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Veröffentlicht am 26.07.2023

Alle Augen sind auf dich gerichtet... wo versteckst du dich? "Go Zero"!

Going Zero
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Was heißt es in der heutigen Zeit abzutauchen? Geht das überhaupt noch? Schließlich ist heutzutage fast alles miteinander vernetzt und ein jeder hinterlässt ständig Spuren - digitale, wie reale. Und wenn ...

Was heißt es in der heutigen Zeit abzutauchen? Geht das überhaupt noch? Schließlich ist heutzutage fast alles miteinander vernetzt und ein jeder hinterlässt ständig Spuren - digitale, wie reale. Und wenn nicht das, so sind es doch unsere typischen und immer gleichen Verhaltensmuster, die uns früher oder später in die Quere kommen. In Anthony McCartens Roman "Going Zero" werden zehn vorab ausgewählte Menschen mit der Aufgabe konfrontiert zu verschwinden, sich innerhalb von zwei Stunden spurlos in Luft aufzulösen und das für ganze 30 Tage, während das Team von Fusion nach ihnen sucht. In einem groß angelegten Betatest, einem Projekt der US-Geheimdienste und dem Team um Cy Baxter, der mit WorldShare bereits Unmengen an Daten über seine Nutzer sammelte, möchte man beweisen wie schnell, einfach und sicher es möglich ist gesuchte Menschen/Täter/Verdächtige aus dem Verkehr zu ziehen. So zumindest das ursprüngliche Ziel von Fusion, die Welt und das Leben der Menschen sicherer zu machen und die Freiheit zu überwachen und gleichzeitig zu schützen.



"herzlichen Glückwunsch! Sie wurden als potenzielle Teilnehmerin am >Going Zero<-Betatest der Fusion-Initiative ausgewählt, eines Gemeinschaftsprojekts von WorldShare und der Bundesregierung. Der >Going Zero<-Betatest beginnt offiziell am 1.Mai um 12 Uhr mittags. Dann erhalten Sie und die neun anderen per Losverfahren ermittelten Kandidat:innen unter der von Ihnen bei Ihrer Bewerbung hinterlegten Nummer eine Textnachricht mit der Anweisung >Go Zero!<.

Um 2 Uhr nachmittags desselben Tages werden Ihr Name, Ihr Foto und Ihre Adresse der Taskforce der Fusion-Initiative in er Fusion-Zentrale in Washington D.C. übermittelt."



Und damit beginnt für die zehn sogenannten Zeros das Katz-und-Maus-Spiel, bei dem für die Sieger drei Millionen Dollar Preisgeld winken bzw. ein sehr lukrativer Deal zwischen Fusion und der CIA bei dem es um viel mehr als um Sicherheit und Daten geht. Kaitlyn Day, eine fast 33 Jahre alte Bibliothekarin aus Boston ist eine von ihnen und fällt im Vergleich mit den anderen Teilnehmer
innen, die viel mehr Ahnung von Technik, Sicherheitsmechanismen und Co haben, aus dem Rahmen und in Cys Visier. Doch sie stellt sich geschickter an als erwartet, legt gezielt Hinweise, verstellt sich und ihren Gang um ja nicht von Überwachungskameras entlarvt zu werden. Und während die neun anderen 'Experten' einer nach dem anderen gefunden werden, ist es am Ende nur noch Kaitlyn, die sie alle an der Nase herumführt und zielgerichtet durchs Land irrt.



“Fast in Kanada angekommen, wird sie sich vorstellen, dass sie das Preisgeld schon in der Tasche hat, eine reiche Frau ist. Und das trotz ihrer gesundheitlichen Probleme. Die Kandidatin, die theoretisch als erste hätte geschnappt werden müssen. Da sieht man es wieder mal. Wie der erste Eindruck täuschen kann!”



Vielleicht sogar noch der zweite oder dritte Eindruck, denn was die Detektive bis dahin noch nicht wissen, es geht Kaitlyn um viel mehr als um das Preisgeld. Sie braucht ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.



