Profilbild von Buchbesprechung

Buchbesprechung

Lesejury Star
offline

Buchbesprechung ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Buchbesprechung über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 29.04.2023

Beitrag zur innerdeutschen Ost-West-Diskussion

Calixt
0

REZENSION - Nach einer Reihe politischer Sachbücher erschien 2021 mit „Morandus“ der erste Roman des Politikwissenschaftlers Matthias Zimmer (62), in dem er sich populärwissenschaftlich mit der Zeit des ...

REZENSION - Nach einer Reihe politischer Sachbücher erschien 2021 mit „Morandus“ der erste Roman des Politikwissenschaftlers Matthias Zimmer (62), in dem er sich populärwissenschaftlich mit der Zeit des Nationalsozialismus befasste. Jetzt folgte im April, ebenfalls in der Edition Faust erschienen, sein wiederum beeindruckender zweiter Roman „Calixt“. Darin geht es um die unterschiedlichen Sichtweisen der Deutschen in Ost und West über die DDR sowie die Problematik der „Wiedervereinigung“ – in Ostdeutschland mehrheitlich „Wende“ genannt – und deren gesellschaftliche Folgen. Im Gegensatz zu wissenschaftlichen Publikationen ist es Zimmer auch in diesem Roman wieder möglich, neben sachlicher Argumentation und Fakten auch emotionale Aspekte in die Betrachtung einfließen zu lassen, die bei der Diskussion dieser Thematik nicht unwichtig sind.
Die Protagonisten in Zimmers Geschichte sind der inzwischen verstorbene, international angesehene DDR-Historiker Rudolf Herzberg und seine Ehefrau Rita als Vertreter der Gründergeneration sowie beider Sohn Franco, der nach seiner Flucht 1988 jetzt als Gymnasiallehrer im Westen lebt, und die nach wie vor in Thüringen lebende und politisch bei den Linken aktive Tochter Rosa. Der Autor lässt uns anhand ihrer und weiterer Biografien sowohl in die Anfangsjahre der DDR zurückkehren als auch die gesellschaftspolitische Gegenwart der östlichen Bundesländer erleben. Dabei ist es diese fast unbarmherzig wirkende Gegenüberstellung so verschiedener bis gegensätzlicher Sichtweisen der Protagonisten, die die Lektüre des Romans „Calixt“ äußerst faszinierend und spannend macht.
Francos Eltern waren überzeugte Sozialisten: Mutter Rita hatte die Schrecken des KZ Ravensbrück durchleben müssen. Als Opfer des Faschismus stand für sie fest: „Sozialismus oder Barbarei“. Der katholisch erzogene Vater hatte sich nach dem Krieg von der Kirche abgewandt: „Wo die Kirche die Bestien der Menschheit nicht zurückhalten kann, kann es vielleicht der Sozialismus.“ Als Historiker war er in der DDR nie politisch aktiv, eher ein „Sozialist aus Vernunft“. In seinen Gesprächen mit dem Todesengel Esra – der intellektuell interessanteste Teil des Romans, aber in Summe doch zu ausschweifend – gibt Historiker Rudolf Herzberg rückblickend aber zu, im Laufe der DDR-Geschichte die Wahrheit geschönt zu haben: „Wahrheit ist relativ zu der Situation, in der man sich befindet.“ Den Sozialismus hatte er als Bollwerk gegen den Faschismus gesehen. Diesen zu verhindern „war oberstes Gebot, damit konnte auch der Zweck die Mittel heiligen“, verteidigt er sich im Zweigespräch mit Esra, der ihm vorwirft, sich selbst belogen zu haben.
Mögen auch viele Argumente, die Matthias Zimmer in seinem Roman verarbeitet, einzeln betrachtet nicht neu sein, macht allerdings deren geballte Gegenüberstellung – der durchaus verschiedenartige Rückblick der Ostdeutschen auf ihr Alltagsleben in der DDR und der leider oft einseitige Blick vieler Westdeutscher – den Roman zu einer interessanten Lektüre, die auch nach der letzten Seite des Buches noch nachwirkt. So hätten viele Ostdeutsche mit ihrem Ruf „Die Mauer muss weg“ nicht zwangsläufig die Vereinnahmung ihrer Heimat durch den Westen als Kolonie „Fünfneuland“ erleben wollen, heißt es im Buch, sondern hofften auf einen neuen Sozialismus, „der aus sich selbst heraus leben sollte“. Sie sahen im Ende der DDR nicht automatisch die Vereinnahmung durch den Westen, sondern eine „Chance für eine neue Utopie, die sich nicht mehr durch den Antifaschismus legitimierte“.
Nach Abwägung aller Argumente lässt Autor Matthias Zimmer seinen 1988 aus der DDR geflohenen Franco feststellen: „Ich habe heute mehr Verständnis für die unterschiedlichen Wege, die Menschen gegangen sind, für die unterschiedlichen Biografien. Und ich habe Respekt vor den Lebensleistungen, für das Hierbleiben [in der DDR] unter schwierigen Bedingungen.“ Der Roman „Calixt“ kann zu noch besserem Verständnis zwischen Menschen in Ost und West beitragen, zum Verständnis der unterschiedlichen Beweggründe und Zwänge des individuellen Handelns, und dabei helfen, die in den Köpfen vieler Westdeutscher nach über 30 Jahren noch immer bestehende Mauer zwischen West und Ost endgültig abzubauen.

