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Veröffentlicht am 20.11.2017

E.K. - ein mysteriöser Fall

Der Fall Kallmann
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Vorausschicken muss ich, dass ich noch einige andere Romane von Hakan Nesser gelesen habe, mit dem "Fall Kallmann" jedoch zu einem absoluten Fan dieses mit einer außergewöhnlichen Erzählgabe ausgestatteten ...

Vorausschicken muss ich, dass ich noch einige andere Romane von Hakan Nesser gelesen habe, mit dem "Fall Kallmann" jedoch zu einem absoluten Fan dieses mit einer außergewöhnlichen Erzählgabe ausgestatteten Bestseller-Autors geworden bin.

Inhalt:

Leon Berger folgt einem Vorschlag einer früheren Studienkollegin, Ludmilla, sich in K., einer schwedischen Kleinstadt zu bewerben, und tritt als Nachfolger die Stelle des Lehrers Erich Kallmann an der Bengtsuna-Schule an. Leon versucht damit, nach einer schwierigen Zeit und dem tragischen Verlust von Frau und Tochter Judith einen Neuanfang zu starten und wieder als Schwedischlehrer tätig zu werden.

Im Schreibpult seines Vorgängers findet er Manuskripte, bei denen es sich um Tagebücher handelt und erhält aus dem Kollegium nur sparsame Informationen um Erich Kallmann, da dieser sehr introvertiert war und kaum soziale Beziehungen unter den Kollegen unterhielt. Lediglich Igor, ein Lehrer, der mit ihm zusammenarbeitete, erzählt Leon Erinnerungen der letzten Gespräche mit Kallmann, aus denen hervorgeht, dass dieser sich für Literaturgeschichte und Kriminologie (besonders unaufgeklärte Fälle) interessierte. Allem Anschein nach war Kallmann kurz vor seinem Tod über ein unentdecktes und ungeklärtes Verbrechen gestolpert und war kurz vor der Aufklärung - musste er deshalb sterben?

Meine Meinung:

Das perspektivische Erzählen der einzelnen Hauptprotagonisten (Leon Berger, Ludmilla Kovacs, Igor, Andrea Wester, Charlie Mattis) wechselt sich von Beginn an ab, wodurch der Leser immer mehr und sehr detaillierte Einblicke in die Romanhandlung, die fast ausschließlich an der Schule stattfindet, in der unterrichtet wird, durch die einzelnen Protagonisten erhält. So gibt es auch antisemitische und rassistische Drohungen gegenüber einer Lehrerin und einem Schüler, die ein Seitenhieb auf die rechtspopulistischen Entwicklungen sind, die auch vor Schweden nicht haltmachen und die ich als reale Sozialkritik verstehe. Im Eigentlichen geht es jedoch um die Gabe Kallmanns, der behauptet hatte, durch die Augen direkt in die Seele eines Menschen blicken zu können (weshalb er dies stets unterließ und auf Abstand ging). Was war Fiktion, was ist Wahrheit, die in den Tagebüchern zu finden ist, derer sich erst Leon, dann Leon und Ludmilla und schließlich das Dreierteam Leon, Ludmilla und Igor widmen? Was hat Andrea Wester und Charlie Mattis mit dem Fall Kallmann zu tun und in welchem Zusammenhang stehen beide zu dem Tod des bei den Schülern beliebten Lehrers?

Während die Polizei, in persona des Inspektors Marklund, die Akte Kallmann schnell beiseitelegt, forschen die Lehrer um Leon nach; auch Andrea und ihre Freundin Emma gründen ein Detektivbüro auf Zeit, um Nachforschungen anzustellen...
In einer Rückblende geht es in die 80er Jahre: Ulrika, die Mutter von Andrea Wester, unternimmt eine Reise nach England, wo sie sorglose und sehr verliebte Zeiten mit Flynn Branagan, einem etwas älteren Troubadour, verbringt und Ende Juni schwanger zurück nach Schweden fährt...

Die Hauptprotagonisten, allen voran Leon Berger, sind durch die Ich-Form sehr authentisch und ich empfand sie als sehr sympathisch und ihre Handlungen als nachvollziehbar. Ludmilla hilft Leon in einer schweren Zeit der Traumatisierung und sich selbst hinaus aus einer nicht mehr funktionierenden Ehe. Die Kapitel, in denen Andrea Wester (15) "erzählt", empfand ich als besonders erfrischend; ihre tiefgründigen, teils philosophischen Unterhaltungen mit Emma, ihrer besten Freundin, die einen ebenso scharfen Verstand aufweist wie Andrea selbst, besonders, als ein Junge, der als rechtsextrem gilt, an der Schule ermordet aufgefunden wird.