Was für eine aufregende Geschichte und Verfolgungsjagd. Und das so ganz ohne einen rätselhaften Mordfall mit grausig verstümmelter Leiche im Keller. Anthony McCarten hat mit "Going Zero" einen topaktuellen und unheimlich klugen Roman erschaffen, der nicht nur zeigt, wie leichtfertig wir häufig mit unseren Daten umgehen und wie gläsern wir werden, sobald wir uns sicher fühlen oder unser Umfeld regelmäßig technische Geräte nutzt, sondern auch wie verrückt und aufwändig es ist, sich in einer hochtechnologischen Welt der Überwachung zu entziehen, während auf der anderen Seite des Bildschirms Menschen sitzen, die immer mehr Daten gewinnen wollen um damit Macht auszuüben. Und so bin ich dann durch die Seiten geflogen, habe mit Kaitlyn Day bis zum bitteren Ende gefiebert, war häufig überrascht über die plötzlichen Wendungen, ihr Entkommen bei den unzähligen Beinahzugriffen und ihr großes Ziel.

McCarten spielt hier sehr eindrucksvoll mit dem "uralten Dilemma von Recht und Unrecht, dem Gemeinwohl, Freiheit des Einzelnen kontra Sicherheit des Ganzen" und natürlich auch der Macht der Überwachung, die teilweise in einigen Ländern schon heute so möglich ist, wenn nicht sogar ausgeübt wird. Und das fand ich, obwohl ich schon recht vorsichtig bin, was meine Daten angeht, teilweise doch sehr erschreckend. Vielleicht ist dieses Buch daher auch so ein bisschen Augen öffnend und sensibilisierend im Umgang mit den eigenen Daten und lässt natürlich sehr lange darüber nachdenken, wie man wohl selbst dieses Versteckspiel angehen würde. Ohne nun mehr über den Handlungshergang zu verraten, für mich war es ein sehr tolles Leseerlebnis, die letzten Wendungen am Ende waren ein wenig drüber, aber das sei im ganzen Rausch von Spannung, Aufatmen und Mitfiebern voll und ganz verziehen. Ein überraschender Lesetipp für alle technikaffinen Menschen und Spannungsliebhaber*innen, die auch mal ohne Gemetzel auskommen.

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Veröffentlicht am 15.06.2023

Über das Schreiben, das Leben, die Veränderung...

Wir hätten uns alles gesagt
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An dieser Stelle könnte ich mich kurz fassen, denn seit dem ich Judith Hermann bei einer Lesung zu ihrem Roman "Daheim" erlebt habe, bin ich ein großer Fan. Einige Gedanken über das Schreiben und sie als ...