Veröffentlicht am 19.03.2023

Novelle mit nachhaltiger Wirkung

zu zweit
0

REZENSION – Die belletristischen Werke des Althistorikers und FAZ- Feuilletonisten Simon Strauß sind gewiss keine leichte Kost. Wer sich erstmals an ein Werk des 35-Jährigen wagt, mag Mühe haben, an der ...

REZENSION – Die belletristischen Werke des Althistorikers und FAZ- Feuilletonisten Simon Strauß sind gewiss keine leichte Kost. Wer sich erstmals an ein Werk des 35-Jährigen wagt, mag Mühe haben, an der düsteren Stimmung, die seinen drei Büchern eigen ist, Gefallen zu finden. In Strauß' Debüt, der Erzählung „Sieben Nächte“ (2017), ging es um einen jungen Mann, der einsam und melancholisch über sein künftiges Leben nachdenkt. Auch im zweiten Buch „Römische Tage“ (2019) lässt Strauß einen jungen Mann angesichts unserer modernen Zeit wieder in trister Stimmung über die verlorenen Ideale der Antike und unsere Welt von morgen sinnieren. In seinem nun dritten Buch, der im Januar beim Tropen Verlag erschienenen Novelle „zu zweit“, treffen wir auf einen jungen Mann, der sich mit dem Leben in Einsamkeit abgefunden hat, seine Mitmenschen meidet. Wieder ist es diese Melancholie, die zunächst abschrecken mag. Doch irgendwann ist man dann doch von dieser eigenartigen Stimmung und bildstarken Sprache gebannt.
In Strauß' Erzählung geht es um einen Mann und eine Frau, die - jeder auf eigene Art einsam, doch im Charakter gegensätzlich - nur der Zufall zusammenführt. Der Verkäufer, der missliebig eine vom Vater heruntergewirtschaftete Teppichhandlung übernommen hat, erwacht mitten in einer Regennacht in seiner Dachstube. Beim Rundgang durchs Haus und vor die Tür wird er vom Hochwasser, das die Stadt bereits überflutet hat, überrascht. Er scheint bei der Evakuierung vergessen worden zu sein, zieht sich Stiefel an und geht in die Katastrophennacht hinaus. Die junge Frau, ebenfalls auf sich allein gestellt, hat sich vor dem Hochwasser auf ihr vom Onkel vererbte Floß gerettet und treibt manövrierunfähig auf dem Fluss. Allein auf sich gestellt, hat sie Angst und fühlt sich hilflos. Beim Sprung von der Brücke landet der Teppichhändler, statt in der Flut zu versinken, nun ausgerechnet auf dem Floß der Frau. Jetzt sind sie „zu zweit“, aber deshalb weniger einsam?
Der Reiz dieser Novelle liegt in der Kunst des Autors zu beschreiben, wie sich die beiden so gegensätzlichen Charaktere aneinander herantasten. Statt auf Menschen zuzugehen, hatte sich der Verkäufer immer weiter von ihnen zurückgezogen und sich ersatzweise den materiellen Dingen zugewandt, in ihnen lebende Wesen gesehen, mit ihnen sogar gesprochen. Schon als Kind hatten ihm bei Begegnungen mit Menschen die passenden Worte gefehlt. Ganz anders die junge Frau: Sie hatte sich immer gern mit Menschen umgeben und plapperte bei jeder Begegnung gleich drauflos, verließ sich in ihrem planlosen, improvisierten Leben ganz auf ihr heiteres Wesen. „Wen immer sie traf, ließ sie nur schwer zu Wort kommen. Verordnete Ruhe hielt sie nicht aus.“ Schon von ihrer lebenslustigen Mutter hatte sie den Satz gehört: „'Siehst du, wie schön es ist, nicht allein zu sein.' Der Satz war als Imperativ gemeint.“
Doch jetzt, beim unerwarteten Zusammentreffen auf dem führungslosen Floß, war es ausgerechnet der Verkäufer, der nach langem Schweigen mit Fingerzeig auf die Kajüte den ersten Satz sprach: „'Wollen wir nicht reingehen?', als gäbe es keinen Zweifel daran, dass sie zusammengehören, weil er er ist und sie sie. In dieser Flutnacht, auf diesem Floß – nicht mehr der eine und die andere, sondern eben das: zu zweit.“ Beide suchen am anderen Halt. Doch zu zweit zu sein, bedeutet nicht zwingend das Gegenteil von Einsamkeit oder gar Zweisamkeit.
Gegen Ende der Novelle deutet sich zwar, wenn man es so verstehen will, eine schüchterne, zaghafte Liebesgeschichte an. Doch ob es wirklich eine wird, überlässt Simon Strauß den Lesern. Gerade dieses offene Ende seiner durch tiefgründige Charakterisierung beider Protagonisten so eindrucksvollen und leisen Erzählung mag einen in gewisser Weise unbefriedigt zurücklassen. Doch ist es gerade dieses offene Ende, das die Novelle „zu zweit“ noch lange nachwirken lässt.

Veröffentlicht am 06.03.2023

Ungewöhnliche, tief beeindruckende Island-Saga

Dein Fortsein ist Finsternis
0

REZENSION – Ein eindrucksvolles Epos, wie man es heute nur selten zu lesen bekommt, ist der im Januar im Piper Verlag erschienene Roman „Dein Fortsein ist Finsternis“ des isländischen Schriftstellers Jón ...

