Profilbild von Girdin

Girdin

Lesejury Star
offline

Girdin ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Girdin über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 27.09.2017

Kampf der jungen Frauen um ihren Platz in der Gesellschaft - konnte mich überzeugen

Die Geschichte der getrennten Wege
0

Mit dem Roman „Die Geschichte der getrennten Wege“ liegt nun auch der dritte Band der vierteiligen Reihe von Elena Ferrante rund um die Ich-Erzählerin Elena und ihrer gleichaltrigen Freundin Raffaella, ...

Mit dem Roman „Die Geschichte der getrennten Wege“ liegt nun auch der dritte Band der vierteiligen Reihe von Elena Ferrante rund um die Ich-Erzählerin Elena und ihrer gleichaltrigen Freundin Raffaella, die von Elena Lila gerufen wird, in deutscher Übersetzung vor. Die Protagonistinnen verbindet eine über 60-jährige Freundschaft. Der vorliegende Roman erzählt von der Zeit, in der Lila weiterhin in Neapel wohnt und Elena als junge Ehefrau nach Florenz zieht. Es ist Ende der 1960er beziehungsweise es sind die 1970er Jahre und Italien wird von sozialen Unruhen erschüttert. Doch obwohl sie räumlich voneinander getrennt leben und einander nur noch selten sehen, reißt die Verbindung nie gänzlich ab und sie halten telefonischen Kontakt. Die Rivalität um einen Vorrang in ihrer Freundschaft bleibt dennoch weiter bestehen.

Der Erzählung voran gestellt ist eine Liste der handelnden Personen und die wichtigsten Ereignisse der Vergangenheit in die sie eingebunden waren. Der Roman beginnt zunächst im Jahr 2010, Lila wird vermisst und Elena schreibt über ihre gemeinsame Freundschaft. Bei ihrem letzten Treffen vor fünf Jahren hat sie einige nachteilige Veränderungen an Lila wahrgenommen. Sie deutet dem Leser an, dass in der Zwischenzeit einiges Furchtbares geschehen ist. Mich machte das natürlich neugierig, denn ich wollte wissen, was sich in den vergangenen Jahren Schreckliches ereignet hat. Gespannt wartete ich aber auch darauf, von schönen Erlebnissen der jungen Frauen in Neapel und Florenz zu erfahren, denn immerhin dauerte die Freundschaft der beiden Frauen weiterhin an.

Zunächst sieht es so, als ob Elena das Glück gefunden hat. Sie hat ein Buch geschrieben, das veröffentlicht wurde und erfolgreich ist. Mit Pietro Airota, den sie während ihres Studiums kennenlernte, hat sie den Sohn einer angesehenen und wohlsituierten Mailänder Familie geheiratet. Vergleichsweise jung wird er zum Universitätsprofessor berufen und erhält einen Lehrstuhl in Florenz. Schon bald wird Elena schwanger. Lila hat sich aus ihrer Ehe mit Stefano befreit und lebt mit einem Freund aus Kindheitstagen zusammen. Während sie ihren kleinen Sohn von einer Nachbarin betreuen lässt arbeitet sie selbst Vollzeit in einer Wurstfabrik. Die Arbeitsbedingungen sind hart und die Arbeiter permanent unzufrieden. Glaubte ich nun, dass beide den sich aus der Situation heraus vorgezeichneten Lebensweg gehen würden, so lag ich gänzlich falsch. Elena Ferrante hat sich für ihre Figuren ein Auf und Ab des Schicksals erdacht, bei der die Figur des Nino Sarratore, der mir als Leser bereits seit Band 1 der Romanserie bekannt war und der eventuell der Vater von Lilas Sohn ist, eine bedeutende Rolle spielt.