An dieser Stelle könnte ich mich kurz fassen, denn seit dem ich Judith Hermann bei einer Lesung zu ihrem Roman "Daheim" erlebt habe, bin ich ein großer Fan. Einige Gedanken über das Schreiben und sie als Person begleiten mich seit dem und haben mir einen anderen Blick auf Literatur gegeben. Und so ist "Wir hätten uns alles gesagt" für mich mal wieder ein ganz besonderes Buch. In ihm habe ich sehr viel von dem, was sie damals schon berichtete, wiedergefunden. Hermann erzählt teilweise sehr persönlich von ihrem Schreiben, Leben und ihren Romanen. Ich würde gar sagen, dass dieses Buch eine Art Klammer um ihre literarische Arbeit bildet und uns Leser*innen mit durch die Zeit nimmt, animiert noch einmal "Lettipark", "Sommerhaus, später", "Aller Liebe Anfang", "Alice", "Nichts als Gespenster", sowie "Daheim" aus dem Regal zu ziehen, darin zu blättern und teilweise einzelne Passagen mit einem ganz anderen Blick zu entdecken. "Ich kann leichter über dieses und jenes schreiben, wenn es zu Ende gegangen ist, wenn ich weiß, dass es zu Ende gehen wird. [...] In >Sommerhaus, später< habe ich geschrieben, Glück sei immer der Moment davor. Heute würde ich schreiben, Glück ist immer der Moment danach - der Moment, in dem du das vermeintliche Glück überstanden hast [...]Glück als solches erkannt und wieder verloren, losgelassen und verworfen hast. Das [...] ist es, wohin ich schreibend gelangt bin, und sicher meint das, ob davor oder danach, letztlich schlicht ein und dasselbe." Mit der Zeit ändert sich vieles, nicht nur der Umgang mit dem Leben, auch die Gedanken werden größer und tiefer, so entwickeln sich auch Hermanns Ansichten über Freundschaft, Freiheit, den Möglichkeiten des Schreibens und vielleicht sogar der Selbstverwirklichung. Ihre Beziehung zu ihrer Familie, einer früheren Freundin Ada und Dr. Dreehüs, dem Analytiker, spielen hier eine große Rolle, ähnlich weitere Begegnungen und Situationen, in denen sie gewachsen und vorangekommen ist, die vielleicht. sogar ihr Leben geprägt haben. Es ist ein sehr ehrliches Buch und doch hält sie nach wie vor eine gewisse Magie das Ungewissen aufrecht, ein Zauber, der mich mal wieder sehr fasziniert und neugierig machte und ich hoffe, dass dieses Buch nicht das letzte ist, das aus ihrer Feder stammt.

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Veröffentlicht am 13.06.2023

ein wilder Ritt durch ein halbes Jahrhundert der Geschichte voller Leid, Hoffnung und Liebe

Morgen und für immer
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Ich muss gestehen, optisch sieht der Roman "Morgen und für immer" von Ermal Meta (n der Übersetzung von Peter Klöss) etwas harmlos und nach einer eher leichten Erzählung rund um eine geheimnisvolle Suche ...

Ich muss gestehen, optisch sieht der Roman "Morgen und für immer" von Ermal Meta (n der Übersetzung von Peter Klöss) etwas harmlos und nach einer eher leichten Erzählung rund um eine geheimnisvolle Suche oder nach einer dörflichen Familiengeschichte aus, aber hinter den Brombeeren steckt einer der tollsten und bewegendsten Romane, die ich seit langem gelesen habe. #Brilkavibes sage ich da nur. Diese fulminante Geschichte, die teilweise einem nervenaufreibenden Kriminalroman gleicht, viel über die düstere Geschichte Albaniens und die kommunistisch geprägten Länder erzählt und mit Kajan einen so faszinierenden Charakter und Protagonisten gefunden hat, hat eine so unglaubliche Sogwirkung entwickelt, dass ich nur in großen Liebeshymnen darüber sprechen mag. Es ist ein reines Auf und Ab aus Liebe, Musik und Verzicht, Finden und Glück, aber auch Pech, Verlust und Verrat, mal ganz nah und emotional, mal düster, erschütternd und gewaltig, so wie im Laufe der Zeit durch Krieg, Unterwerfung, Politik und Umbrüche das Schicksal und Leben vieler Menschen komplett auf den Kopf gestellt wurde.


“Der Krieg entsteht zuerst in einigen wenigen Köpfen, dann in vielen Köpfen, von den Köpfen wandert er in die Hände und Beine und von dort in die Augen. Und dort, in den Augen, bleibt er, auch nachdem er vorbei ist. Halte dich vom Krieg fern, Kajan, sieh nie hin, der Krieg ist furchtbar. Ich weiß, wovon ich rede.”