REZENSION – Ein eindrucksvolles Epos, wie man es heute nur selten zu lesen bekommt, ist der im Januar im Piper Verlag erschienene Roman „Dein Fortsein ist Finsternis“ des isländischen Schriftstellers Jón Kalman Stefánsson (59). Es ist eine bewegende Erzählung gegen das Vergehen und Vergessen, eine kompakte Island-Saga, die aus der Gegenwart weit über 120 Jahre bis ans Ende des 19. Jahrhunderts zurückreicht und am Beispiel einer bäuerlichen Familie und ihres Umfelds über sechs Generationen den Wandel dieser einst überwiegend von armen Schafzüchtern und Fischern fernab jeder Bildung und Kultur bewohnten kargen Insel „am nördlichen Ende der Welt“ zu einem heute extravaganten Ausflugsziel internationaler Touristen beschreibt.
„Dein Andenken ist Licht, dein Fortsein Finsternis“ lautet die Inschrift eines verwitterten Grabsteins auf dem uralten Friedhof an einem entlegenen Fjord, der noch älter als die kleine Kirche ist, in der Stefánssons namenloser Erzähler mit totalem Gedächtnisverlust erwacht. Hinter ihm sitzt ein geheimnisvoller alter Mann, der sich dem Erzähler nicht zu erkennen gibt – ist es Gott, der Teufel, das personifizierte Schicksal? –, ihn aber auf seiner Spurensuche begleiten wird. Auf dem Friedhof trifft der Erzähler Rúna, die ihm die Geschichte ihrer Familie zu erzählen beginnt und ihn zu ihrer Schwester Sóley schickt, Betreiberin des kleinen Dorfhotels am Ufer des Fjords.
Mit Hilfe dieser und anderer Geschichten über Familie, Nachbarn und Freunde in Gegenwart und Vergangenheit setzt der Erzähler eine faszinierende Island-Saga zusammen, geleitet vom geheimnisvollen Alten, dem bärtigen „Busfahrer mit der Lizenz, mich zwischen den Welten und Zeiten, den verschiedenen Bühnen des Lebens hin und her zu kutschieren.“ Wir lernen die Vorfahren des Musikers Eiríkur kennen, der als junger Mann Island verlassen hat und 40 Jahre später auf Drängen seines Vaters Hálldor nach Nes zurückkehrt. Seine Familiengeschichte reicht bis zur Ururgroßmutter Guðríður zurück: „… alles geschah, weil Pétur und Guðríður vor hundertzwanzig Jahren nach Stykkishólmur ritten.“
Aus einzelnen Erzählungen („Manche Leben scheinen so ereignislos zu verlaufen, dass sie sich kaum beschreiben lassen.“) baut sich eine großartige Familiengeschichte auf, in der nicht nur Guðríður und Pétur einst der „Kompassnadel ihres Herzens“ gefolgt sind, sondern auch ihre Nachkommen auf jeweils eigene Art, waren sie sich doch trotz wandelnder Zeiten in Charakter und Mentalität ähnlich: »Die Vergangenheit lebt ewig in uns weiter. Sie ist der unsichtbare, geheimnisvolle Kontinent, von dem du manchmal im Halbschlaf eine Ahnung bekommst.«
Jón Kalman Stefánsson springt in seinen Roman von Figur zu Figur, von Geschichte zu Geschichte, durch Zeiten und Generationen scheinbar beliebig hin und her, so dass man die Übersicht verlieren und sich in den Generationen leicht verirren kann. „Manche nennen es den Spaß der Götter. Karten und Leben durcheinanderzuwirbeln, zu ihrem Vergnügen Knoten zu schürzen, irgendwo eine unerwartete Kurve einzubauen, eine Brücke einzureißen, unsere Herzen in Wallung zu versetzen und dem Dasein einen Stups zu geben, um alles, was fest und sicher scheint, auf den Kopf zu stellen.“ Dann empfiehlt es sich, den Rat des Erzählers anzunehmen: „Halldór und Páll Skúlason. Merk dir die Namen, aber halte dich vorerst nicht länger mit ihnen auf, denn kaum erwähnen wir sie, treten sie auch schon wieder zurück wieder zurück in den Schatten, …. und treten wieder hervor, wenn sie gerufen werden.“ Es sind die kleinen schicksalhaften, wahrhaftigen und berührenden Geschichten, die jede für sich allein schon einem Kurzroman gleicht. Aus dem Gesamtbild aller Einzelschicksale ergibt sich schließlich die literarisch ungewöhnliche Island-Saga, die nicht nur in ihren Menschen- und Landschaftsbeschreibungen atmosphärisch beeindruckt, sondern auch sprachlich – auch ein Verdienst des Übersetzers Karl-Ludwig Wetzig. Für Stefánsson Roman gilt, was dort über den Brief der Großmutter an Eiríkur zu lesen ist: „… zwischen den Zeilen schimmerten Wärme und Zuneigung durch, flossen wie eine mächtige Strömung unter den Sätzen.“ Es ist schon ein paar Jahre her, dass mich ein Schriftsteller mit seinem Buch derart begeistert hat, tief berührt und nachdenklich zurückgelassen hat.

