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Veröffentlicht am 18.01.2018

Ein Platz in deinem Herzen

Ein Platz in deinem Herzen
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Die sechsunddreißige Grace McAllister hat sich für ein Leben ohne Kinder entschieden. Dann jedoch lernt begegnet sie dem gutaussehenden charismatischen Gastronomen Victor kennen, und sie fühlt, dass die ...

Die sechsunddreißige Grace McAllister hat sich für ein Leben ohne Kinder entschieden. Dann jedoch lernt begegnet sie dem gutaussehenden charismatischen Gastronomen Victor kennen, und sie fühlt, dass die Beziehung anders ist als ihre vorherigen. Diese Annahme ist berechtigt, denn dieser Mann ist etwas Besonderes: Victor hat zwei Kinder - Ava und Max. Aber da die Kinder bei ihrer Mutter Kelli leben, entscheidet sich Grace, das Wagnis einzugehen. Trotzdem gestaltet sich das Dasein als Teilzeiteltern nicht einfach, da Grace als Freundin des Vaters nicht unbedingt akzeptiert wird.

Als Kelli unter mysteriösen Umständen stirbt, sieht sich Grace von einem Tag auf den anderen damit konfrontiert, dass die Kinder nunmehr bei ihrem Vater wohnen und sie sich in der Rolle der „Stiefmutter“ zweier trauernder Kinder befindet.

„Ein Platz in deinem Herzen“ ist ein leiser Roman. Amy Hatvany gibt darin drei sehr unterschiedlichen Frauen eine Stimme: Grace, Kelli und der dreizehnjährigen Ava.

Da ist zunächst Grace, eine selbstbewusste Frau, die einfach nicht den Wunsch nach eigenen Kindern verspürt. Als sie Victor kennenlernt, muss sie auch seine zwei Kinder akzeptieren, wenn sie mit ihm zusammen sein will.

Amy Hatvany stellt Grace erfreulicherweise nicht als klassische kinderlose Karrierefrau dar. Vielmehr ist Grace ohne prägende Mutterfigur mit einem jüngeren Bruder aufgewachsen, weshalb sie auf eigene Kinder verzichtet. Sie ist weder herzlos noch auf sich bezogen, sondern auch in schwierigen Zeiten offen und ehrlich zu sich selbst, engagiert sich für misshandelte Frauen und hilft diesen, ihre zerstörten Leben aufzubauen.

Die neue Situation verunsichert und überfordert Grace. Es ist schwer für sie, sich in die Rolle einer Stiefmutter hineinzufinden, weil sie nicht weiß, ob es ihr gelingt. Zudem ist Victor so beschäftigt mit seiner Arbeit, dass er nicht in der Lage ist, zwischen seiner neuen Partnerin und den Kindern zu vermitteln. Von Anfang an lässt er es an der notwendigen Unterstützung mangeln, Grace an die für sie schwierigen Gegebenheiten heranzuführen. Denn Victor hat seinerseits Angst, Ava und Max kein guter Vater zu sein, zu schwach, um ihnen beizustehen und ihnen über ihren Kummer hinwegzuhelfen.

Doch Grace ist niemand, der einfach wegläuft und Menschen im Stich lässt, nur weil dies leichter wäre. Vielmehr stellt sie sich der Aufgabe.

„Vielleicht war Muttersein ja längst nicht so beängstigend, wie ich immer geglaubt hatte.“ (Seite 204)

Leider werden ihre Bemühungen nicht anerkannt. Trotzdem sie sich sehr zurücknimmt und Victor als Vater alle Entscheidungen überlässt, bekommt sie vor allem zu Amy sehr schwer Zugang.

Die Dreizehnjährige ist ein komplizierter Charakter und offenbart viele Schichten. Reif für ihr Alter musste sie nicht nur mit ansehen, wie die Ehe ihrer Eltern in die Brüche ging, sondern außerdem, wie ihre emotional instabile Mutter immer öfter in Depressionen versank.

Amy wurde so in die Rolle der Verantwortlichen gedrängt, die sich um den Bruder und um die täglich anfallenden Dinge kümmerte. Und um die Mutter, die sie über alles liebte und um derentwillen sie all das tut. Weil sie im tiefsten Inneren niemals die Hoffnung aufgegeben hat, dass der Vater zurückkehrt und die Familie wieder zusammen ist.