Diese Geschichte beginnt 1943 in Rragam einem kleinen Bergdorf in Albanien. Kajan und sein Großvater sprechen über den Krieg, der draußen um sie herum herrscht. Seit dem Kajans Eltern sich der Verteidigung gegenüber den deutschen Besatzern verschrieben haben, kümmert sich Betim auf dem eher abgelegenen Hof um seinen Enkel. Aber die traute Zweisamkeit soll nicht von langer Dauer sein. Eines Tages taucht ein von oben bis unten mit Dreck besudelter deutscher Soldat auf dem Gelände auf. Sie fürchten ihn. Doch dieser möchte sie ganz und gar nicht bedrohen oder angreifen, er ist selbst auf der Flucht und sucht nach Schutz, verabscheut er doch seit seinem Einzug und dem Tod seiner Liebsten alles, was auch nur im entferntesten mit Gewalt zutun hat. Nach anfänglicher Skepsis findet Betim in ihm eine Art Sohn, sie überwinden die Sprachgrenzen, bewirtschaften gemeinsam den Hof und auch Kajan lernt neben Deutsch von ihm etwas, das ihn noch sein ganzes Leben über begleiten wird... das Klavierspielen.


Albanien entwickelte sich nach dem Befreiungskrieg zu einem kommunistisch geprägten Regime, dessen Dogmen und harten Regeln sich alle bedingungslos unterzuordnen haben. Während Kajans Mutter sehr linientreu ist und einen sehr wichtigen Posten innerhalb der Partei, sowie des Staatsapparats übernimmt und perfekt in diese Rolle hineinwächst, rebellieren ausgerechnet seine Cousins mit geheimen Untergrundaktionen und bringen sich und ihre Familie in die Schusslinie. Und auch Kajan wird sich im Laufe der Zeit mehrfach gegen die Regierung auflehnen. Als mittlerweile berühmter Pianist und Aushängeschild Albaniens beschreitet er einen sehr schmalen Grat, sind es doch gerade die Künstler, die mittlerweile von vielen Regimen der Welt sehr kritisch beäugt und als Freidenker und somit auch als Gefahr angesehen werden. Schon seine Liebe zu Elizabeta, der Tochter eines Verräters und Regimekritikers, sorgte daheim für Gerede und stieß seiner Mutter negativ auf. Und während eines Besuchs in der DDR bringen ihn ausgerechnet sein sächselndes Deutsch und seine Neugier in eine sehr missliche Lage. Fast schon zufällig kommt es zur Flucht über die innerdeutsche Grenze nach Westberlin und letztendlich in die USA. Hier versucht Kajan sich erneut ein Leben als Musiker aufzubauen, doch die Erinnerungen und Gedanken an Elizabeta, seine Familie und alles Geschehene lassen ihn nie mehr los. Er versucht die Stimmen in seinem Kopf mit Alkohol zu ertränken, das Trauma irgendwie abzuschütteln, doch auch das ist ein steter Kampf mit dem Feuer. Und dann schreitet ausgerechnet das Schicksal wieder ein und bringt ihn an einen Ort, an dem er nicht nur Vergebung sucht, sondern auch etwas findet, das er schon lange als verloren glaubte.


“Er wusste weder, wie er zurückgehen sollte, ohne das schreckliche Schicksal der Verräter zu erleiden, noch, wie er weitermachen sollte, ohne das Schicksal der Unsichtbaren zu erleiden. Er wusste nicht, wann er Kajan Dervishi Lebewohl sagen musste, aber wenn er auf die Ereignisse der letzten Wochen zurückblickte, war ihm klar, dass von dem alten Kajan sowieso nicht mehr viel übrig war. [...] Immerhin bot sich ihm ein neues Leben, doch er wusste, dass für diese Chance Tausende Kilometer entfernt der einzige Mensch, den er noch auf der Welt hatte, schrecklich würde bezahlen müssen.”


