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Veröffentlicht am 20.02.2023

Beunruhigendes Psychogramm

Das Museum der Stille
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Ein junger Mann reist in ein kleines Dorf in der Provinz. Dort soll er für eine alte Dame ein ganz besonderes Museum einrichten. Schon seit Jahren stiehlt sie Gegenstände von verstorbenen Dorfbewohnern, ...

Ein junger Mann reist in ein kleines Dorf in der Provinz. Dort soll er für eine alte Dame ein ganz besonderes Museum einrichten. Schon seit Jahren stiehlt sie Gegenstände von verstorbenen Dorfbewohnern, um die Erinnerung an sie aufrecht zu erhalten und ihre Geschichte zu erzählen. Diese Aufgabe geht nun auf den Protagonisten über. Mit Unterstützung der Adoptivtochter der Alten macht er sich an die Arbeit und gerät bald in einen Strudel von Ereignissen.

„Das Museum der Stille“ der mehrfach ausgezeichneten Autorin Yoko Ogawa erschien bereits im Jahr 2005 zum ersten Mal auf Deutsch. Nun liegt im Liebeskind Verlag eine gebundene Neuausgabe vor. Erzählt wird aus Sicht des jungen Kurators in der Ich- und Vergangenheitsform. Somit wissen wir als Leser*innen immer nur so viel, wie er selbst und teilen seinen - im Verlauf der Handlung immer weiter zunehmenden – Widerwillen gegen den Diebstahl der Erinnerungsstücke. Als sich im Dorf düstere Geschehnisse ereignen, schlägt dieser in blanke Angst um.

Im Zentrum der Geschichte steht sicherlich die Erschaffung des seltsamen Museums und die Beziehung des Protagonisten zu der Alten und ihrer Tochter. Je mehr Stücke er auf illegale Weise beschafft und katalogisiert, umso tiefer wird er in den Bann des Museums gezogen – und auf einmal überschlagen sich die Ereignisse: die Briefe an seinen Bruder bleiben immer länger unbeantwortet, ein Sprengstoffanschlag wird im Dorf verübt und ein Serienmörder tötet und verstümmelt junge Frauen. Der bis zu diesem Zeitpunkt eher behäbig daherkommende Roman entwickelt sich zu einem beunruhigenden Psychogramm – wem können wir noch vertrauen? Oder hat am Ende der Protagonist selbst die Finger im Spiel?

Zur besonderen Atmosphäre des Buches trägt auch die Anonymisierung der Figuren bei. Keine von ihnen hat einen Namen, sondern wird nur nach ihrem Alter („die Alte“, „der junge Mann“) oder der Funktion („der Gärtner“, „der Mönch“) beschrieben. Somit entsteht das unangenehme Gefühl, einen Augenzeugenbericht über einen Kriminalfall zu lesen, der unbemerkt irgendwo in Japan geschehen ist und niemals aufgeklärt wurde.

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Veröffentlicht am 10.02.2023

Emotionale Neuerzählung

STONE BLIND – Der Blick der Medusa
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Medusa ist noch ein Säugling, als sie vor der Höhle ihrer Schwestern, der Gorgonen Euryale und Stheno abgelegt wird. Liebevoll ziehen die beiden als Monster verschrienen Frauen die Kleine auf, obwohl sie ...

Medusa ist noch ein Säugling, als sie vor der Höhle ihrer Schwestern, der Gorgonen Euryale und Stheno abgelegt wird. Liebevoll ziehen die beiden als Monster verschrienen Frauen die Kleine auf, obwohl sie doch ganz anders ist; schwächer, mit Flügeln und vor allem eines: sterblich. Viele Jahre später macht sich der junge Perseus auf eine gefährliche Reise, um seine Mutter Danaë vor einer Zwangsehe zu bewahren, doch König Polydektes will nur auf ihre Hand verzichten, wenn Perseus ihm den Kopf einer Gorgone bringt.

„Stone Blind. Der Blick der Medusa“ ist bereits der vierte Roman für Erwachsene aus der Feder der Schriftstellerin und Comediennne Natalie Haynes. In ihrem Podcast „Natalie Haynes stands up for the Classics“ widmet sie sich mythologischen Figuren und Werken aus dem alten Rom und Griechenland. Ihre Neuerzählung des Medusa-Mythos wird aus den unterschiedlichsten Perspektiven geschildert, was das Geschehen von allen Seiten beleuchtet. Es sei dabei auch verraten, dass nicht nur Menschen zu Wort kommen und trotz Alter und Schwere des Stoffes durchaus gelacht werden darf.