Eine Menge, ein Zuviel für ein junges Mädchen. Sie verliert ihre Mutter und hat das Gefühl, mutterseelenallein zu sein. „Meine Mama war fort. Nie wieder würde sie mich in den Arm nehmen, mir nie wieder sagen, wie klug ich wäre und wie hübsch.“ (Seite 147) - Dann ist da noch die Angst, dass auch der Vater sterben könnte.

Während Grace und Ava in der Gegenwart erzählen, erfährt der Leser von Kellis Schicksal durch Rückblenden in die Vergangenheit. Dieses, geprägt von Lügen und Verdrängung, ruft unweigerlich Beklemmung und Bedauern hervor.

Denn Kelli ist die schwächste und traurigste Person in der Geschichte. Niemand kennt ihr Inneres wirklich, ihr Leben ist voller Geheimnisse. Geprägt von einer schwierigen Kindheit in einem strengen Elternhaus hat sie bereits in frühster Jugend gelernt, sich in zwei verschiedene Personen aufzuspalten – die, als die die anderen sehen wollen, und die andere, die sie wirklich ist.

An das Glück mit Victor hängt sie sich mit Hingabe, in ihrer Mutterschaft geht sie auf. „Erst als Mutter weißt du, was Liebe wirklich bedeutet. Es ist ein überwältigendes Gefühl, das man nur verstehen kann, wenn man selbst ein Kind hat. Es wiegt alle Schwierigkeiten auf und ist jede Minute wert.“ (Seite 143) - Doch sie klammert, und unweigerlich führt das zum Scheitern der Ehe.

Amy Hatvany hat emotional starke Charaktere geschaffen, die sich mit den Höhen und Tiefen des Lebens befassen müssen. Es gelingt ihr, durch die unterschiedlichen Sichtweisen die Empfindungen der Beteiligten offenzulegen. Diese sind nicht perfekt, sondern fehlbar, und sie müssen lernen, sich gegenseitig zu vertrauen und gemeinsam daran zu arbeiten, das Geschehene zu verarbeiten. Die Autorin macht es ihren Protagonisten nicht leicht und bietet keine einfache Lösung an. Dadurch wird ihre Schilderung realistisch.

„Ein Platz in deinem Herzen“ ist ein ergreifendes und hoffnungsvolles Porträt über ganz normale Menschen, die nach dem Verlust eines nahe stehenden Familienmitglieds versuchen, das Richtige zu tun, und die sich auf der Suche nach Liebe und Akzeptanz den Herausforderungen stellen.

Veröffentlicht am 31.12.2017

Mit Sehnsucht verfeinert - mit Herz erzählt

Taste of Love - Mit Sehnsucht verfeinert
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Auch mit ihrem vierten Band ihrer Reihe „Taste of Love“ vermag es Poppy J. Anderson, uns mit einer lebendigen und mitreißenden Geschichte zu unterhalten. Wir treffen dabei in dezentem Maße alte Bekannte ...

Auch mit ihrem vierten Band ihrer Reihe „Taste of Love“ vermag es Poppy J. Anderson, uns mit einer lebendigen und mitreißenden Geschichte zu unterhalten. Wir treffen dabei in dezentem Maße alte Bekannte und werden recht schnell mit den neuen Helden vertraut. Der Autorin ist es gelungen, sympathische Charaktere zu entwickeln, mit denen wir auf Tuchfühlung gehen können.

Hailey und Scott.

Einst ein Traumpaar, sehr verliebt, kurz vor der Hochzeit, himmelhochjauchzend glücklich. Doch dann geschieht etwas, Hailey trennt sich, verlässt Boston und jettet durchs Land und um die Welt.