Es ist nicht so einfach diesen Roman in ein paar Sätzen zusammenzufassen, passiert neben diesem Grundgerüst doch noch so viel mehr. Sehr viel dramatisches. Es ist eine epische Saga über die Liebe, aber auch die Geschichte einer Familie, die nicht nur durch die politischen Ansichten und den Krieg gespalten, sondern auf allen Seiten sehr viel Leid, Verluste und Trauer erfahren muss. Es ist die Geschichte eines Landes voller Umbrüche, ein Leben voller Schwierigkeiten. Die Macht der Musik und Passion spielt eine große Rolle, ebenso wie das Schicksal selbst. Fast schon krimiartig kommt es an einigen Stellen zu Verfolgungsjagden; dem Nachspüren von Geheimnissen. Dieser Roman entwickelt sich ganz schnell zu einem vollgepackten Pageturner, der voller Emotionen und mit wenig Anlauf Länder- und Genregrenzen überspringt und von so einem beeindruckenden Leben erzählt, dass es nur fiktiv und auf die Spitze getrieben sein kann. Oder etwa nicht? Ermal Meta bekam diese unglaubliche Geschichte von seinen Verwandten erzählt, einzelne Bilder, der frühe Tod der Großmutter oder die gebrochenen Schienbeine des Onkels zeugen noch heute von der Brutalität der Vergangenheit, die dunklen Straßen seines Heimatorts von dem Wunsch junger Menschen das Land zu verlassen, Ermal Metas eigene Beziehung zur Musik und insbesondere zum Klavier von der Grenzen überschreitenden klassischen Musik und von Kajan. "Ich begegnete Kajan in meiner Vergangenheit und in meiner Zukunft. Ich begegnete ihm in einem Brombeerhain, wo er seine Angst gegen Mut eintauschte. Ich fand ihn jedes Mal in mir wenn ich fiel. Ich hörte eine Stimme sagen: >Es gibt noch einen Traum zu träumen.< Ich bin ihm begegnet, aber er hat mich erkannt."
Für mich eine große Entdeckung, eine überraschend große und mitreißende Geschichte, die man erstmal angelesen, nicht mehr verlassen kann und irgendwie noch so viel mehr... "Morgen und für immer".

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Veröffentlicht am 14.05.2023

Heidi Furres eindringlicher Roman über die Auswirkungen einer Vergewaltigung

Macht
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Man möchte es sich eigentlich gar nicht vorstellen müssen, was eine Vergewaltigung mit dem eigenen Leben macht, wie eine fremdbestimmte Tat plötzlich das ganze Leben prägt und beeinflusst und doch ist ...

Man möchte es sich eigentlich gar nicht vorstellen müssen, was eine Vergewaltigung mit dem eigenen Leben macht, wie eine fremdbestimmte Tat plötzlich das ganze Leben prägt und beeinflusst und doch ist es ein Fakt, dass allein in Norwegen jede 10. Frau Opfer einer Vergewaltigung ist/wird. Jede Zehnte. Und wenn man das hochrechnet, auf andere Länder überträgt, in denen es vielleicht sogar noch schlimmer ist und die Dunkelziffer immens, bleiben einem fast schon die Worte im Hals stecken. Schon der Gedanke daran betrübt und lähmt mich, und gefühlt könnte ich dazu wirklich nichts sinnvolles beitragen, noch schlaues sagen. Umso glücklicher bin ich, dass es dann so Bücher wie "Macht" von Heidi Furre [aus dem Norwegischen von Karoline Hippe] gibt. In ihm erfahren die Leserinnen sehr eindrucksvoll und intensiv, wie es ist mit diesem Trauma zu leben, gar zu überleben und mit welchen Gedanken und Triggern sich Betroffene ständig auseinandersetzen müssen.


“Meine Mauer besteht nicht nur aus Tabletten. Sie besteht aus Ritualen und Regeln. Meine Klamotten sind ein Panzer. Wie bei Kindern, die sich als Piraten, Prinzessinnen und Feuerwehrleute verkleiden. Sie verkleiden sich um keine Kinder mehr zu sein, so wie ich mich verkleide, um keine Vergewaltigte mehr zu sein. Ich bügle meine Blusen und reinige meine Haut. Das ist mein Überlebensmodus. Der Körper weiß, was passiert ist, und kann es nicht verbergen. Man kann es mir ansehen. Und ich sehe es anderen an.”


