (1822-1896) und Jules Goncourt (1830-1870), spürt man oft Unwissen. Diese Wissenslücken lassen sich jedoch seit August mit der im Verlag Galiani veröffentlichten Romanbiografie „Doppelleben“ des Schweizer Schriftstellers Alain Claude Sulzer (69) auf wunderbare Weise schließen.
Der Autor entführt uns mit seinem einfühlsamen Roman zunächst ins Jahr 1869 und lässt uns am Alltag der zwillingsgleich lebenden Brüder Edmond und Jules in ihrer Villa in Auteuil am westlichen Stadtrand von Paris teilhaben. Dort war das Brüderpaar erst ein Jahr zuvor eingezogen. Sie erhofften sich die Stille zum Arbeiten, die in ihrer früheren Stadtwohnung gegenüber der lärmenden Musikwerkstatt von Adolphe Sax, dem Erfinder des Saxophons, nicht gegeben war. Doch kaum eingezogen, brach beim acht Jahre jüngeren Jules die tödliche Syphilis aus, mit der er sich schon als Jüngling 20 Jahre zuvor infiziert hatte und die schließlich 1870 zum qualvollen Tod des erst 39-Jährigen führte.
Sulzer schildert in einer Rahmenhandlung ähnlich nüchtern, fast brutal, wie es im gemeinsamen Tagebuch der Brüder nachzulesen ist, Jules' körperlichen und geistigen Verfall. Rückblicke mit Berichten aus dem bisherigem Leben beider Brüder zeigen bald ein Gesamtbild und lassen uns Edmond und Jules besser kennenlernen. Wir erfahren vom Tod der Mutter, von gesellschaftlichen Treffen mit ihrem Freund Gustave Flaubert und anderen Künstlerkollegen im Palais der Napoleon-Nichte Prinzessin Mathilde Bonaparte. In einer längeren Parallelhandlung erfahren wir vom traurigen Schicksal ihrer Haushälterin Rose.
Vor allem diese Gegenüberstellung zweier Lebensläufe in Glanz und Elend – das Wohlstandsleben der Brüder Goncourt, die sich aufgrund ihres ererbten Grundbesitzes und Vermögens ganz der Schriftstellerei widmen können, und zeitgleich jenes armselige, bedauernswerte Schicksal ihrer Haushälterin Rose – bringen die Spannung und Dramatik in Sulzers Roman. Erst jetzt erkennt man die eigentliche Aussage des Romantitels: Mit „Doppelleben“ ist weniger das Leben der zwei Brüder Goncourt gemeint, die doch eher nur ein, nämlich gemeinsames Leben führten, sondern vielmehr das Leben des Brüderpaares zeitgleich zu jenem ganz anderen ihrer Haushälterin – zwei Leben in zwei Parallelwelten. Diese Gegensätzlichkeit des „Doppellebens“ macht Sulzers gleichnamigen Roman nicht nur für Freunde literarischer Klassiker, sondern auch allgemein für Liebhaber historischer Romane interessant und lesenswert: Obwohl die Brüder Goncourt als genaue Beobachter bekannt sind, denen angeblich keine Kleinigkeit entging, achteten sie doch nur auf ihre eigene Gesellschaftsschicht. Der beklagenswerte „Absturz“ ihrer Haushälterin, die das Brüderpaar schon seit deren Kinderjahren treu umsorgte, zuletzt aber zur Trinkerin und Diebin wird, fiel beiden nicht auf. Rose gehörte für sie zwar als Dienstperson zum Haus, doch der Mensch Rose war für beide uninteressant.
Mit „Doppelleben“ ist dem bereits mehrfach ausgezeichneten Schweizer Autor wieder ein lesenswerter Roman gelungen, der dazu verleitet, sich nach der Lektüre mit den beiden Goncourts noch intensiver zu beschäftigen. Kritisch wäre allenfalls anzumerken, dass Jules' Krankheitsverlauf und körperlicher Verfall nicht in dieser Ausführlichkeit hätte beschrieben werden müssen.

Veröffentlicht am 14.10.2022

Sprachlich frein geschliffene Road Novel

Lincoln Highway
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REZENSION – Schon mit seinem preisgekrönten Romandebüt „Eine Frage der Höflichkeit“ (2011) schaffte der amerikanische Schriftsteller Amor Towles einen beachtlichen Erfolg, der es ihm erlaubte, zwei Jahre ...