Jeder der Protagonisten gewährt dem Leser (im jeweiligen Augenblick der Handlung, der man mit Spannung folgt) einen Blick in seine Seele und seine Gedankenwelt, die sehr charakterisiert und den ich einfach großartig finde. Sicher spielt das Stilmittel der Ich-Form hier eine nicht unbedeutende Rolle; auch Ludmilla fiel mir da besonders positiv auf. Bei Andrea Wester ist es die Frische und Jugendlichkeit, ihre Intelligenz und auch soziale Kompetenz, die ich an dieser Figur mochte. Auch Charlie Mattis ist von Beginn an ein interessanter, kluger als auch überzeugend, authentisch wirkender junger Mann, der zum Ende hin eine Schlüsselrolle haben sollte: 20 Jahre sind vergangen und die Dinge "um den Fall Kallmann" beginnen sich zu klären; auch für all jene, die nochmal zusammengekommen sind und sich damals mit ihm beschäftigt haben. Schockierend, welche Sachlage sich zum Ende hin darstellt, die so nicht vorhersehbar war.

Fazit:

Subtile Spannung von einem Meister seines Fachs; stilistisch brillant umgesetzt: Ich kann diesen Roman, der starke Krimielemente aufweist, allen Hakan Nesser-Fans nur weiterempfehlen! Spannung, Unterhaltung auf höchstem Niveau halten sich durchaus die Waage. Von mir daher 4,5 * und 95° auf der "Krimi-Couch".

Veröffentlicht am 11.09.2017

Wieder spannend, atmosphärisch, stimmig: Toller Norwegenkrimi mit sympathischem Ermittler-Duo!

Das Mädchen, das schwieg
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Nach "Totensommer" ist dies der 2. norwegische Kriminalroman von Trude Teige, der ins Deutsche von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann aus dem Norwegischen übersetzt wurde. Erschienen ist "Das Mädchen, ...

Nach "Totensommer" ist dies der 2. norwegische Kriminalroman von Trude Teige, der ins Deutsche von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann aus dem Norwegischen übersetzt wurde. Erschienen ist "Das Mädchen, das schwieg" im Aufbau-Verlag (TB, 2017).

Kajsa und ihr Mann Karsten leben mit Kajsa Kindern aus der Ehe mit Aksel und dem kleinen Jonas, dem gemeinsamen Sohn mit Karsten, in Losvika, einem kleinen Ort auf einer norwegischen Insel, das Kajsa von ihrer Tante erbte.
Sissel, die seit vielen Jahren kein Wort mehr gesprochen hat, wird ermordet - im gleichen Haus, in dem auch ihr Vater Peder Vage ein knappes Jahr zuvor einem gewaltsamen Ende zum Opfer fiel: Haben die beiden Morde miteinander zu tun?
Sissel, die sich nur mit Zetteln und Notizblöcken mit anderen Menschen verständigte, saß meist in ihrem Sessel am Fenster und beobachtete ihre Umwelt, ihre Mitmenschen im Dorf: Was hatte sie gesehen, dass sie sterben musste?

Diesen Fragen geht das Ermittlerteam nach, das Eggesbo um sich schart, wobei er Karsten bewusst miteinbeziehen möchte, ohne ihn zu überfordern: Nach einer schweren Verletzung, die er sich bei der Aufklärung des letzten Falles zuzog, hat er sich noch nicht wieder erholt und ist auf Krücken angewiesen. Allerdings ist er zu Kajsas Freude mehr und mehr fest entschlossen, sich ins Leben zurückzukämpfen: Seine Stärke liegt in Analysefähigkeiten und methodischem Vorgehen; so nimmt er sich z.B. die Aufzeichnungen Sissels zur Brust, die er zu entschlüsseln versucht....