Elena hat viel Zeit dafür aufgewendet sich aus dem neapolitanischen Milieu zu lösen. Dabei spricht sie bewusst keinen Dialekt mehr. Von sich selbst sagt sie, dass ihre Sprache männlicher geworden ist mit dem Ziel, sich von der durch Männern dominierten Gesellschaft zu lösen. Denn nur wer auf Augenhöhe agieren kann, wird auch die Hintergründe begreifen. Ihr Verhalten hat sie insgesamt einer höheren Gesellschaftsschicht angepasst. Und dennoch ist sie nicht zufrieden mit ihrer Arbeit. Nach einer ersten Welle der Anerkennung für ihr Erstlingswerk, bleiben die Ideen zu einer Fortsetzung ihres Schreibens bruchstückhaft. Von der traditionellen Rolle als Hausfrau und Mutter kann sie sich nicht gänzlich lösen und findet bei ihrem Mann keine Unterstützung zur Selbstverwirklichung, weil er seine eigene Karriere vorantreiben will.

Ende der 1960er beginnen die Arbeiter in Italien gegen die wirtschaftliche und soziale Ungerechtigkeit aufzubegehren. Am Beispiel der Wurstfabrik, in der Lila arbeitet, bindet die Autorin diesen historischen Aspekt in ihren Roman ein. Kommunisten und Faschisten versuchen die Oberhand zu gewinnen und bekämpfen nicht nur den sozialen Missstand sondern sich auch gegenseitig. Dabei kommt es in Neapel zu blutigen Kämpfen. Ich erlebte Lila in der täglichen Tretmühle der eintönigen Fabrikarbeit. Doch wem die Figur im Roman inzwischen vertraut geworden ist wie mir, kennt Lila als einfallsreich und intelligent. Sie weiß um ihre Begabung für Ungewöhnliches, denn sie hat auch schon früher Erfolg mit ihrer Kreativität gehabt. So nimmt sie eine Idee ihres Lebensgefährten auf und geht ihr mit Hartnäckigkeit und Ausdauer nach. Lila ist sich darüber bewusst, dass Wissen eine Art Macht über andere Personen mit sich bringt. Sie nutzt es als Werkzeug, um den von ihr gewünschten Platz in der Gesellschaft zu finden.

Elena Ferrante schaffte es, mich mit der Entwicklung ihrer Protagonistinnen immer wieder zu überraschen. Die schöne klare Sprache wird dabei gerade im Umfeld von Lila oft rau, manchmal sogar roh. Doch diese Art unterstützt es, den Kampf der beiden jungen Frauen um einen Platz in der Gesellschaft zu verdeutlichen. Durch die gewählte Erzählperspektive konnte ich dem Versuch Elenas folgen, das geltende Frauenbild in ihrer Zeit zu begreifen, gerade auch aus der Sicht der Männer, genauso wie der Ergründung ihrer eigenen Libido.

Wieder einmal konnte die Autorin mich mit ihrer Erzählung überzeugen. Ich bin schon gespannt darauf, welche Erfahrungen die beiden Freundinnen auf ihrem Lebensweg noch machen werden und ob Lila gefunden wird beziehungsweise gefunden werden will. Wer die Serie noch nicht kennt, sollte jetzt mit dem Lesen beginnen, denn der letzte Band erscheint voraussichtlich im Februar 2018.

Veröffentlicht am 12.09.2017

Zurecht ein Bestseller in Dänemark

Oxen. Das erste Opfer
0

„Oxen – Das erste Opfer“ ist der erste Band einer Thriller-Trilogie des Dänen Jens Henrik Jensen. Oxen ist ein eher ungewöhnlicher dänischer Nachname und entspricht dem deutschen „Ochse“. Titelgebend ist ...

„Oxen – Das erste Opfer“ ist der erste Band einer Thriller-Trilogie des Dänen Jens Henrik Jensen. Oxen ist ein eher ungewöhnlicher dänischer Nachname und entspricht dem deutschen „Ochse“. Titelgebend ist der Protagonist Niels Oxen, Anfang 40, Kriegsveteran und früher als Elitesoldat bei den Jägern. Eingesetzt wurde er unter anderem auf dem Balkan und in Afghanistan. Dafür wurde er mit höchsten Ehren ausgezeichnet. Aber seine Einsätze sind nicht spurlos an ihm vorbei gegangen und er ist tief traumatisiert. Erst im Laufe der Geschichte offenbaren sich alle Gründe, warum Oxen sich mit seinem Hund, einem weißen Samojeden, den Sommer über in den nordjütländischen Wald zurückgezogen hat und bereits vor etwa einem Jahr aus der Gesellschaft ausgestiegen ist. Dunkel und beklemmend wirken die Bäume auf dem Cover und sie geben sehr gut die Stimmung im Buch wieder. Im oberen Bereich des Titelbilds leuchtet dem Leser der Name des Protagonisten blutrot entgegen. Auch durch die Fallermittlungen, in die Oxen involviert wird, zieht sich eine blutige Spur.

