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Veröffentlicht am 15.03.2023

Surreal und fesselnd

Weiße Nacht
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Es ist der letzte Arbeitstag Ayamis in dem einzigen Hörtheater von Seoul. Am morgigen Tag soll es geschlossen werden. Aus einem Radio hört Ayami Stimmen und vor der Tür des Theaters droht ihr ein Mann, ...

Es ist der letzte Arbeitstag Ayamis in dem einzigen Hörtheater von Seoul. Am morgigen Tag soll es geschlossen werden. Aus einem Radio hört Ayami Stimmen und vor der Tür des Theaters droht ihr ein Mann, er wolle sie umbringen. Ihre Deutschlehrerin bittet sie außerdem, für einen bald in Korea ankommenden deutschen Dichter zu dolmetschen. Als Ayami jedoch mit dem Direktor des Theaters die Lehrerin besuchen will, ist diese verschwunden.

Schon der Versuch einer Inhaltsangabe wirkt fragmentarisch und unzusammenhängend. Bae Suahs Roman entzieht sich jeglicher einfachen Wiedergabe. Er ähnelt einem Traum, in dem die Protagonistin Geräusche hört, die sie eigentlich gar nicht hören kann, in dem Radios sich selbst anschalten und Busse ewig im Kreis fahren.

Es ist eine von Hitze und Dunkelheit geprägte Nacht, in der die Geschichte spielt. Weiß beleuchtete Gegenstände tauchen plötzlich in ihr auf. Ein Geschäft, eine Figur, eine Krähe, ein Fisch. Wie auf einer Bühne beleuchtet die Erzählung nur Bestimmtes, lenkt den Blick des Lesers und taucht alles andere in Schwärze.

​“Weiße Nacht” bewegt sich in einer verstörenden fieberhaften Welt, die keinen Boden zu haben scheint und in der alles möglich ist. Strukturen sind in ihr stets im Auflösen begriffen, denn die Grenzen von Realität und Fiktion verschieben sich ständig und gehen ineinander über. Es gibt keine Anfänge und keine Enden und somit ist auch Zeit nicht mehr linear zu verstehen. Stattdessen entsteht eine Erzählstruktur, die von Echos und Parallelen getragen wird. Es drängt sich der Eindruck eines Loops auf, einer komplexen Schleife, in der es zu Überlagerungen und Wiederholungen kommt. Der Roman selbst führt schon zu Beginn den Begriff des Klangschattens ein, der als selbstreflexiv verstanden werden kann, denn seine Szenen, Motive und Figuren ertönen und hallen an späterer Stelle im Roman nach.

​“Weiße Nacht” erzählt, so scheint es, unterschiedliche Versionen einer Geschichte, die sich allesamt miteinander verhaken und voneinander zehren. Identitäten und die Individualität der Figuren haben dabei keine Bedeutung mehr. Denn: “Alles verschwindet so schnell, wie es entsteht. Das gilt auch für Erinnerung. Es kann passieren, dass man aus seinem Haus tritt, zehn Schritte geht, sich umdreht und das Haus, das immer dort stand, nicht mehr existiert. Man findet es nie mehr. Das Gleiche kann auch mit Menschen geschehen.”

​Bae Suah hat einen außergewöhnlichen Roman geschrieben, der sich an die Grenzen der Literatur heranwagt. Unter seiner fieber- und traumhaften Atmosphäre lösen sich die Vorstellungen von Realität und Wirklichkeit auf. Was bleibt, ist eine wunderbar surreale Welt, die den Leser gefangen hält und ihn auch nach der letzten Seite des Buches nur schwer wieder loslässt.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Ein wichtiges und starkes Buch

Die Entscheidung
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Amélie Cordonnier hat mit “Die Entscheidung” einen Roman über verbale Gewalt in der Ehe und in der Familie geschrieben. Ihrer Protagonistin sind die Wutausbrüche ihres Mannes Aurélien nicht unbekannt. ...

Amélie Cordonnier hat mit “Die Entscheidung” einen Roman über verbale Gewalt in der Ehe und in der Familie geschrieben. Ihrer Protagonistin sind die Wutausbrüche ihres Mannes Aurélien nicht unbekannt. Schon vor sieben Jahren gab es eine Zeit, in der er sie täglich beleidigte. Depressionen und eine vorläufige Trennung waren das Ergebnis. Doch er versicherte ihr, dass er sich therapieren lassen würde, dass er sich bessern würde. Bis zu dem Tag, an dem der Roman ansetzt.

Dreckige Sau oder Hündin, Ratte und Rhinozeros oder fette Kuh sind einige der eher harmlosen Beschimpfungen, mit denen die Protagonistin ständig konfrontiert wird. Sie notiert sie in einer Liste, die bereits seitenlang ist und die in ihr die Hoffnung aufrecht erhält, dass sich die Worte woanders festsetzen als in ihr.