Kajsa, eigentlich Journalistin, kannte die Ermordete vom Sehen und macht sich auf die Suche nach Informanten, um Spuren aufzunehmen, die zur Klärung des Falls führen könnten. So sucht sie z.B. Tone auf, ein Mädchen, das direkte Nachbarin Sessels war, sehr viel musikalisches Talent hat und auch gerne mal den kleinen Jonas spazierenfährt, in der Schule allerdings aufgrund ihrer Hautfarbe ausgegrenzt und gemobbt wird; Olga, die pensionierte Lehrerin; und Bente und Dag, die gutsituierten Adoptiveltern von Tone, die direkt neben Sissel wohnen.
Da das Mädchen als vermisst gemeldet wird, wird Verstärkung angefordert, die Suchmannschaft vergrößert und Karsten, der sich nicht direkt an der Suche beteiligen kann, nimmt sich nochmals die Notizbücher Sissels vor - bei ihrem letzten Eintrag hat er endlich das Gefühl, auf einer wichtigen Spur zu sein...

Der erste Wintersturm, der über Norwegen hinwegfegt, erschwert die Suche, erhöht aber die Spannung ungeheuer und erste Ideen, wer der Täter sein könnte, entstehen beim Lesen; es gibt immer wieder Rückblicke in eine gequälte Kindheit zweier Kinder, die mit ihrer Mutter gemeinsam in Angst und Schrecken vor der häuslichen und unberechenbaren Gewalt des Vaters leben...

Kajsa arbeitet sich unerbittlich und mit viel Intuition in die Vergangenheit Sissels, die Schreckliches (und für den Leser Erschütterndes) zutage fördert. Gegen Ende des sehr spannend geschriebenen und flüssig zu lesenden Kriminalromans spitzt sich die Situation zu; der vom Meer kommende Wintersturm macht das Geschehen umso dramatischer. Das fulminante Ende, das vom Sturm begleitet wird, ist sehr spannungsgeladen, der Plot stimmig. Der Bericht im "Sunnmorsposten", einer Lokalzeitung, für die Kajsa temporär arbeitet, setzt dieser Dramatik gewissermaßen noch "eins drauf".
Einziger 'Wermutstropfen' dieses ansonsten brillanten Krimis bestand für mich darin, dass sich mein Verdacht bestätigte (nach Motivlage), den ich zur Krimihälfte erwogen hatte. Dennoch habe ich den 2. Kriminalroman dieser norwegischen Autorin sehr gerne gelesen und würde mich über Fortsetzungen sehr freuen!

Fazit:

In den spannend zu lesenden und stimmigen beiden bisherigen Kriminalromanen von Trude Teige findet sich eine gewaltige Menge "sozialen Sprengstoffes"; hier in Form von Gewalt in der Familie, Übergriffe auch in religiösen Kreisen und in der Passivität der Mitmenschen, die oft wegschauen, um selbst nicht ins Fadenkreuz des Ärgers bzw. von Konflikten zu geraten! Für den atmosphärisch-spannenden Krimi, den ich gerne weiterempfehlen möchte, vergebe ich 4,5 * am skandinavischen Krimi-Firmament und hoffe auf weitere Fälle!

Veröffentlicht am 14.08.2017

Lesenswerter und nachdenklich stimmender Blick in die Kölner Nachkriegsjahre...

Antonias Tochter
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Juli 1945, Köln:

Antonia von Brelow, aus einem ostpreußischen Gut stammend, kehrt mit ihrer Tochter Marie, noch im Kleinstkindalter, ins Haus der von Brelows zurück, das den Krieg wie durch ein Wunder ...

Juli 1945, Köln:

Antonia von Brelow, aus einem ostpreußischen Gut stammend, kehrt mit ihrer Tochter Marie, noch im Kleinstkindalter, ins Haus der von Brelows zurück, das den Krieg wie durch ein Wunder überstanden hat und bewohnbar ist. Ihr Mann Friedrich wird vermisst, aber ihr Schwager Richard, dessen Bruder, hat sich ebenfalls in der alten Villa niedergelassen; nun müssen sich beide arrangieren...
Um Marie und sich selbst über diese entbehrungsreichen Zeiten zu bringen, entschließt sich Antonia, Zimmer unterzuvermieten. Und so bildet sich nach und nach eine Hausgemeinschaft:
Katharina (aus ostpreußischem Adel stammend und als Krankenschwester in Köln arbeitend); Elisabeth (von einem Bauernhof stammend und Tänzerin mit einem Faible für Nigel, einem britischen Soldaten, der ihr Zimmer finanziert, dafür aber gewisse "Gegenleistungen" fordert) und Dr. Georg Rathenau, Arzt und ebenfalls auf der Suche nach einer Bleibe...