Oxen’s Neugier bringt ihn eines Tages bei einem Streifzug durch die Gegend in die Nähe von Schloss Norlund. Er beobachtet seltsame Vorkommnisse auf dem Schlossgelände und schafft es nicht mehr rechtzeitig sich spurlos zurückzuziehen. Daher wundert er sich nicht, dass er einige Tage später von einem Trupp Polizisten in seinem Lager im Wald aufgestöbert wird. Widerwillig folgt er Kommissar Grube aufs Polizeirevier und erfährt hier vom Tod des Schlossbesitzers. Einer der Verdächtigen ist er selbst. Verwunderlich ist, dass sowohl der Polizeipräsident als auch die Spitze des Inlandsnachrichtendienstes PET beim Verhör anwesend sind. Sonderbarerweise erhält er vom Chef des Geheimdienstes ein Jobangebot, welches er nach einigem Zögern annimmt, auch weil das Gehalt ungewöhnlich hoch ist. Unterstützt wird er von Margrethe Franck, einer Mitarbeiterin des PET.

Oxen beginnt auf seine Art mit der Recherche. Obwohl er und Franck sich anfangs wenig mögen, bringt ihre Arbeit sie allmählich dazu, Vertrauen zueinander aufzubauen. Beide erhalten sich aber eine gewisse Skepsis dem anderen gegenüber. Der Fall stellt sich als zunehmend verzwickter dar. Delikte geschehen und werden verschleiert, doch die beiden geben nicht auf. Ihre Ermittlungen führen sie schließlich zu einem alten Geheimbund.

Mit Niels Oxen und Margrethe Franck hat der Autor zwei interessante Charaktere geschaffen. Nicht nur Oxen plagen Alpträume, sondern auch Franck, die zudem ein körperliches Handicap trägt. Bei Oxen hatte ich das Gefühl, dass er weiß, worauf er sich bei dem neuen Job einlässt. Anhand der Erfahrungen in der Vergangenheit als Soldat und einer kurzen Zeit als Polizeischüler versucht er mit seinem Verhalten, der jeweiligen Situation entsprechend zu handeln ohne anzuecken. Laufende brenzlige Situationen lassen sich dadurch natürlich nicht vermeiden.

Bereits der Text auf der Buchrückseite ließ mich als Leser wissen, dass Oxen von „sieben Dämonen“ heimgesucht wird. Jens Henrik Jensen zeigt mir damit eine hässliche Seite des Krieges auf. Auch mehr oder weniger unversehrte Kriegsheimkehrer haben meistens mit ihren Erinnerungen an all die Greuel zu kämpfen, die sie erlebt haben, viele ein Leben lang. Ganz nebenbei lernte ich außerdem mit dem Danehof ein Kapitel dänischer Geschichte kennen, dass mir bisher unbekannt war.

Der Autor baut den Thriller komplex auf. Es gibt mehrere Todesfälle, die miteinander verbunden werden wollen. Die Suche nach dem Motiv gestaltet sich schwierig. Für die Fallermittlungen entscheidend sind sowohl bei Oxen wie auch bei Franck Seilschaften auf die sie im Bedarfsfall zurückgreifen können. Gemeinsam ziehen sie Verbindungen die sie der Lösung über viele Umwege näher bringen. Einige mitwirkende Charaktere blieben bis zum Schluss undurchsichtig, auch der Zweifel an der Integrität der Figuren untereinander steigerte die durchgehende Spannung. Das Ganze endet in einem furiosen Finale.