Bemerkenswert ist, dass der Roman nie urteilend auf seine Figuren blickt, sondern ihnen gerecht zu werden versucht. Denn in gewisser Weise sind alle Beteiligten Gefangene der Gewalt, die über sie hereinbricht. Auréliens Wut- und Beleidigungsausbrüche gleichen Anfällen, in denen er die Beherrschung über sich verliert, aber die er schon kurze Zeit später wieder aufrichtig bereut. Sie entziehen sich seiner Kontrolle, sind eine Erkrankung, der er nicht Herr werden kann. Der Roman verurteilt Aurélien also nicht und stellt die Beziehung zwischen den Eheleuten nicht ausschließlich als eine Täter-Opfer-Beziehung dar. Das ist neben der wichtigen Thematik eine seiner großen Stärken.

Ebensowenig wird die Unfähigkeit der Protagonistin, sich von der Beziehung loszureißen, kritisiert. Denn: “Der Stärkste ist nicht immer der, von dem man es denkt. Der Schwächste übrigens auch nicht.”

Auf wenigen Seiten schreibt Amélie Cordonnier auf bewegende, schonungslose und konfrontative Weise darüber, was verbale Gewalt mit einem Menschen und sogar mit einer ganzen Familie macht. Sie legt das offen dar, was normalerweise nur hinter verschlossenen Türen stattfindet und sich den Blicken der Öffentlichkeit entzieht, auch weil es keine eindeutig physischen Spuren hinterlässt. Ein wichtiges und starkes Buch!

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Erweitert den Horizont

Das Geräusch einer Schnecke beim Essen
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Auf einer Reise nach Europa steckte sich die Autorin des Buches mit einem Virus an und war jahrelang an ihr Bett gefesselt. Zur Aufmunterung brachte ihr eine Freundin ein Alpenveilchen, an dessen Topf ...

Auf einer Reise nach Europa steckte sich die Autorin des Buches mit einem Virus an und war jahrelang an ihr Bett gefesselt. Zur Aufmunterung brachte ihr eine Freundin ein Alpenveilchen, an dessen Topf eine Schnecke hing. Fortan wird die Schnecke zum festen Bestandteil des Alltags der kranken Autorin. Sie beobachtet sie, macht sich mit ihren Eigenarten vertraut, baut ihr ein Terrarium, versorgt sie mit der richtigen Nahrung und darf schließlich sogar Zeuge davon werden, wie die Schnecke Eier ablegt und ihr Nachwuchs schlüpft.

Genau wie Bailey selbst, muss die Schnecke sich zunächst mit einer neuen Situation zurechtfinden. Sie wurde ihrem natürlichen Habitat entrissen, findet sich in einem Raum ohne Nahrung wieder und knabbert notgedrungen an Briefen und Papier, um zu überleben. Durch den Überlebenswillen und den Rhythmus der Schnecke ändert sich die Sicht der Autorin auf ihre eigene Situation und auf die Welt. Völlig neue Perspektiven eröffnen sich ihr, zum Beispiel wenn sie darüber nachdenkt, wie es sich anfühlen muss, in und mit einem Schneckenhaus zu leben.

Der neue Mitbewohner bietet Abwechslung, aber er lässt Bailey vor allem achtsamer werden und löst Bewunderung und Respekt für eine Gattung von Tieren in ihr aus, die eine der erfolgreichsten überhaupt ist und bereits seit über einer halbe Milliarde Jahren existiert. Durch die Schnecke entwickelt sie ein neues Verhältnis zur Natur, das gleichzeitig auch dem Leser die Augen für das Leben von Schnecken öffnet. Die Schnecke wird zu einem Individuum mit einem ganz eigenen Charakter. Bailey bezeichnet sie als elegant, mutig und abenteuerlustig. Sie ist überzeugt, dass ihre Schnecke bewusste Entscheidungen trifft, dass sie lernt und sich erinnern kann.

“Das Geräusch einer Schnecke beim Essen” ist eine Bereicherung für jeden Leser, denn wer wusste schon vor der Lektüre, dass eine Landschnecke 2640 Zähne hat und 80 Zahnreihen, die sich erneuern? Oder dass Schnecken sich hauptsächlich auf ihren Geruchs- und Tastsinn verlassen, dass sie taub sind und ihre Sicht nur auf die Wahrnehmung von hell und dunkel beschränkt ist? Bailey verbindet dieses Wissen mit ihren Beobachtungen und mit literarischen Zitaten, die zusammen ein rundes, spannendes und vielschichtiges Bild ergeben. Spätestens mit diesem Buch hat die Schnecke so ihren wohlverdienten Platz in der Literatur gefunden.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Kraftvoll und tiefgründig

Elmet
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Elmet, das erklärt auch ein Ted Hughes-Zitat zu Beginn des Buches, war ein unabhängiges keltisches Königreich zwischen dem 5. und 7. Jahrhundert im Norden Englands. Und es ist diese Gegend, in der die ...