Im Romanverlauf lernt man die verschiedenen Charaktere immer besser kennen; freut sich, dass die Frauen sich gut verstehen und mehr und mehr zu Freundinnen werden - hat jedoch das untrügliche Gefühl, dass jeder der Protagonisten etwas zu verbergen hat - oder durch Kriegserlebnisse traumatisiert ist. Die Figuren sind sehr facettenreich beschrieben und man kann deren Handlungen sehr gut nachvollziehen; dem Leser wird eine Zeit vor Augen geführt, in der Hunger und Kälte ständige Begleiter von Menschen waren, die den Krieg überlebten - und nun durch Rationierungen von Lebensmitteln (Karten) und Heizmaterial weiterhin ein karges, fast unmenschliches Leben führen mussten und nicht jeder diese Zeit überlebte. So mancher wurde dazu verleitet, Diebstahl und Einbrüche zu begehen, um nicht zu verhungern; selbst die Lebensmittelkarten standen auf der Liste von (hungernden) Trickbetrügern, die zuweilen in Gestalt eines Kindes sein Opfer überrannten...

Während Katharina und Georg sich den zahlreichen Kranken in der Klinik widmen, näht Antonia aus alten Vorhängen Wintermäntel oder strickt Kinderkleidung, um ein Zubrot zu verdienen, das Marie und sie vor dem Verhungern rettet. Elisabeth arbeitet als Trümmerfrau, da es dort wenigstens eine heiße Suppe gibt. Sie sucht nach einem Weg, finanziell unabhängig zu sein, auf den elterlichen Hof wird sie niemals zurückkehren... Diese Versuche, unabhängig zu sein, ließen mich große Sympathie für Elisabeth empfinden, ebenso wie zu Katharina Falkenburg, die das "von" lieber aus ihrem Namen streicht und der jeglicher Standesdünkel aus Vorkriegszeiten fremd ist und zu Antonia, die unter schwierigen Umständen das beste aus der Situation macht.

Der Autorin gelingt es, die Sorgen und Ängste besonders der Frauen, die auf die Rückkehr ihrer Männer warten - oder zuweilen noch schlimmer - die Traumatisierungen ihrer Männer miterleben, die ihnen diese fremd erscheinen lassen und eine Rückkehr zu einem "normalen" Leben wie vor dem Krieg unmöglich machen, zu beschreiben. Auch der Nahrungsmangel, der auch auf die Besatzungszonen und damit einhergehender Verwaltungs- und Logistikprobleme zurückzuführen ist, steht sehr eindringlich im Vordergrund des Romans. Eine Art "Überlebenskünstler" ist hier Richard, der jedoch rigide mit Geschäftskontrahenten umgeht und die Hausgemeinschaft nicht von seinen recht erfolgreichen Aktivitäten im Schwarzmarkthandel in Form von Naturalien - wenigstens ab und zu - profitieren lässt. Dennoch hatte ich auch für diese Figur gewisse Sympathien, da er doch zur Stelle war, wenn es darauf ankam.

Zu den ständigen Begleitern des Hungers und der Kälte gesellen sich bei fast allen Protagonisten auch fragile Gefühlswelten, die in und durch die Kriegsjahre sehr durcheinandergerüttelt wurden und besonders bei Antonia, in direktem Zusammenhang mit der Flucht aus Königsberg zu stehen scheinen....
In einem Rückblick am Romanende wird die Zeit des letzten Kriegsjahres und der Einmarsch der Roten Armee in deutsche Gebiete (Oktober 1944), der mit dem Tode tausender flüchtender Menschen aus Ostpreußen, Vergewaltigungen und Angriffen auf die Flüchtlingstrecks endeten, in der Erfahrung Antonias geschildert; die Todesangst und Panik ist allzu vorstellbar, wenn man sich den Hass der russischen Soldaten vorstellt, die zuvor ebenfalls diese Grausamkeiten des Krieges von Seiten der deutschen Wehrmacht erlitten hatten. Hier geht es Nora Elias darum, nachvollziehbar aufzuzeigen, dass ein Mensch in Panik und Todesangst anders handelt als er es unter normalen Umständen getan hätte, was für mich auch die stärkste Aussagekraft dieses Romans darstellt.