Obwohl der Fall letztlich als aufgeklärt gilt, bleiben einige Dinge fragwürdig, so dass ich als Leser auf Antworten in den nächsten beiden Bänden hoffe. In verschiedenen Szenen werden Gewaltanwendungen beschrieben, das Buch ist also nichts für sensible Leser. „Oxen“ ist meiner Meinung nach zurecht ein Bestseller unter den Thrillern Dänemarks, darum erhält der Kriminalroman von mir eine Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 20.08.2017

Eine Story, die nachhallt

Die Erfindung der Flügel
0

„Die Erfindung der Flügel“ von Sue Monk Kidd erzählt aus dem Leben der Schwestern Sarah und Angelina, genannt Nina, Grimké, die sich für die Abschaffung der Sklaverei und für Frauenrechte in den Vereinigten ...

„Die Erfindung der Flügel“ von Sue Monk Kidd erzählt aus dem Leben der Schwestern Sarah und Angelina, genannt Nina, Grimké, die sich für die Abschaffung der Sklaverei und für Frauenrechte in den Vereinigten Staaten von Amerika vor ungefähr zweihundert Jahren eingesetzt haben. Das Cover ist eher schlicht gehalten. Orangefarbene Streifen auf hellem Untergrund stehen symbolisch für Gegensätze wie den von hell- und dunkelhäutigen Menschen oder Frauen und Männern.

Schwarzdrosseln, auch bekannt als Amseln, fliegen vorbei. Sie sind Teil der Familiengeschichte von Hetty, die von ihrer afrikanischen Mutter Charlotte den Namen Handful erhielt. Die Autorin erzählt ihre Geschichte parallel zu der von Sarah. Der Titel des Buchs bezieht sich auf eine afrikanische Legende nach der die Menschen einst fliegen konnten und durch die Sklaverei diese Fähigkeit verloren. Sarah und Hetty sind Menschen, die versuchen ihre Flügel wieder zu erlangen.

Sarah Grimké wohnt mit ihrer Familie zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Charleston in South Carolina und erhält zu ihrem elften Geburtstag die Sklavin Hetty für persönliche Dienste von ihren Eltern geschenkt. Hettys Mutter wohnt ebenfalls im Haus der Grimkés und ist eine begabte Näherin. Als Sarah Hetty die Freiheit schenken will, wird ihr dies verboten. Doch als kleine Genugtuung bringt sie ihr heimlich lesen und schreiben bei, bis beide dabei erwischt und bestraft werden. Sarahs großer Wunsch ist es, so wie ihr Vater Jurist zu werden, doch als Frau bleibt ihr dieser Beruf verwehrt.

Sue Monk Kidd erzählt in diesem Roman von dem streng reglementierten Leben in den Südstaaten, an das sich sowohl die aus besserem Hause kommenden Grimké-Schwestern wie auch die Sklavin Hetty zu richten hatten. Jedes Aufbegehren gegen die Herrschaft bringt Strafe für Hetty und jedes Aufbegehren gegen das für sie vorgesehene gewöhnliche Leben als Haushaltsvorstand und Mutter ebenso wie ihre Haltung gegen die Sklaverei bringt Strafe für Sarah. Ausgezeichnet mit einem hohem Einfühlungsvermögen und Sinn für Gerechtigkeit erkennt Sarah schon früh, dass die Sklaven von ihren Besitzern, darunter natürlich ihre eigene Familie, für ihre Zwecke ausgenutzt werden. Im Laufe der Zeit erkennt sie sich selbst als dem männlichen Geschlecht unterlegen und beginnt sich für die Gleichberechtigung der Frauen einzusetzen. Die Autorin schildert den langen Weg, den sowohl Sarah wie auch Nina gehen müssen um Menschen zu finden, die ihre Ideen teilen und Unterstützung zu finden beziehungsweise deren Gedanken sie aufnehmen können um sie ihrerseits zu verbreiten.