REZENSION – Schon mit seinem preisgekrönten Romandebüt „Eine Frage der Höflichkeit“ (2011) schaffte der amerikanische Schriftsteller Amor Towles einen beachtlichen Erfolg, der es ihm erlaubte, zwei Jahre später seinen Beruf als Investmentbanker nach 20 Jahren aufzugeben, um sich ausschließlich der Schriftstellerei zu widmen. Sein zweiter Roman „Ein Gentleman in Moskau“ (2016) stand zwei Jahre auf der Bestsellerliste der New York Times und war ein in 30 Sprachen übersetzter, herausragender Weltbestseller, der 2018 auch auf Deutsch übersetzt wurde. Nun erschien im Juli bei Hanser Literaturverlage Amor Towles dritter Roman „Lincoln Highway“.
Wieder ist dem Autor ein ausgezeichneter, unbedingt lesenswerter Roman gelungen ist, der allerdings nicht mit seinem Vorgänger mithalten, vielleicht auch gar nicht verglichen werden sollte. Schilderte der „Gentleman in Moskau“ in ironisch-satirischem Tonfall eine Zeitreise durch vier Jahrzehnte sowjetischer Politik und Geschichte, ähnelt „Lincoln Highway“ einer klassischen amerikanischen Road Novel.
Der von manchem als „Americana“ eingeordnete Roman schildert den amerikanischen Traum von vier jungen, auf sich allein gestellten Amerikanern, trotz schwieriger Ausgangsbedingungen unbeirrt ihren Weg zu gehen, um etwas vom Lebensglück abzubekommen, auch wenn die Fahrt zunächst in die völlig falsche Richtung führt und manche Rück- und Tiefschläge zu überwinden sind: Der 18-jährige Emmett wird vorzeitig aus der Jugendbesserungsanstalt entlassen, um sich nach dem Tod des Vaters in Nebraska um seinen erst achtjährigen Bruder Billy kümmern zu können. Beide vermuten ihre vor Jahren verschwundene Mutter in San Francisco, dem Endpunkt des Lincoln Highway im „goldenen Westen“. Kurz vor Abreise mit Emmetts altem Studebaker tauchen Emmetts Mithäftlinge Duchess und Woolly auf, die die Strafanstalt unerlaubt verlassen haben. Sie wollen allerdings nach New York City an der Ostküste. So beginnt eine zehntägige Odyssee von vier charakterlich völlig unterschiedlichen Jugendlichen.
Auch in seinem neuen Roman trifft Autor Towles sprachlich den perfekt zu seinen unterschiedlichen Protagonisten passenden Stil. Dies ist umso bedeutender, da alle Vier im Wechsel selbst aus ihren jeweils eigenen Jugendjahren sowie über ihre gemeinsamen Erlebnisse während dieser Fahrt erzählen. Dabei versuchen sie, jeweils nach eigenem Vermögen ihre Vergangenheit aufzuarbeiten und ganz persönliche Konsequenzen für ihr zukünftiges Leben zu ziehen. Die Erzählungen dieser unterschiedlichen Charaktere ergeben in Summe ein stimmiges Gesamtbild.
Towles schafft es mit seiner feinfühligen Art zu erzählen, dass man die vier jungen Protagonisten trotz oder vielleicht gerade wegen mancher charakterlicher Schwächen schnell liebgewinnt und sie voll Mitgefühl bei ihrem Streben nach etwas Glück begleitet. Allerdings wirkt dieser auch in Melancholie abdriftende Sprachstil gelegentlich unpassend und unglaubwürdig, passt er doch nicht unbedingt zu Duchess, der, getrieben von Rachegelüsten, sich durch seine Neigung zu brutaler Gewalt von den anderen unterscheidet. So mag „Lincoln Highway“ nicht in allen Punkten das literarische Niveau seines Vorgängers „Gentleman in Moskau“ erreichen. Doch verzichtet man – wie eingangs angemahnt – auf einen direkten Vergleich, ist auch dieser dritte Roman von Amor Towles, allein für sich betrachtet, eine durchaus empfehlenswerte und gefällige Lektüre.