Fazit:

Ein Roman, der den Leser auf spannende Weise in die Stadt Köln der Jahre 1945 bis Sommer 1947 entführt, in eine zerbombte Stadt voller Ruinen und zu einer Hausgemeinschaft, die diese harten Nachkriegsjahre in gegenseitiger Freundschaft überlebten, sich Halt gaben und füreinander einstanden - auch über Klassenunterschiede hinweg, die nach dem Krieg noch eine größere Rolle spielten als heute. Ein beeindruckender, teils auch bedrückender und sehr nachdenklich stimmender Nachkriegsroman, der auf jeden Fall - besonders für historisch interessierte Leser - eine Leseempfehlung und 4,5 *von mir erhält!

Veröffentlicht am 04.09.2025

Die großmutter, die das Glück pachtete

6 aus 49
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Nachdem ich begeistert "Das Haus verlassen" von Jaqueline Kornmüller gelesen hatte, war ich sehr gespannt auf ihren neuen Roman, den sie ihrer geliebten Großmutter widmete: "6 aus 49" bezieht sich auf ...

Nachdem ich begeistert "Das Haus verlassen" von Jaqueline Kornmüller gelesen hatte, war ich sehr gespannt auf ihren neuen Roman, den sie ihrer geliebten Großmutter widmete: "6 aus 49" bezieht sich auf die leidenschaftliche (System)lottospielerin Lina, die hier eine liebenswerte und weise, unerschütterliche und starke Hauptprotagonistin ist und die man im Roman peu à peu besser kennenlernen kann. Erschienen ist der Roman bei Galiani Berlin (HC, geb., 223 S.) und das wunderschöne Buchcover mit Lina und Maria, die zeitlebens unzertrennliche "Schwestern im Geiste" bleiben sollten, wurde von niemand Geringerem als von Kat Menschik gestaltet.

Die Großmutter der Autorin, Lina, entstammt tiefster Armut; "einer Armut, die verboten gehört", wie sie selbst zeitlebens sagte und diese nie vergaß. Es gelingt ihr, eine Stelle in einem Hotel des in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts aufstrebenden Partenkirchen zu finden, in der sie zuerst in der Küche Pfannen schrubbt. Bis Fanny, eine Hotelangestellte, sie im Service anlernt und Lina immer mehr Gefallen am Hotelwesen findet. Hier sollte sie auch Maria begegnen, der sie zeitlebens verbunden war. Durch einen Zufall verpachtet ein Chemiker, der nach Berlin zieht, das schönste Haus am Platz: Die "Amalie"; hier sollten beide Frauen ihr Glück finden, in dem sie Zimmer (und später mehr Zimmer) vermieteten und Lina die Gastfreundlichkeit in Persona war; Maria dagegen eher schüchtern und im Hintergrund. Dafür ist sie jedoch kreativ und entwirft eigene Daunenbettdecken für das Hotel, mit dem sie sich selbständig machten (was ein Glück war, da Lina schwanger war), die solch' einen Erfolg haben, weil man himmelsgleich in ihnen schläft, dass sie später mit der Werkstatt und der Herstellung expandieren sollten. Der Tourismus kommt im bayrischen Partenkirchen, das später nach Hitlers Wunsch mit Garmisch zusammengelegt werden sollte, in den 20er Jahren in Fahrt und Personal wird überall gesucht. Doch es ist auch die Zeit der beginnenden Verfolgung von Juden: An einigen Beispielen weist die Autorin und Enkeltochter Linas darauf hin, wie unmenschlich mit Juden umgegangen wurde und die "Juden-Abwehrschilder" vor Wettkämpfen und Winter-Olympiaden flugs abgebaut wurden, um sie später wieder (und Schlimmeres) aufzustellen.