Sue Monk Kidd ist eine hervorragende Symbiose zwischen Realität und Fiktion gelungen. Dank einer ausgezeichneten Recherche vermittelt sie dem Leser die historischen Daten und füllt sie in glaubhafter Weise mit vielen detailliert geschilderten Situationen mit Leben aus. Da Sarah wie auch Hetty jeweils in der Ich-Form erzählen, gelingt es dem Leser nicht nur an der Seite der beiden Frauen die beschriebenen Ereignisse zu erleben, sondern auch deren Gedanken zu teilen. Gerade weil beide so verschieden sind und sich gegen ihre gesellschaftliche Stellung auflehnen, manchmal aber auch nachgeben müssen, bleibt der Roman abwechslungsreich. Wie bei jeder Biografie kann man natürlich nachlesen, wie das Leben von Sarah und Nina historisch verbürgt verlaufen ist, doch gerade die parallel erzählte Geschichte von Hetty bringt unerwartete Wendungen in die Erzählung. Neben den ernsten Themen entbehrt das Buch aber auch nicht freundlichere Abschnitte, wenn die Autorin über die Liebe schreibt oder das Nähen von Quilts. Gleichermaßen wird der Leser emotional berührt.

Wer diesen Roman liest, wird an eine vergessene Episode der Geschichte erinnert, die gerade uns Europäern in dieser Form kaum präsent ist. Von Sklaven, die auf Plantagen gearbeitet haben, hat fast jeder schon gehört, aber hier wird vor allem das Leben der Stadtsklaven geschildert. Die Art und Weise der Darstellung führt dazu, dass die Auseinandersetzung mit dem Abolitionismus und dem beginnenden Feminismus noch einige Zeit in den Gedanken des Lesers nachhallt. Ich kann dieses Buch allen geschichtlich Interessierten sehr empfehlen.

Veröffentlicht am 17.08.2017

Das Leben ist kein Wunschkonzert

Rimini
0

Die verschiedenen Buchteile von „Rimini“, dem Debütroman von Sonja Heiss, beziehen sich in zeitlicher Hinsicht auf Masha Armin, die eine der Protagonisten ist. Weil ihr jeweiliges Alter die Teile betitelt, ...

Die verschiedenen Buchteile von „Rimini“, dem Debütroman von Sonja Heiss, beziehen sich in zeitlicher Hinsicht auf Masha Armin, die eine der Protagonisten ist. Weil ihr jeweiliges Alter die Teile betitelt, lässt sich daran der Fortschritt der Geschichte festmachen. Der Titel des Buchs ist das Ziel der Hochzeitsreise von Mashas Eltern. Doch das ist über 40 Jahre her. Mit ihrem damaligen Aufenthalt in der italienischen Stadt verbindet Barbara, Mashas Mutter, wunderschöne Erinnerungen, die sie nicht mit ihrem Ehemann teilt und die ihr Leben lang ihr kleines Geheimnis geblieben sind.

Wie die weißen Linien auf dem grauen Hintergrund des Covers es andeuten, so ist ihr Leben wie das der weiteren Hauptfiguren nicht immer geradlinig verlaufen und auch in der Erzählung ist der Weg oft krumm. Ihre Kindheit verbindet Barbara mit starken Ängsten, von ihr wurde Gehorsam erwartet. An diese Zeit denkt sie nicht gern zurück, denn sie ist verbunden mit vielen Tränen. Die Liebe zu ihrem Mann Alexander ist erst mit der Zeit gewachsen, doch bestimmte Gemeinsamkeiten weckten in beiden den Wunsch auf ein gemeinsames Leben Seite an Seite, in guten wie in schlechten Zeiten.

Der Roman spielt in der Gegenwart und nimmt nicht nur Barbara und Alexander in den Fokus. Das Ehepaar könnte seinen Rentneralltag in Frankfurt am Main genießen, doch Barbara macht die ständige Nähe von Alexander zu schaffen. Noch mehr Sorgen haben Masha und ihr älterer Bruder Hans, obwohl die beiden eigentlich immer ihrem Ziel gefolgt und ihnen schon vieles geglückt ist. Masha ist 39 Jahre alt und wohnt in Berlin. Mit der Schauspielkarriere hapert es. Immer stärker wird der Wunsch nach einem Kind, aber sie fragt sich, ob ihre langjährige Beziehung der ideale Vater ist. Hans ist ein erfolgreicher Anwalt, verheiratet und Vater zweier Kinder. Die Familie ist gutsituiert. Aber bei Hans macht sich eine gewisse Überheblichkeit im Beruf breit, die Probleme mit sich bringt.