Auf den ersten Blick scheint Liv ein gutes Leben zu führen. Sie lebt gemeinsam mit ihrem Mann Terje und ihren Kindern Rosa und Johannes in einem Einfamilienhaus in Oslo, wirkt gut situiert, achtet auf sich und ihr Erscheinungsbild. Sie arbeitet in einem Pflegeheim und kümmert sich dort hauptsächlich um die jüngeren, kranken Patienten. Und das scheint sie wirklich gut im Griff zu haben, aber eben nur äußerlich. Innerlich ist nichts mehr wie es einmal war. Seit dieser einen Nacht versucht sie den Schein aufrecht zu halten und doch bricht es immer wieder aus ihr heraus. Sie hat versucht die Erinnerungen wegzusperren, sich zu betäuben, auszuweichen, gar mit Rachegedanken gespielt und doch egal was sie tut, muss sie es nach wie vor aushalten in der Hoffnung irgendwann einen Weg zu finden damit umzugehen. Vielleicht würde sie es sogar schaffen, doch als der Bruder einer Patientin, der vor Jahren wegen einer Vergewaltigung angeklagt wurde, ihr über den Weg läuft, steht sie plötzlich noch einmal vor einer ganz anderen Herausforderung... "Macht" zeigt sehr eindrucksvoll ihren Weg oder besser gesagt ihren Versuch der Ermächtigung, ihren Kampf mit ihrem neuen, alten Leben und legt eine ungeahnte Stärke frei, die doch viel zu häufig von Außenstehenden als Schwäche abgetan wird.

"Er ist so unbedeutend. Er ist nur diese eine Nacht. So, wie auch ich für ihn unbedeutend war. Das ist die einzige Rache, die mir bleibt. Er hat mich zum Objekt gemacht, also mache ich ihn zum Objekt. Zu einem Verbrecher und einem Kriminellen. Er ist entmenschlicht. Wenn ich an diese Nacht denke, dann meistens, ohne an ihn zu denken. Er ist ein graues Loch, das jemand in meine Erinnerung geschnitten hat."


Dieses Buch finde ich so wahnsinnig beeindruckend. Ich könnte beinahe das ganze Buch zitieren und würde noch immer weitere Gedanken darin finden. Heidi Furre hat teilweise sehr poetisch, aber auch sehr eindringlich beschrieben, wie das Leben sich durch eine Vergewaltigung, auch wenn man selbst an Einzelheiten zweifelt, verändert, wie Gegenden, Gegenstände und Gerüche... plötzlich einen viel größeren, bedeutsameren und betäubenderen Einfluss erhalten. Und obwohl ich recht häufig Romane mit Traumatabezug lese, so fand ich diesen Roman nochmal viel intensiver, umfangreicher und um einiges Augen öffnender. Zwar konnte ich mir bereits vorstellen, wie einem Menschen durch so eine Tat plötzlich die Sicherheit geraubt wird, wie er
sie versucht sich zu schützen und in ein großes Loch stürzt, gar verschwinden möchte, doch gerade so Aussagen wie: "Du glaubst vielleicht, ich sei ein kaputter Mensch. Dass ich hier einfach rumliege und eine Vergewaltigte bin. Aber das bin ich nicht. Ich bin alles andere. Das Leben bleibt für Vergewaltigte nicht stehen." oder "Wenn du sagst, du bist vergewaltigt worden, dann bist du das in den Augen der anderen auch. Und wenn du es nicht sagst, dann stehst du ganz alleine da. Es ist eine Falle." enthalten so Gedanken, die viel größeres bedeuten (wollen). Für Liv ist es ein ständiger Kampf der Opferrolle zu entkommen, sich selbst wieder zu ermächtigen und sich als starke Frau sehen und fühlen zu können. Doch seit dieser Nacht fühlt sie sich wie ein Kind, das ständig eine Rolle spielen muss, unsicher durchs Leben geht und selbst an einfachen Situationen, wie einem Zahnarztbesuch fast scheitert. Und gerade diese ganzen Ausprägungen sind einem als Außenstehenden nie wirklich präsent. Ein Stück Wald, ein unbeleuchteter Tunnel, ein plötzlich auftauchender Duft, eine unbedachte Handlung eines anderen... alles kann das mühevoll zugeschüttete Loch wieder aufreißen und das beinahe tagtäglich, wenn nicht sogar noch viel häufiger.
Dieses Buch sensibilisiert und macht verständlich wie es ist mit einem Trauma leben zu müssen, für das eigene Leben zu kämpfen, während es für andere unbedeutend erscheint. Und eine jeder sucht sich andere Ausflüchte, wird anders getroffen, muss sich anderen Dämonen stellen. Es ist ein wichtiges Buch um vielleicht auch toleranter und verständnisvoller mit und für Menschen zu werden. Sicherlich kein Allerheilmittel und dennoch macht dieser Roman was mit einem, ich glaube zumindest, ich habe zum ersten Mal ein (fremdes/anderes) Trauma so wirklich gefühlt und verstanden.