Nun ist sie zurück, selbstbewusste Souschefin im Bonfire, fokussiert auf ihre Arbeit. Stress und Hektik, die in einer Restaurantküche an der Tagesordnung sind, belasten sie in keinster Weise. Schließlich hat sie ein hohes Ziel: eines Tages will sie Küchenchefin sein. Ihr Ehrgeiz, ihre Ambitionen und Durchsetzungskraft sprühen aus jeder Pore ihres Körpers. Sie macht es sich nicht leicht, obwohl sie es könnte. Schließlich ist ihr Vater Bill vermögend. Nein, Hailey ist versessen darauf, ihren Weg ohne – zumindest finanzielle – Unterstützung zu gehen.

Daneben zeigt sich Scott zunächst als schwer einschätzbar. Was vor allem daran liegt, dass wir ihn aus Hailey Sicht erleben. Und die scheint äußerst getrübt zu sein. Als sie auf der Eröffnungsparty des Bonfire nach drei Jahren wieder treffen, empfindet Hailey Scotts Lächeln als aufgesetzt und stellt fest, dass seinen Augen der humorvolle Schimmer von früher fehlt. Er wirkt auf Hailey härter, ernster, geschäftsmäßiger, ja emotionslos und kalt. Doch schnell wird deutlich, dass Hailey sich ein falsches Bild zurechtgelegt hat. Ist das möglicherweise ein Entschuldigungsversuch für das, was drei Jahre zuvor geschehen ist?

Denn tatsächlich ist Scott witzig, cool und hartnäckig – hierbei jedoch rücksichtsvoll. Vielleicht hat er sich früher einiges (besonders von Hailey) gefallen lassen. Das ist vorbei, inzwischen ist er fähig, sich durchzusetzen. Und ihr damit ungemein ähnlich.

Unverkennbar ist, dass beide noch Gefühle füreinander haben und aufeinander „abfahren“. Scott sieht in Hailey immer noch die Frau seines Lebens, hat es nie aufgegeben, daran zu glauben, dass sie eines Tages zu ihm und einer gemeinsamen Zukunft zurückkehrt, ist bereit, um sie zu kämpfen. Aber hier haben wir den Knackpunkt des Ganzen: Hailey ist stur und kein Mensch, der zu Kompromissen neigt, wenn sie meint, verletzt worden zu kein. Ihr fällt es schwer, jemandem zu verzeihen.

Nur gibt es etwas zu verzeihen, und wenn ja, wird es den beiden gelingen?

Poppy J. Anderson schreibt mit Enthusiasmus und Emotionalität und versprüht einen wunderbaren Humor, der sich allerdings nicht durchgängig durch die Handlung zieht. Denn „Mit Sehnsucht verfeinert“ liest sich teilweise angespannter als seine Vorgänger, was darin begründet ist, dass das thematisierte Geschehen, von dem wir nach und nach in Rückblenden erfahren, mit einem gewissen Grad an Ernsthaftigkeit versehen wurde. Das ist gut, und es verleiht der (Liebes)Geschichte einen besonderen Reiz. Und wenngleich es nur ein Ende für Hailey und Scott geben KANN, kommt dieses überraschend schnell und wirkt leider etwas kurz abgehandelt.

Unabhängig davon hat die Autorin ein Händchen für ihre Protagonisten. Es ist wohltuend erfrischend, auf welche Weise sie deren Gefühlswelt schildert und darstellt, dass diese normal und durchaus fehlerhaft sind und sich ihren Platz im Leben suchen. Nicht allein das im Mittelpunkt stehende Pärchen profitiert davon, auch die Nebenrollen wie beispielsweise Haileys Vater Bill machen die Geschichte rund.

Poppy J. Andersons „Mit Sehnsucht verfeinert“ ist mit Herz erzählt und verzaubert den Alltag.

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  • Humor
  • Gefühl
  • Lesespaß
Veröffentlicht am 15.10.2017

Die Schlange von Essex

Die Schlange von Essex
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Nach dem Tod ihres Ehemannes lässt Cora Seaborne das elegante Stadthaus im viktorianischen London hinter sich und fährt mit ihrer Begleiterin Martha und ihrem Sohn nach Essex. Michael Seaborne hat zu Lebzeiten ...