Veröffentlicht am 07.02.2023

Immer noch nachhaltig berührend

Die Mietskaserne
0

REZENSION – Nach Lektüre des bereits 1931 erstveröffentlichten Romans „Die Mietskaserne“ von Ernst Erich Noth (1909-1983) muss man dem Glotzi Verlag für die Neuausgabe als Taschenbuch im Jahr 2021 ausdrücklich ...

REZENSION – Nach Lektüre des bereits 1931 erstveröffentlichten Romans „Die Mietskaserne“ von Ernst Erich Noth (1909-1983) muss man dem Glotzi Verlag für die Neuausgabe als Taschenbuch im Jahr 2021 ausdrücklich danken: Dieser Roman des damals erst 22-jährigen Berliner Schriftstellers ist ein einzigartiges, trotz seines Alters noch unverändert beeindruckendes Zeitdokument über die ärmliche und erbärmliche Lebenssituation des einstigen Großstadt-Proletariats in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, zusammengepfercht in maroden Hochhäusern ohne jeglichen Komfort. Der junge Autor schildert in seiner eindrucksvollen Erzählung, die im Mai 1933 als „undeutsch und schädlich“ den Bücherverbrennungen der Nazis zum Opfer fiel, den „Überlebenskampf seiner Kindheits- und Jugendjahre mit seinen Gefährdungen und Verwirrungen“ (Nachwort). Es ist zugleich der Kampf eines in der Mietskaserne zwischen engen Mauern, streitenden Eltern und niederem Milieu „eingesperrten“ Oberschülers auf der verzweifelten Suche nach einem besseren Leben in Freiheit.
Der 22-jährige Autor hatte zur Veröffentlichung seines bald nach Erscheinen in sechs Sprachen übersetzten Bestsellers statt seines bürgerlichen Namens Paul Albert Krantz das Pseudonym Ernst Erich Noth gewählt, war er doch drei Jahre zuvor als Angeklagter im Steglitzer Schülermordprozess in die Schlagzeilen geraten: Im Juni 1927 hatte der Oberschüler Paul Krantz mit zwei Freunden verabredet, sich wegen unglücklicher Liebesgeschichten gegenseitig zu erschießen. Die beiden Freunde starben, nur Krantz, der die Pistole besorgt hatte, führte die Tat dann doch nicht aus. Als Gutachter stufte der berühmte Sexualforscher Magnus Hirschfeld den damals 18-Jährigen als „sexuell unterentwickelt und geistig überentwickelt“ ein. Dies scheint zutreffend gewesen zu sein, charakterisiert doch Noth im Roman seinen Protagonisten Albert ebenso. Dieser Selbstmord aus Liebeskummer und Verzweiflung ist im Roman nur verschlüsselt zu finden, weshalb die Kenntnis davon wichtig ist.