Bereits seit seiner Kindheit äußert Hans seinen Unmut in Wutausbrüchen, die er bis heute weder vermeiden noch verbergen kann. Überspitzt zeigt die Autorin auf, welche Konsequenzen ein antisoziales Verhalten im Beruf haben kann. Doch sie schreckt nicht davor zurück, noch einen Schritt weiter zu gehen und so durfte ich miterleben, wie Hans noch eine weitere Obsession entwickelte. Schwierigkeiten im Job führen zu finanziellen Sorgen und die wieder zu Problemen in der Ehe und Unzufriedenheit bei den Kindern.

Masha befindet sich in einer Phase, in der sie auf die Entwicklung in ihrem Leben zurückblickt und unzufrieden mit dem Erreichten ist. Ein Kind würde ihrer Zukunft nochmal eine neue Richtung geben. Aber sie sieht auch die damit verbundenen Abhängigkeiten. Auch wenn es ihr nicht bewusst ist, schreckt sie dennoch vor der Verantwortung zurück und überträgt ihre Ängste darauf, den idealen Partner zu finden. Dadurch gewinnt sie Zeit für ihre Entscheidung, von der ihr aber im fortgeschrittenen Alter nicht mehr allzu bleibt.

Alexander und Barbara tragen schwer an ihrer Kindheit. In den vielen gemeinsamen Ehejahren haben sie einander so gut kennen gelernt, dass sie die Meinung des anderen zu sämtlichen Fragen des Alltags bereits wissen, ohne darüber zu reden. Gemeinsames Schweigen ist die Folge und Wiederholungen von bereits Gesagtem, wenn es denn zu einem Gespräch kommt. Für Barbara tritt ihr Dasein in eine Dauerschleife, die sie zu durchbrechen sucht. Der genügsame Alexander sucht mit seinem männlichen Beschützerinstinkt die Nähe seiner Frau, doch dadurch wird jeder Ausbruchgedanke Barbaras sofort von ihrem Mann aufgefangen und geprüft. Auflehnung von Barbara bleibt nicht aus, das habe ich als Leser durchaus erwartet, die exzentrische Umsetzung hat mich überrascht.

Sonja Heiss erzählt über eine ganz normale Familie in ihrem ganz gewöhnlichen Alltag, erschreckenderweise hat man an einigen Stellen ein Déjà-Vu. Die Autorin beschreibt alle Unzulänglichkeiten der Charaktere detailliert und ließ mich als Leser daran unbewertet teilhaben. Ihre Charaktere muss man nicht lieb gewinnen und ihre Entscheidungen nicht alle gut heißen, um sich von ihrem Schicksal berühren zu lassen. In Nahaufnahme beleuchtet sie in feinfühliger, manchmal recht freizügiger Sprache das Für und Wider von Entscheidungen. Mit Rückblicken auf Kindheit und Jugend ihrer Protagonisten versucht sie, dem Ursprung der Sorgen auf den Grund zu gehen. An Erwachsene wird der Anspruch gestellt, dass sie ihre Gefühle im Griff haben. Doch möchte man nicht eigentlich noch ein wenig Kind bleiben, wenn damit Geborgenheit und Liebe verbunden ist? Endet Kindsein durch eigenen Beschluss oder den Tod der Eltern? Die Erzählung gibt Anregung darüber nachzudenken.

„Rimini“ ist ein Roman um Liebe und der Suche nach Anerkennung, Bewunderung und Respekt. Der Ernst des Alltäglichen wird durch Ironie, Sarkasmus und überspitzte Darstellung gemildert. Das Leben ist kein Wunschkonzert, das stellt auch Sonja Heiss entsprechend dar und weist bereits im Prolog darauf hin. Mir hat die Geschichte sehr gut gefallen und darum empfehle ich sie gerne uneingeschränkt weiter.

Veröffentlicht am 06.08.2017

Komödie mit Ruhrpott-Kolorit und Hauptstadt-Flair

Als die Omma den Huren noch Taubensuppe kochte
0

Den Titel des Debütromans von Anna Basener „Als die Omma den Huren noch Taubensuppe kochte“ kann man sinnvoll entsprechend des Lebensabschnitts der Protagonistin Änne ergänzen mit „… da war sie Wirtschafterin ...