“Manchmal ist es schlimmer zu sagen, ich bin vergewaltigt worden, als tatsächlich vergewaltigt zu werden. Als würde man eine Todesnachricht überbringen. Man muss dabei zusehen, wie die anderen mit Abscheu reagieren. Für sie ist die Abscheu nur ein vorübergehendes Gefühl, etwas das sie ablegen können. Aber in mir hat sie einen festen Platz, wie ein inneres Organ.”

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Veröffentlicht am 14.05.2023

ein großer Roman über Väter und Söhne, den Aufstieg und Fall einer Familie und den Blick auf die deutsche Geschichte

Saubere Zeiten
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Hin und wieder liebe ich es mich in Form von Romanen und Filmen durch die deutsche Geschichte zu bewegen. Gerade die Zeit des Zweiten Weltkriegs, sowie die folgenden Neuausrichtungen des Landes finde ich ...

Hin und wieder liebe ich es mich in Form von Romanen und Filmen durch die deutsche Geschichte zu bewegen. Gerade die Zeit des Zweiten Weltkriegs, sowie die folgenden Neuausrichtungen des Landes finde ich unglaublich faszinierend und sehe in ihnen den Ausgangspunkt zahlreicher tragischer, aber auch schöner Familiengeschichten. Ein Buch, das mir in der letzten Zeit einiges abverlangt, aber auch sehr viel Begeisterung entlockt hat, ist "Saubere Zeiten" von Andreas Wunn. Grob gesagt durchstreift er dabei die Geschichte einer Familie über drei Generationen - von den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs und der resultierenden Sprachlosigkeit, eingebrannten Erinnerungen, sowie dem Aufstieg und Fall zu Wirtschaftswunder-Zeiten und deren Prägungen und Folgen, auch für heutige Generationen.

Ein einziger Anruf sollte Jakob aus seinem journalistischen Alltag reißen. Sein Vater Hans wurde infolge eines Schlaganfalls ins Krankenhaus eingewiesen, doch trotz stabilen Zustands, sieht es schlecht um ihn aus. Jakob hatte nun schon seit einigen Monaten keinen Kontakt mehr zu ihm und sich geschworen, ihm bis auf weiteres aus dem Weg zu gehen, doch dies ändert nun alles. Er reist sofort an um bei seinem Vater zu sein, doch statt noch einmal mit ihm sprechen zu können und für ihn da zu sein, bleibt ihm nur noch der Abschied. Der Arzt drückt ihm nach einem kurzen Gespräch einen letzten Brief des Vaters in die Hand oder besser gesagt einen Zettel mit zwei kraftlos geschriebenen Worten: Drempel und Kiste. Und damit beginnt für Jakob eine Spurensuche, die ihm einiges erklären soll und wird, aber auch ein ganz neues Licht auf die Vergangenheit seiner Familie wirft. Sein Großvater Theodor, hatte einst sehr bescheiden als kleiner Drogist angefangen, bis er in den 50er Jahren durch die Erfindung das Waschpulvers ein sehr gefeierter Mann wurde. "Auber macht sauber", ein Slogan den bis heute nahezu jeder im Roman kennt und der der Familie sehr viel Vermögen einbrachte. Aber Aufstieg und Fall lagen nah beieinander, schon nach einigen Jahren verloren sie alles.