Die Handlung rund um Medusa, ihre verhängnisvolle Begegnung mit Poseidon und Athene und die Gemeinschaft mit ihren beiden Schwestern steht im Zentrum des Romans. Vor allem die Beziehung zwischen den drei Gorgonen geht dabei sehr zu Herzen. Euryale und Stheno sehen sich denselben Problemen und Ängsten gegenüber, wie menschliche Eltern. Jeden Schritt und jede Veränderung an Medusa beäugen sie kritisch und fragen sich, ob sie als Mütter eigentlich gut genug sind. Witzig hingegen ist die Interaktion zwischen dem doch sehr hilflosen Perseus auf der einen und Athene und Hermes auf der anderen Seite, die ihm als einem der vielen Söhne des Zeus göttlichen Beistand leisten sollen.

Der ständige Perspektivwechsel, der die Geschichte einerseits sehr spannend und dynamisch macht, führt andererseits dazu, dass wir einen großen Teil des Buches nicht mit der Protagonistin verbringen. Ich verstehe, dass die Autorin hier die Zusammenhänge aufzeigen wollte, hätte aber gerne noch mehr von Medusa und ihrem Schicksal gelesen.

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Veröffentlicht am 05.02.2023

Eine wichtige Sammlung

Global Female Future
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1982 – ein turbulentes Jahr mit dem Krieg um die Falklandinseln, dem Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt und Massenprotesten für die atomare Abrüstung. An vorderster Front bei all diesen Protesten: Frauen. ...

1982 – ein turbulentes Jahr mit dem Krieg um die Falklandinseln, dem Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt und Massenprotesten für die atomare Abrüstung. An vorderster Front bei all diesen Protesten: Frauen. Mitten in dieser Umbruchstimmung gründen einige Aktivistinnen in Wien die Frauen*solidarität (damals noch ohne Sternchen), eine feministische Organisation mit gleichnamigen Magazin, welche zunächst auf die Frauenfeindlichkeit in der Entwicklungshilfe hinweisen soll.

Zu deren 40-jährigem Bestehen erschien nun der vorliegende Band „Global Female Future“, herausgegeben von zwei der Gründerinnen – Andrea Ernst und Gerda Neyer – zusammen mit Ulrike Lunacek, Rosa Zechner und Andreea Zelinka. Er umfasst sechs große Themengebiete: (Anti-)Rassismus und Postkolonialismus, Gewalt, Reproduktion, Politik, Arbeit sowie Umwelt und Klima, deren Grenzen jedoch fließend sind.

Die Sammlung besteht aus diversen Beitragsformen; es finden sich Artikel, Interviews, Gedichte, Liedtexte, Prosa und vieles mehr darin. Infokästen ergänzen das Gelesene und bieten zu bestimmten Themen einen tieferen Einblick. Es wird sowohl auf erfolgreiche feministische Aktionen und Projekte aus den unterschiedlichsten Ländern und Kontinenten zurückgeblickt, als auch in die Zukunft. So entsteht ein breiter Einblick, der aber nicht thematisch zusammenhängend oder logisch aufeinander aufbauend ist. Es wird zum Nachdenken angeregt, aber vieles muss sicherlich noch durch eigene Lektüre vertieft werden.

„Global Female Future“ spricht viele aktuelle Themen an, zum Beispiel anti-asiatischen Rassismus, Postkolonialismus oder Care-Arbeit. Dabei wird durchaus Bekanntes aufgegriffen, wie die Ethik von Leihmutterschaften oder den Einsatz ausländischer Kräfte in der häuslichen Pflege. Andere Themen, etwa das der Zwangssterilisationen in den 90er Jahren in Peru oder die Herausforderungen, die weibliche Guerrillas in Lateinamerika bei der Rückkehr in ein „normales Leben“ bewältigen müssen, waren mir vorher unbekannt.

Eine wichtige Sammlung.

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Veröffentlicht am 26.01.2023

Solider Reihenauftakt

Der Mitternachtsmord
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London, 1958. Nach dem Tod ihrer Mutter lebt Marion Lane bei ihrer Großmutter, bis sie mit Anfang 20 einen Job bei „Miss Brickett‘s gebrauchte Bücher und Kuriositäten“ angeboten bekommt. Doch hinter der ...

London, 1958. Nach dem Tod ihrer Mutter lebt Marion Lane bei ihrer Großmutter, bis sie mit Anfang 20 einen Job bei „Miss Brickett‘s gebrauchte Bücher und Kuriositäten“ angeboten bekommt. Doch hinter der Fassade der heruntergekommenen Buchhandlung befindet sich der Eingang zu Londons geheimnisvollster Detektei, die sich in den Tunneln und Gängen unter der Stadt erstreckt. Dort befindet sich Marion nun in ihrem ersten Ausbildungsjahr zur „Inquirerin“, als eine Kollegin brutal ermordet wird. Als dann noch ihr Mentor verdächtigt wird, muss Marion ihre eigenen Ermittlungen anstellen.