Den Titel des Debütromans von Anna Basener „Als die Omma den Huren noch Taubensuppe kochte“ kann man sinnvoll entsprechend des Lebensabschnitts der Protagonistin Änne ergänzen mit „… da war sie Wirtschafterin im Bordell“. Später hat sie sich dann mit einer ihrer besten Freundinnen zusammengetan und eine Frühstückspension in Essen-Rellinghausen eröffnet. Eine der Leidenschaften von Omma Änne sind Zigaretten im eleganten Langformat, daher ist das Cover ähnlich einer entsprechenden Marke gestaltet mit Blumenborte am linken Rand. Der Titel ist, wie ein Warnhinweis, im unteren Drittel zu lesen.

Fünf Söhne von drei Vätern hat Omma zur Welt gebracht und Bianca, 26 Jahre alt, ist ihre Enkelin. Zum Studium wollte sie raus aus dem familiären Umkreis im Ruhrgebiet, darum ist sie nach Berlin gezogen und hat hier eine kleine Wohnung, die sie sich mit einer anderen Studentin teilt. Doch dann stirbt Mitzi, die Vertraute und Freundin von Omma, so dass diese jetzt ganz allein in ihrer Pension in Essen ist. Kurzentschlossen nimmt sie die Einladung ihrer Enkelin nach Berlin an. Wegen eines Streits wird idealerweise das Zimmer der Mitbewohnerin frei. Darum bleibt Omma Änne bei Bianca, ihre Möbel hat sie auch im Gepäck. Mancher Freund aus Essen kommt in der Folgezeit gerne zu Besuch. Und währenddessen brennt Bianca die Frage unter den Nägeln, woran die Mitzi denn eigentlich gestorben ist. In ihr keimt der Verdacht, dass sie das nicht erfahren soll und gerade darum will sie es auf jeden Fall wissen! Die Antwort lässt nicht nur Bianca staunen.

Anna Basener erzählt in ihrem Debütroman eine überaus turbulente Handlung zwischen Essener Kohlenpott und Berliner Multikulti. Die Handlung in der Gegenwart wird aus Sicht von Bianca erzählt. Sie ist eine knallharte Beobachterin, die die Dinge gerne hinterfragt, was von ihrer Omma manchmal bedauert wird, weil sie sehr hartnäckig sein kann. Als Leser konnte ich an ihren Gedankengängen teilhaben, das brachte mir mehr Nähe zu den Situationen und den einzelnen Personen. Auch beim Denken kann Bianca sich ihrer Essener Herkunft nicht ganz entledigen. Kurze Sätze, kein Blatt vorm Mund, aber immer ehrlich, auch wenn man die Ehrlichkeit manchmal zurechtbiegen muss. Die Dialoge mit Omma Änne sind im Pütt-Platt gehalten mit ganz viel typischem Akkusativ und „watt“ und „datt“. Dadurch kam das Flair des Ruhrgebiets mit nach Berlin.

Anna Basener bedient manches Klischee. Der Roman erzählt nicht nur das Leben von Biancas Großmutter, sondern auch von ihren Freundinnen, den beiden Prostituierten Mitzi und Ulla. Die Autorin schildert die Geschichten mit einem Augenzwinkern, aber durchaus realistisch denkbar. Sie befasst sich mit der Frage, was Frauen dazu veranlasst, sich für Sex bezahlen zu lassen, verschweigt aber auch mögliche Konsequenzen nicht, vor allem die Abhängigkeit von einem Zuhälter und gewaltsame Übergriffe.

Omma Änne und Bianca sind Personen, die man lieb gewinnt und denen man gerne auch ungesetzliches Verhalten verzeihen möchte. Die Handlung bleibt in ständiger Bewegung. Die große Frage, woran Mitzi gestorben ist, bringt Spannung ins Geschehen. Daneben bahnt sich auch eine Liebesgeschichte an, natürlich eher kompliziert. Anna Basener versteht es, neben Hass, Neid, Liebe und Verachtung ihrer Charaktere mit ihrem lockeren, leichten Schriftstil Witz in den Roman zu bringen. Mir hat das sehr gut gefallen. Das Buch wird verfilmt, darauf bin ich schon sehr gespannt.