Nach dem Tod ihres Ehemannes lässt Cora Seaborne das elegante Stadthaus im viktorianischen London hinter sich und fährt mit ihrer Begleiterin Martha und ihrem Sohn nach Essex. Michael Seaborne hat zu Lebzeiten nicht nur eine über das übliche Maß hinaus gehende Boshaftigkeit abgesondert, sondern gehörte auch zu jenen Männern, die ihre Frau quälten. So ist es nur verständlich, dass Cora trotz aller Prägung, die sie durch ihren Mann erfahren hat, und all jene Kraft, die unterdrückt wurde, nun einen Weg gehen will, der ihrer Neugier und ihrem Wissensdurst gerecht wird: Fossilien finden und erforschen - eine Sache, die ihr Mann immer für Zeitverschwendung hielt, dem sie sich aber nun ganz widmen kann.

In Aldwinter begegnet ihr nicht nur die Legende der Schlange von Essex, sondern auch Pfarrer William Ransome und dessen Familie.

Bei ihrem ersten Aufeinandertreffen sind sich Cora und Will nicht unbedingt sympathisch. Später entdecken sie, dass sie auf eine Art miteinander reden können, die es bislang für beide nicht gab. Sie reiben sich aneinander, wenn sie auf den Glauben und die Vernunft kommen, ihre Argumente austauschen, Cora das eine oder andere Mal provoziert und Will reizt. Und schleichend wird aus ihrer Freundschaft etwas, das Liebe sehr nahe ist…

Daneben beschäftigt sich der Roman auch mit sozialen Problemen wie beispielsweise die Problematik des menschenwürdigen Wohnraums in London. Hier ist es vor allem Matha, die Sozialistin, die einen aktiven Part einnimmt.

Und über allem wacht das lebende Fossil?

Sarah Perrys „Die Schlange von Essex“ ist ein üppiger Roman in einer Komplexität, der mit Geistergeschichte, Fragen des Glaubens und der Naturwissenschaften, aber auch mit sozialkritischer Parabel aufwartet. Erst nach und nach zieht einen der besondere Schreibstil, der aus der Zeit der Erzählung zu stammen scheint, in den Bann. Dieser ist auf gewisse Weise vollmundig und reich, selbstbewusst, manchmal von heiterer Anmut und vermag es, den Charakter seiner Protagonisten tiefgründig zu verdeutlichen.

Cora Seaborne ist eigenwillig und temperamentvoll und in gewisser Weise unergründlich. Francis, ihr zehnjährige Sohn, mutet sehr eigen an und weist autistische Züge auf. All seine kleinen Rituale und "Schrullen", seine Zurückgezogenheit, eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber seiner Mutter lassen sie sich unbehaglich fühlen, ohne dass es dafür eine Erklärung gibt.

Will Ransome hat sich bewusst für das Leben als Pfarrer entschieden. Seine Religiosität beschränkt sich nicht auf Gebote und Glaubenssätze, schließlich ist er „kein Beamter und Gott kein Geschäftsführer eines himmlichen Ministeriums“ (Seite 139). Will glaubt mit dem ganzen Herzen, und sucht vor allem gern die Natur zur Ausübung seines Glaubens auf. Dann ist das Himmelsgewölbe sein Kirchenschiff.

In der Geschichte geht es um Freundschaft und Liebe jeder Art. Zwischen Frauen, Männern, Frauen und Männern. Ob aus unterschiedlichen Schichten oder mit unterschiedlichen Ansichten und Hintergründen. Glaube und Vernunft stehen im Wettstreit und versuchen, sich gegenseitig zu übertreffen. Doch letztlich überstrahlt Liebe alles und zeigt sich als das hellste Licht von allem.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Handlung
  • Figuren
  • Originalität
  • Erzählstil
Veröffentlicht am 02.08.2017

Claire vom Meereslicht

Kein anderes Meer
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Mit ihrem Roman „Kein anderes Meer“ nimmt Edwidge Danticat uns mit auf eine Reise in ihre Heimat Haiti und lässt uns nicht nur teilhaben an haitischem Dasein und haitischer Kultur, sondern bietet einen ...