Die beiden in der Mietskaserne befreundeten Volks- und späteren Oberschüler Albert und Walter stehen gleichsam für das gespaltene Alter Ego des Autors Noth. Beide fühlen sich als Gymnasiasten nicht mehr dem proletarischen Milieu der Mietskaserne zugehörig, aber ebenso wenig zum Kreis der wohlhabenden Mitschüler aus dem Villen-Viertel. Sie fühlen sich allein gelassen, denn auch im Elternhaus spüren sie statt Liebe nur Gewalt und psychischen Druck („Du sollst es doch mal besser haben.“). Beide wollen ausbrechen: „In die Welt. Dahin, wo es schön ist – wo dieser Dreck nicht ist, diese Menschen.“ Auf ihrer verzweifelten Suche nach einem richtigen Lebensweg finden sie keine Hilfe, da auch die Eltern-Generation nach dem verlorenen Krieg ein hoffnungsloses Dasein fristet, wie der Beamte im Jugendamt gesteht: „Da sitzt man. Schuftet bis zum Weißbluten. Wofür im Grunde? Man hat viel verloren, Albert Krause – sehr viel.“ Auch Alberts Vater gibt seinem Sohn spät – viel zu spät – seine eigene Verzweiflung zu erkennen: „Rauf. Ja, wir wollen alle rauf. … Du darfst uns nicht verachten, Albert, uns alle nicht. Sieh mal, dieses Haus, lauter arme Menschen. Arme Menschen! Wir leben alle hier.“ Und dann fordert er seinen an Literatur begeisterten Sohn auf: „Schreib mal hiervon, von dem Haus.“
Ist der Roman „Die Mietskaserne“ aus dem Jahr 1931 also nur ein historisches Zeitdokument? Keineswegs! Die äußere Kulisse mag verschwunden sein, aber die geschilderten Probleme nicht: Die Kluft zwischen Arm und Reich wird aktuell wieder größer und die Zahl in Armut aufwachsender Kinder wächst. Auch die Probleme Pubertierender werden, gemessen an der Zahl therapeutischer Behandlungen, auffälliger. Im Roman lässt sich Walter von seinen Gefühlen leiten und gibt auf, doch Albert folgt seinem Verstand und macht weiter. Er zeigt uns, dass man den Ausbruch und neuen Aufbruch schaffen kann. So macht der Roman trotz aller damals im Stil der Neuen Sachlichkeit authentisch und in knappen Sätzen eindringlich geschilderten Probleme uns am Ende doch Mut. „Die Mietskaserne“ ist ein beeindruckender, ein berührender, am Ende aber tröstlicher Roman, der nicht nur Erwachsenen, sondern auch Heranwachsenden zur Lektüre empfohlen werden kann – nein, empfohlen werden muss.