Auch wird nicht verschwiegen, dass Amtsleiter unbeschadet auch nach dem Krieg in Amt und Würden waren; diese Gesellschaftskritik fand ich sehr wichtig und fand es gut, dass sie (bei allem Glück der Großmutter) hier nicht ausgespart wurde. Im Gegenteil: Die Autorin springt oft in der Zeit und bringt dennoch das Wesen der Großmutter, die eine starke Persönlichkeit war, der geneigten Leserschaft näher. Lina's Rücken hatte die Enkelin "stets vor allen Unwägbarkeiten des Lebens geschützt" und dies bis ins hohe Alter; wenn auch die Kreise zwischendurch nicht immer eng waren. Dennoch hielt die enge Verbindung wohl ein Leben lang und es ist ein Roman voller Respekt und Ehrfurcht vor Lina, die immer zuversichtlich war, an ihr Glück glaubte (auch im Lottospiel) und dieses selbst in die Hand nahm. Die ein Lachen besaß, "das alles Schwere wegwischte", die aus Nichts etwas machen konnte und sich mitmenschlich und selbstlos zeigte: So wies sie einem jungen Amerikaner (Besatzungsmacht nach dem 2. WK in Bayern) an einem eiskalten Winterabend nicht die Tür, sondern ließ ihn in ihrem Wohnzimmer (mit Frühstück) übernachten: Dies sollte sich als weiteres Glück erweisen, da dieser junge Mann später ein weltberühmter Reisejournalist war, der in einem seiner Bücher Lina erwähnte. Woraufhin 'halb Amerika auf ihrer Couch übernachten wollte'. Das Hotel war also immer ausgebucht und Lina, die sich mit Fremdsprachen schwer tat, reichten sieben englische Wörter, um sich verständlich zu machen. Hier und da blitzt also immer wieder Humorvolles auf, das neben auch schwierigen Zeiten überwiegt. Zumal das Glück (sehr viel später auch in Form eines Sechsers im Lotto!) nie abwesend, sondern immer an der Seite Lina's bleibt. Nur auf die Liebe sollte sich dieses Glück nicht beziehen. Dennoch liebte Lina zeitlebens "das Zufällige, das Überraschende, das Unverfügbare" - und das Wesen des Glücks ist unverfügbar.

Dies hat mir die Großmutter sehr sympathisch werden lassen, je mehr ich von ihr las. Im letzten Drittel erzählt J. Kornmüller auch aus ihrem Leben und mir gefiel die erste Hälfte des Romans noch besser als die zweite, da es interessant und spannend war, mit der Autorin auf das Leben einer sehr starken Frau zurückzublicken, die stets an ihr Glück glaubte. Es ist eine liebevolle Hommage an die Großmutter von J. Kornmüller, deren Liebe und Zuversicht, aber auch ihre Gastfreundschaft, ihr Humor und ihre Mitmenschlichkeit einen Roman durchaus verdienen. Die Kapitel sind kurz, die Handschrift der Autorin glasklar und schnörkellos, der Stil regt dazu an, gerne zwischen den Zeilen zu lesen (was ich sehr mag). Etwas befremdlich fand ich die Distanz zwischen der Autorin und deren Mutter, die im Roman nur mit "Linas Tochter" benannt wird: Der Grund dieser Distanz bleibt dem Leser jedoch verborgen.

Da Lina stets bewusst war, wie viel Armut es gibt (der sie entrinnen konnte), hat sie auch das Leben geliebt, das sie führen konnte (Bali mit Maria im 5-Sterne-Ressort, dahinter die Wellblechhütten); die Schweiz, Venedig mit der Enkelin etc. "weil sie es bezahlen konnte". Hier hätte ich mir vielleicht einen kleinen Hinweis der Autorin gewünscht, dass Lina (z.B. nach dem 6er im Lotto) auch einen Teil des Geldes gerne - für Menschen, die nicht im Glück baden konnten - gespendet hätte. Das ist aber auch mein einziger Kritikpunkt; ansonsten habe ich den Roman sehr gerne gelesen und empfehle ihn gerne weiter!

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Veröffentlicht am 02.08.2025

Von einem zauberschönen Garten und 'leisen' Menschen

Der Garten der kleinen Wunder
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Wir alle kennen sie: Die eher 'laute' Fraktion der Menschheit, die extrovertiert ist, überall (gut) ankommt und hoppla, hier bin ich sagt - voller Selbstbewusstsein und Charme sowie einem Lächeln, die ...

Wir alle kennen sie: Die eher 'laute' Fraktion der Menschheit, die extrovertiert ist, überall (gut) ankommt und hoppla, hier bin ich sagt - voller Selbstbewusstsein und Charme sowie einem Lächeln, die jede Situation (scheinbar) mit links meistert. Und da gibt es auch die leisen, stillen Charaktere. Die, die niemand bemerkt, die leicht übersehen werden, die sehr introvertiert bis hochsensibel sind, sich nicht zutrauen, eine Rede vor einem Pulk von Menschen zu halten und Menschenmengen generell meiden. Die mit Reizüberflutungen zu kämpfen haben.