Elmet, das erklärt auch ein Ted Hughes-Zitat zu Beginn des Buches, war ein unabhängiges keltisches Königreich zwischen dem 5. und 7. Jahrhundert im Norden Englands. Und es ist diese Gegend, in der die Autorin ihre Geschichte ansiedelt. Zwar spielt die Geschichte in der Gegenwart, doch der Bezug zu den Kelten und zu vorangegangenen Zeiten, der schon durch den Titel hergestellt wird, ist allgegenwärtig. Die erzählte Welt zeichnet sich durch etwas Archaisches, Rohes und Ursprüngliches aus.
Umso faszinierender ist es, dass es Mozley gelingt, in dieser Welt, die zeitlos scheint, Kritik an unserer Gesellschaft und am Kapitalismus zu üben. Sie schreibt über soziale Ungerechtigkeit, über die ungleiche Aufteilung von Kapital und Besitz, über Armut, die Ausbeutung von Arbeitern und die Gier.

Im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Problemen steht ein bärtiger Riese mit seinem kleinen Sohn und der raubvolgelhaften Tochter. So jedenfalls beschreibt der Roman seine eigenen Protagonisten und zeichnet mit dieser Charakterisierung das Bild einer ungleichen Familie. Daniel und Cathy sind 14 und 15 Jahre alt. Ihre Mutter hat die Familie verlassen und auch der Vater ist während ihrer Kindheit immer wieder abwesend, bis er eines Tages entschließt, auf einem Stück Land in der Heimat seiner Frau ein Haus für sich und die Kinder zu bauen.
Zusammen leben die Drei fortan im Einklang mit sich selbst und mit der Natur. Doch ihr friedliches Zusammenleben findet ein jähes Ende, als Mr Price, einer der wohlhabendsten und einflussreichsten Landbesitzer der Gegend, ihnen verwehrt, weiterhin auf dem Grundstück im Wald zu wohnen.

Fiona Mozleys Debütroman ist kraftvoll, tiefgründig und endet für die meisten Leser sicher nicht mit der letzten Seite. Denn man will der Geschichte noch nachlauschen, will nicht plötzlich, sondern nur ganz allmählich aus ihr heraustreten und ich denke, das ist es, was einen gelungenen Roman auszeichnet.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Leseempfehlung

Die Nickel Boys
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Die Nickel Boys versetzt den Leser ins Florida der 1960er Jahre, also in die Zeit der Jim-Crow-Gesetze, der Rassentrennung und der Bürgerrechtsbewegung. Elwood Curtis wächst bei seiner Großmutter auf, ...

Die Nickel Boys versetzt den Leser ins Florida der 1960er Jahre, also in die Zeit der Jim-Crow-Gesetze, der Rassentrennung und der Bürgerrechtsbewegung. Elwood Curtis wächst bei seiner Großmutter auf, hört sich Reden von Martin Luther King an und liest so ziemlich alles, was ihm unter die Finger kommt. Er hat einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, der über Hautfarbe und Rassenzugehörigkeit hinausgeht und träumt von einer Welt ohne Rassentrennung. Die Chance, an einem College Kurse belegen zu können, lässt ihn voll Tatendrang in die Zukunft blicken. Doch noch bevor er den ersten Kurs überhaupt besuchen kann, wird er für ein Verbrechen bestraft, das er nicht begangen hat und wird zu einem Aufenthalt in der Nickel Academy verurteilt.

Die Nickel Academy, auch Florida Industrial School for Boys genannt, steht im Roman stellvertretend für die Ungerechtigkeit und die Verbrechen an der Menschlichkeit, unter denen die schwarze Bevölkerung Amerikas über Jahrhunderte hinweg zu leiden hatte und immer noch zu leiden hat. Von den Jungen wird Unterwürfigkeit und Fügsamkeit verlangt, sie werden für schwere Arbeiten ausgenutzt, erfahren extreme körperliche Gewalt und werden im schlimmsten Fall ihres Lebens beraubt. Tatsächlich ist die Gefahr durch die Brutalität der Aufseher zu sterben allgegenwärtig. Verstorbene Jungen werden auf einem inoffiziellen Friedhof begraben und ihren Familien wird erklärt, sie seien ausgerissen.

Colson Whitehead erzählt von Chancenlosigkeit, von versperrten Wegen, von extremer Fremdbestimmung und Fremdeinwirkung, von “vergeudeten Genies” und von geraubten Leben. Gleichzeitig entblößt der Roman die Lächerlichkeit der “irrsinnig hohen und breiten Barrikade der Rassentrennung”. Eine Szene bleibt in diesem Zusammenhang besonders im Gedächtnis, denn einer der Nickel Jungs ist Halb-Mexikaner und die Aufseher können sich nicht entscheiden, ob sie ihn den weißen oder den schwarzen Jungs zuordnen sollen. Deshalb muss er alle paar Wochen von einem Wohnheim ins andere wechseln.

Dieser Roman ist eine absolut gelungene und starke Auseinandersetzung mit dem tief in der Gesellschaft verankerten Rassismus und daher eine große Leseempfehlung von mir!

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