Mit ihrem Roman „Kein anderes Meer“ nimmt Edwidge Danticat uns mit auf eine Reise in ihre Heimat Haiti und lässt uns nicht nur teilhaben an haitischem Dasein und haitischer Kultur, sondern bietet einen tiefgründigen Einblick in das Leben der Menschen. Die von ihr geschaffenen Charaktere geben in ihrer Vielfalt ein Bild der fiktiven Stadt zwischen Meer und Bergen wider: Ville Rose – ein Name wie Musik, und doch befindet er sich im krassen Gegensatz zu seinen Bewohnern, die aus einer kleinen Minderheit von Mittel- und Oberschicht sowie der großen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze bestehen, die um das tägliche Überleben kämpfen. Ein Ort unermesslicher Schönheit und außerordentlichen Elends.

Im Mittelpunkt steht auf den ersten Blick Claire Limyè Lanmè, was Claire vom Meereslicht heißt - "Claire of the Sea Light" ist der Originaltitel des Romans. Er beginnt mit Claires siebtem Geburtstag. An diesem Tag versenkt eine drei oder vier hohe Monsterwelle den Fischer Caleb mitsamt seinem Kutter. Claire lebt mit ihrem Vater Nozias, ebenfalls Fischer, in einer winzigen Hütte. Ihre Mutter ist bei ihrer Geburt gestorben, und so sind ihre Geburtstage jedes Jahr nicht nur glückliche Tage, sondern auch immer solche der Trauer. Die ersten drei Jahre wird Claire von Verwandten ihrer Mutter großgezogen. Dann holt Nozias seine Tochter wieder zu sich, um sich selbst der Herausforderung zu stellen, sein Kind von seinem dürftigen Einkommen zu versorgen. Und obwohl es ihm nicht an elterlicher Liebe oder Verantwortung und gutem Willen fehlt, erkennt er die Hoffnungslosigkeit seines Unterfangens, Claire eine sorgenfreie Existenz bieten zu können. Aus diesem Grund entscheidet er sich, Gaëlle, die Besitzerin des Stoffladens, zu überzeugen, Claire zu adoptieren. Denn aus seiner Sicht ist es das Beste, ein neues Elternteil zu finden, dem er vertraut, sich um Claire zu kümmern. Er selbst will auf der Suche nach einer besser bezahlten Arbeit fortgehen.

An diesem siebten Geburtstag stimmt Gaëlle zu, Claire zu sich zu nehmen; am Abend verschwindet Claire, und erst im letzten Kapitel erfahren wir, was mit ihr passiert. Bis dahin porträtiert die Autorin andere Bewohner der Stadt, und im Verlaufe dessen wird deutlich, dass im Grunde Ville Rose in ihrer menschlichen Vielfalt, brutalen Realität und miteinander kollidierenden Schicksalen die eigentliche Protagonistin des Romans darstellt.

Da ist die Stoffhändlerin Gaëlle, die als Spiegel für Nozias wirkt. Auch ihr Leben ist von Verlusten geprägt. Am Tag, an dem sie ihre Tochter Rose auf die Welt bringt, wird ihr Mann Laurent ermordet. Sieben Jahre später – es ist der vierte Geburtstag von Claire – stirbt Rose bei einem Autounfall.

Bernhard Dorien, der in Cité Pendue, einem armen, gefährlichen Außenbezirk von Ville Rose, dem „ersten Höllenkreis“, zu Hause ist und dessen Idealismus und die Verbindung zu Tiye, dem berüchtigten Anführer der Bande Baz Benin, schreckliche Konsequenzen für sein Leben und das von Gaëlle haben.

Bernards enger Freund Max Ardin Junior, ein wohlhabender junger Mann, der vor zehn Jahren ein Kind zeugte, von seinem Vater Max Senior nach Miami geschickt wurde, nun nach Haiti zurückkehrt und mit seiner Schuld konfrontiert wird.

Louise George, eine bekannte und beliebte Radiomoderatorin, Lehrerin von Claire in der Schule von Max Ardin Senior und zeitweise desssen Geliebte, mit dem sie eine Rechnung offen hat. Sie ermöglicht es Bürgern von Ville Rose, in ihrer populären Radiosendung die eigene Geschichte zu schildern...