Veröffentlicht am 26.01.2023

Historisch informativ, lebendig erzählt

In den Häusern der anderen
0

REZENSION – Noch immer vom überraschenden Erlebnis beeindruckt, berichtete mir mal vor langer Zeit ein Verwandter von seinem Besuch mit seiner alten Mutter in den frühen Siebziger Jahren in deren Elternhaus ...

REZENSION – Noch immer vom überraschenden Erlebnis beeindruckt, berichtete mir mal vor langer Zeit ein Verwandter von seinem Besuch mit seiner alten Mutter in den frühen Siebziger Jahren in deren Elternhaus im niederschlesischen Wrocław (Breslau): Drinnen entdeckte die alte Dame die ihr aus der Jugend vertrauten Bilder an der Wand, wo sie bereits jahrelang hingen, bevor die Familie im Jahr 1945 in den Westen floh. So erstaunlich dies heute klingen mag, war es zu jener Zeit kein Einzelfall, wie die 1977 in Legnica (Liegnitz) geborene polnische Autorin Karolina Kuszyk (46) anhand ähnlicher Erlebnisberichte in ihrem im Oktober 2022 im Ch. Links Verlag erschienenen Sachbuch „In den Häusern der anderen“ nachweist. Das in Polen bereits 2019 veröffentlichte Buch soll dort – so die Angabe des Verlags – „eine lebhafte Diskussion über den Umgang mit dem deutschen Erbe“ angeregt haben.
Bücher über Flucht und Vertreibung aus den ehemals deutschen Ostprovinzen gibt es in Deutschland zuhauf, meist basierend auf Erinnerungen Betroffener, nicht selten subjektiv und einseitig aus deren Sicht. Genau darin unterscheidet sich das Buch der seit vielen Jahren in Berlin lebenden und mit einem Deutschen verheirateten polnischen Autorin. In ihrem bis ins Detail sorgsam recherchierten und durch mehrseitigen Quellen- und Literaturnachweis belegten Text erzählt sie zwar ebenfalls von Flucht und Vertreibung, doch diesmal aus polnischer Sicht über das vergleichbare Vertreibungsschicksal ihrer Landsleute aus den gegen Kriegsende von der Sowjetunion besetzten Gebieten Ostpolens. Die dortige Einwohnerschaft wurde gemeinsam mit anderen ethnischen Minderheiten wie Ukrainern und Juden in die von Deutschen verlassenen „wiedergewonnenen Gebiete“ Westpolens zwangsumgesiedelt. Auch sie verloren ihre Heimat, ihr Hab und Gut und kamen mit kaum mehr als den Kleidern am Leib im Westen an. In der Fremde mussten sich diese Zwangsumgesiedelten entweder selbstständig eine von Deutschen verlassene und - sofern nicht von Soldaten der Roten Armee vorher ausgeplündert – noch immer voll eingerichtete Wohnung suchen, oder ihnen wurde ein neues Zuhause von der polnischen Ortsverwaltung zugewiesen. Da die aus Ostpolen Vertriebenen in der westlichen Fremde nichts Eigenes hatten, blieb ihnen keine andere Wahl, als in diesem „deutschen Erbe“ weiterzuleben und sich „von deutschen Gegenständen, Geräten, Formen und vom deutschen Geist“ prägen zu lassen. „Es war nicht schön, das deutsche Zeug zu benutzen, aber was hätten wir tun sollen?“, erinnert sich eine damals Vertriebene. Zu seiner Überraschung findet sogar noch der deutsche Ehemann der Autorin beim Besuch seiner polnischen Schwiegereltern auf der Unterseite einer Porzellanschale ein kleines Hakenkreuz im Markenzeichen. Die robuste Schale hatte sich seit 1945 im Haushalt bewährt. Erst die Kinder, die zweite Generation in den von Polen „wiedergewonnenen Gebieten“, entledigten sich bei Gründung des eigenen Hausstandes dieses „deutschen Plunders“, um sich zeitgemäß modern („sozialistisch“) einzurichten. Denkmäler wurden in den 1970er Jahren abgetragen und zerstört, deutsche Inschriften an Gebäuden entfernt, deutsche Häuser abgerissen und Friedhöfe zerstört. Eine Rückbesinnung erfolgte erst wieder nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bei der dritten Generation, zu der sich auch die 46-jährige Autorin zählt. Deren Angehörige erinnern sich des deutschen Erbes und bemühen sich, die einst unter kommunistischer Herrschaft in Misskredit geratenen „Spuren deutscher Vergangenheit in Westpolen“ wieder aufzudecken und zu bewahren. Wo früher deutsche Denkmäler abgebaut wurde, fallen heute solche aus Sowjetzeiten.
Mit wissenschaftlicher Genauigkeit, dank zeitlichen Abstands ohne Vorurteil, dafür mit Empathie für die deutschen wie polnischen Vertriebenen zeigt Karolina Kuszyk in ihrem Buch die Spuren deutscher Vergangenheit auf und erläutert anhand der aufgezeichneten Erlebnisse und Anekdoten den wechselhaften Umgang ihrer Landsleute damit. „Ich bin fest überzeugt, … dass wir den nachwachsenden Generationen das ehemals Deutsche erklären müssen, so gut wir können“, schreibt die Autorin am Schluss ihres noch vor der Übersetzung mit dem deutschen Arthur-Kronthal-Preis 2020 ausgezeichneten Buches, mit dem sie zweifellos auch bei der heranwachsenden vierten Generation Polens und Deutschlands für ein besseres Verständnis beider Völker beitragen kann.