„Der Mitternachtsmord“ ist der Auftakt einer historischen Krimi-Reihe, deren dritter Originalband im Juni erscheinen wird. Die Handlung wird aus der Sicht der Protagonistin Marion erzählt, nur zu Beginn springen wir zu der Szene, die sich unmittelbar vor dem Mord abspielt. T.A. Willberg gelingt es dabei wunderbar, das Labyrinth unter London zum Leben erwachen zu lassen. Laut eigener Aussage lies sie sich dabei von den Tunneln unter Maltas Hauptstadt Valletta inspirieren, wo die in Südafrika geborene Autorin ihre Wahlheimat gefunden hat.

Der Handlungsort ist definitiv einer der Hauptanziehungspunkte der Geschichte. Darüber hinaus gefiel es mir sehr gut, dass Marion sich für Technik begeistert und hier durchaus ihren männlichen Mitlehrlingen überlegen ist. Auch wenn sie manchmal nicht die besten Entscheidungen trifft, ist sie auf jeden Fall eine starke Persönlichkeit. Für meinen Geschmack hätte sie jedoch ein wenig mehr Tiefe verdient, denn wir wissen zwar, worin Marion begabt ist, aber was macht sie ansonsten aus? Welche Ängste hat sie? Welche Träume? Generell bleiben alle Figuren, vor allem die anderen Lehrlinge, etwas blass, was sich hoffentlich in den Folgebänden ändert.

Für den eigentlichen Kriminalfall gibt es jede Menge Verdächtige, doch nach etwa der Hälfte des Buches ist die/der Schuldige gefunden und es strebt alles nur noch auf den letztendlichen Showdown hin. Hier hätte der Spannungsbogen etwas besser gehalten werden können – dennoch ein solider Reihenauftakt, der Spaß macht.

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Veröffentlicht am 25.01.2023

Interessanter Überblick

Brecht und die Frauen
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Zeit seines Lebens umgab sich Bertolt Brecht mit Frauen; seine Arbeit ist untrennbar mit ihnen verbunden. Dieses Verhalten brachte ihm oft Kritik sein und führte zu der Wahrnehmung, für sie alle müsse ...

Zeit seines Lebens umgab sich Bertolt Brecht mit Frauen; seine Arbeit ist untrennbar mit ihnen verbunden. Dieses Verhalten brachte ihm oft Kritik sein und führte zu der Wahrnehmung, für sie alle müsse Mitleid empfunden werden. Die freie Autorin, Herausgeberin, Journalistin und Übersetzerin Unda Hörner setzt nun in „Brecht und die Frauen“ einen anderen Fokus und stellt uns chronologisch die wichtigsten seiner Gefährtinnen vor.

Obwohl seine Jugendliebe Paula Banholzer nie zu Brechts Theaterwelt gehörte, beschäftigte sie seine Gedanken ein Leben lag. Ehen führte Brecht zwei: von Marianne Zoff wurde er nach fünf Jahren Ehe wieder geschieden, mit Helene Weigel blieb er bis an sein Lebensende verheiratet. Sie beschreibt Unda Hörner treffend als Zentrum des Brechtschen Universums. Die große Schauspielerin und Intendantin kümmerte sich neben ihren zwei Kindern auch um die Geliebten ihres Gatten, den Haushalt und ihre Karriere.

Elisabeth Hauptmann verdankt Brecht seinen großen Erfolg „Die Dreigroschenoper“, denn sie entdeckte das Original und übersetzte es. Darüber hinaus organisiert, strukturiert und koordiniert sie Brechts Schreiben. Margarete Steffin wird in Brechts Figur „Lai-Tu“ fortbestehen, ihr Tod wirft ihn aus der Bahn und er ist unfähig zu schreiben. Die Dänin Ruth Berlau hilft Brecht, seine Stücke im Exil wieder auf die Bühne zu bringen. Im Gegensatz zu Helene Weigel, die genau weiß, worauf sie sich bei ihrem Mann eingelassen hat, wird sie jedoch stets darunter leiden, nicht die einzige Frau für Brecht zu sein. Nach dessen Tod stehen viele Frauen an seinem Grab; manche von ihnen arbeiten auch zukünftig in seinem Sinne zusammen.

Unabhängig von Brecht waren all diese Frauen erfolgreich, schrieben Erzählungen, inszenierten Stücke, spielten Hauptrollen – sie mögen oft unglücklich über Brechts Verhalten gewesen sein, Opfer sind sie jedoch nicht. Wer bereits viel über Brechts Leben weiß, erfährt aus diesem Buch nicht viel Neues, gelungen ist es dennoch. Allerdings verwundert es, dass die Autorin keines ihrer zahlreichen Zitate konkret nachweist.

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