Edwidge Danticats Protagonisten sind fehlerhaft, aber menschlich, handeln auf einem schmalen Grad zwischen richtig und falsch. Während Nozias sich beispielsweise gezwungen sieht, seine Tochter aufzugeben, obwohl er sie eigentlich nicht verlieren möchte, muss Claire als Vertreterin vieler Kinder mit der Entscheidung leben, die andere Menschen für ihre Zukunft treffen.

Durch die verschiedenen Geschichten zeigt die Autorin eine Stadt, die von Gewalt, Leid und Tod, Korruption, Klassenunterschieden und sozialen Tabus geprägt ist, in der es jedoch durchaus auch Hoffnung, Träume, Liebe und Versöhnung und gute Absichten gibt.

Insgesamt ist der Tod - einerlei, ob er natürlichen, zufälligen oder kriminellen Ursprungs ist - in Ville Rose eine konstante und alltägliche Größe. Er taucht immer wieder in den Geschichten auf und verknüpft sie zum Teil miteinander. Leben und Tod stehen sich kontinuierlich gegenüber, wodurch die Autorin gleichzeitig die Fragilität des Lebens im Angesicht des Todes hervorhebt.

Danticats Roman ist geprägt von einem ruhigen Erzähltempo, ihre Sprache zeigt sich schnörkellos und klar, gleichwohl kraftvoll, poetisch und von enormer Tiefe. Sie verwendet sie, um komplizierte Verbindungen zu knüpfen, wenn sie sowohl Schönheit als auch Schrecken beschreibt. Die Einflechtung kreolischer Redewendungen und Worte schaffen den Reiz einer fremden Welt, erschweren allerdings zugleich das eine oder andere Mal das Lesen und Verständnis.

In ihrer Weise des Erzählens fordert uns die Autorin. Es erfolgt keine chronologische Abfolge. Vielmehr bewegt sich die Handlung von der Gegenwart bis zur nahen Vergangenheit, geht in die ferne Vergangenheit, um wieder in die Gegenwart zurückzukehren. So beginnt und endet die Geschichte mit Claires Geburtstag und damit nicht nur dem Todestag ihrer Mutter.

Am Schluss ihres eindrucksvollen und komplexen Romans erlaubt die Autorin ein wenig Zuversicht, unsicher zwar, aber vorhanden. Und daran möchten wir festhalten.

Veröffentlicht am 23.04.2024

Venezianischer Fluch

Venezianischer Fluch
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„Die Krähe legte ihren Kopf schief und starrte die verängstigte und unterkühlte junge Frau neugierig an. Sie beobachtete alles, was in den nächsten Minuten geschah.“

Eine junge Frau ist von einer Brücke ...

„Die Krähe legte ihren Kopf schief und starrte die verängstigte und unterkühlte junge Frau neugierig an. Sie beobachtete alles, was in den nächsten Minuten geschah.“

Eine junge Frau ist von einer Brücke gestürzt. Und während Luca Brassoni, Commissario Capo bei der venezianischen Polizei, seinen freien Tag hat, liegt bei seiner Ehefrau Carla Sorrenti, der federführenden Gerichtsmedizinerin der Stadt, ein neuer Fall auf den Tisch. Schnell stellt sich heraus, dass Antonella Carracci, so der Name der Toten, entgegen der ersten Annahmen nicht selbst gesprungen oder versehentlich gefallen ist, sondern ihr Körper Kampfspuren aufweist. Folglich ist klar, dass sie gestoßen und ermordet wurde.

Insofern stellt sich nicht nur die Frage nach dem Täter, sondern auch, ob der Zettel, den das Opfer bei sich hatte und der von einem Fluch spricht, von Bedeutung ist.

Die Sache wird persönlich, als Carla in ihrer Tasche eine Fetischpuppe findet. Obwohl sie im wahrsten Sinne des Worte eine realistische und rational denkende Person ist, ihr Flüche und Aberglauben ein Graus sind, bekommt sie plötzlich schreckliche Angst.

Will jemand die Arbeit der Polizei blockieren? Möglicherweise die Familie Perroni?