In Patricia Koelle-Wolken's Roman "Der Garten der kleinen Wunder" geht es im Kernthema um die Introvertiertheit mancher Menschen und die Hochsensibilität. Aber auch darum, dass jeder Mensch einen Mentor brauchen kann, der ihn zum richtigen Zeitpunkt unterstützt, ihn erkennt und an ihn glaubt. Die positiven Veränderungen sind dann oft (nur) die Konsequenz daraus....

Vica (14) lebt neben Toya und Bär und fühlt sich magnetisch angezogen von dem bunten Mandarinfisch, der in Toyas Garten steht. Es entwickelt sich eine leise Freundschaft zwischen den beiden, trotz des großen Altersunterschieds. Denn Toya fühlt sich an ihr eigenes Ich erinnert und möchte Vica einen Rahmen für ihr Leben geben, um sich zu entfalten (so wie Wille es bei ihr instinktiv vor vielen Jahren getan hat). Sie lädt Vica kurzerhand immer wieder ein und auch Bär (mit seiner eigenen Geschichte) mag Vica sehr; erinnert sie ihn doch um seine kleine Schwester, die er vor langer Zeit verloren hat.

So verfolgen wir die Freundschaft an dem Ort, der einen eigenen Zauber besitzt: Toyas Garten und lauschen der Geschichten, die sich um die ProtagonistInnen spinnen. Wir lernen Mamoun, den marokkanischen Gewürzhändler kennen, Herr Kowiecki, der Antiquar, bei dem Toya aushelfen durfte und der ihr Talent zum Zeichnen entdeckte, entdecken die Schönheit von Quallen und Korallen (von denen Toya Fotos von Marc, ihrem Freund, erhält, um sie in ihre Buchgestaltung einzubinden) und gehen mit in ein Aquarium, in dem alles begann. Weitere HauptprotagonistInnen sind schöne Pflanzen wie der Bart-Iris (die bei etwas Abstand zueinander besser gedeihen, ebenso wie bei manchen Menschen) und der Garten, dem bald eine Neuauflage in Vicas Elternhaus folgen sollte. Micki, eine Bekannte von Bär, hilft hier ehrenamtlich und mit großer Passion mit und soll auch noch eine Rolle im Roman bekommen.

Florian, Vicas Vater, ist Augenchirurg und zuerst nicht sehr angetan von der Freundschaft seiner Tochter und Toya; dies ändert sich jedoch, als Toya sich ihm vorstellt und er mit der bunten Welt im Nachbarsgarten 'kollidiert'. Es ist schön zu lesen, wie sich eher starre Charaktere, die festgefahren (und zuweilen spießig) sind, auch verändern können, wenn sie in anderem Umfeld sind und längst Verschüttetes in sich ausgraben. Vica macht Gartenarbeit viel Freude, sie ist glücklich, als sie ihr eigenes Beet, einen Steingarten, 'komponieren' darf. Im Gegensatz zur Schule, die ihr eher Magendrücken bereitet, erblüht sie regelrecht in Toyas Gartenpracht. Letztere ist auch sehr poetisch beschrieben und jedem müsste hier das Gärtnerherz leuchten: Der Garten als ein Glücks- und Kraftort; die beeindruckende Farbenvielfalt des prächtigen Gartens und die Empfindungen Vica's kann ich bestens nachempfinden, da ich das Glück hatte, einen sehr passionierten Gärtner zum Vater zu haben; auch gehören Iris zu meinen Lieblingspflanzen.

In diesem poetischen und flüssig zu lesenden Roman kann man die wundersamen Veränderungen von Menschen nachlesen, die von ihrer Natur her eher zurückgezogen sind; deren Verhalten oft missgedeutet wird und die es aufgrund ihrer Introvertiertheit (oder sogar einer Hochsensibilität) zuweilen schwer haben. Sie brauchen Ruhe und Verständnis, um sich entfalten zu können; so die Autorin. Dem kann ich mich nur anschließen, da ich selbiges auch früh bei meinem Bruder bemerkte, der mit Sicherheit hochsensibel war und oft (durch sein Verhalten) dadurch missverstanden wurde.

Fazit:

Ein Roman über einen 'zauberschönen' Garten und leise Menschen, die die nötige Empathie, auch Ruhe und Unterstützung sowie einen Ort brauchen, an dem sie sich voll entfalten können. In poetischer Sprache gelingt es P. Koelle-Wolken auch, die Leserschaft in Bezug auf 'eher leise Menschen' zu sensibilisieren. Ich empfehle ihn gerne weiter und vergebe 4* und 88° auf der Belletristik-Couch.

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