Antonella Carracci hat nämlich als Rezeptionistin im Hotel der Familie gearbeitet und war mit deren Sohn Carlo verlobt. Die Begeisterung von Patriarchin Magda Perroni hielt sich diesbezüglich in Grenzen, um nicht zu sagen, sie war nicht vorhanden. Das rückt die Familie ins Zentrum der polizeilichen Ermittlungen, zumal auch das Hotel mit einem angeblichen Fluch belastet sein soll, was für erhebliche Verunsicherung der Menschen sorgt.

Auffällig ist zudem das Verhalten der einzelnen Familienmitglieder, die mit Distanz und Abwehr reagieren und die Geduld der Polizei herausfordern. Die Perronis sind alteingesessene Venezianer, genießen einen angesehenen Ruf und pflegen einflussreiche Beziehungen. Darum dauert es nicht lange, bis Silvia Bertuzzi, die Leiterin der Dienststelle, vom Bürgermeister bedrängt wird und von ihrem Team zügig Ergebnisse erwartet werden.

Die Situation erweist sich als kompliziert, als sich im Hotelbereich ein weiterer Mord ereignet und außerdem Carlo Perroni verschwindet ...


"Venezianischer Fluch" ist mein erster Kriminalroman von Daniela Gesing, obwohl Luca Brassoni und seine Kollegen bereits das neunte Mal ermitteln. Die Geschichte bietet das, was ich von diesem Genre erwarte: ein differenziert konstruierter Plot mit Opfer(n), energischen Ermittlern, nachvollziehbarer Spurensuche, vielen Verdächtigen, falschen Fährten, interessanten Geheimnissen und nicht zu vergessen mit unterschiedlichen Emotionen.

Daniela Gesing hat eine angenehme Erzählweise, in der mich lediglich am Anfang die diversen italienischen Bezeichnungen irritiert und meinen Lesefluss beeinträchtigt haben. Ansonsten ist die Handlung nachvollziehbar dargestellt, und die Schilderung der Ereignisse und Ermittlungen erfolgt mit einen wirksamen Spannungsbogen. Daneben gelingt es der Autorin, die Neugier hinsichtlich einiger rätselhafter Wechsel in die Sichtweise des identitätslosen Täters hoch zu halten und ein paar Überraschungsmomente einzubauen.

Hervorzuheben ist außerdem die gekonnte Beschreibung die örtlichen Schauplätze. Hierdurch ist vor meinem geistigen Auge ein lebendiges Bild von Venedig entstanden, ohne dass ich die Lagunenstadt bislang in der Realität kennengelernt habe.

Der Roman punktet mit Figuren, die Daniela Gesing überzeugend gestaltet hat. Als besonders wohltuend empfinde ich es, dass sympathische Menschen mit einem normalen Familienleben, bei dem Organisationstalent gefragt ist, agieren sowie Kollegen ihre Arbeit ohne Konkurrenzdenken gemeinsam erledigen und auftretende Meinungsverschiedenheiten gleichberechtigt klären. Natürlich gibt es auch diejenigen Charaktere, bei denen auf eine Begegnung verzichtet werden könnte, weil ihre negativen Eigenschaften überwiegen. Doch in gewissen Maß habe ich auch bei diesen geringe positive Wesenszüge entdeckt, wenngleich das ohne Übertreibung sehr schwer gewesen ist.

Nach der Lektüre habe ich den Eindruck, dass neben dem Kriminalfall die Konflikte von Menschen, die in Verbrechen involviert werden, im Mittelpunkt stehen.

Luca Brassoni ist bald Vater von zwei Kindern. Meines Erachtens nach ist er aus diesem Grund darauf bedacht, dass die Ermittlungen seine Familie nicht beeinträchtigen, was allerdings nicht unbedingt funktioniert, weil seine Ehefrau Carla in den Fokus gerät.

Magda Perroni hingegen hält die Zügel straff in der Hand, von den Meinungen ihres Ehemannes Bernardo und ihrer Kinder Livia und Carlo lässt sie sich nicht beeinflussen. Sie gerät in den Strudel der Ereignisse, die alles verändern.

"Venezianischer Fluch" ist ein unterhaltsamer Kriminalroman, den ich gerne gelesen habe, so dass ich mich auf ein "Wiedersehen" mit der venezianischen Mannschaft samt Picco, dem tierischen Profiler, freue.

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