"...mein Vater ist wirklich sehr reich aufgewachsen. Sie haben in einer Villa gewohnt, er wurde mit dem Chauffeur zur Schule gefahren und so weiter. [...] Er war im Internat, und plötzlich war das Geld weg. Alles. Auch die Häuser, die auf den Namen meiner Großmutter eingetragen waren. Ich denke, mein Großvater hat sich verhoben. Er wollte Auber in Frankreich einführen. Hat investiert. Hat die Konkurrenz unterschätzt. Die Konkurrenz war plötzlich stärker, warum auch immer. Und er ging pleite, kam nie wieder auf einen grünen Zweig."

Mit den Tagebüchern des Großvaters und Tonbandaufnahmen des Vaters, sowie zahlreichen Fotos versucht Jakob nun der Geschichte seiner Familie nahe zu kommen und Lücken zu füllen - haben doch die Sprachlosigkeit des Großvaters, unter der schon Hans litt, die Schuld und die Unnahbarkeit seine Familie über Generationen hin sehr geprägt. Er findet in einzelnen Aufzeichnungen Hinweise, die ihn bis nach Rio de Janeiro führen und ausgerechnet hier, trifft Jakob die über 90 Jahre alte Bella Oliveira das Pedras, die ihm nicht nur einiges erklären kann, sondern auch eine Verbindung zu seiner Familie und Deutschland hat. Sie ist die Tochter des jüdischen Besitzers der einstigen Drogerie, in dem sein Großvater seine Lehre begann und damit das letzte fehlende Puzzleteil hinter dem Aufstieg und Fall des Familienimperiums Auber.


Ich weiß gar nicht, wie und wo ich beginnen soll, denn "Saubere Zeiten" von Andreas Wunn hat in mir sehr viel ausgelöst, sind die behandelten Themen doch irgendwie jedem bekannt und in jeder Familie still oder nach wie vor offensichtlich verankert. Die Zeit des Zweiten Weltkriegs hat nicht nur für sehr viel Leid und tragische Familiengeschichten gesorgt, sondern auch eine Wunde geschaffen, über die in den meisten Familien, selbst bis heute, kaum jemand so wirklich sprechen mag. Das Trauma des Krieges, des Fanatismus, der Auslöschung und Tötung, sowie des Verlustes ist nach wie vor etwas, das von den älteren Generationen, eben jenen, die es miterleben mussten, oftmals totgeschwiegen und die Vergangenheit wie durch eine hohe Mauer von allem ferngehalten und abgeschirmt wird - vielleicht weil das Geschehene so unglaublich schmerzhaft ist oder aber weil es schwer ist, ehrlich gegenüber sich selbst zu sein. Heutzutage verurteilt fast jede
r den Krieg, aber auf welcher Seite stand man damals wirklich? War man von allem überzeugt oder ein Mitläufer? Wusste man vielleicht sogar mehr, als man zugibt? Hat man früher überhaupt etwas hinterfragt? Sich irgendwie für die Unschuldigen eingesetzt? Oder hat man selbst durch die Enteignung vieler jüdischer Familien Gewinne und Wohlstand erzielt?
Wunns Protagonist bzw. Jakob Aubers Großvater Theodor wurde so plötzlich zum Drogeriebesitzer mit allem was dazugehörte. Dass er dennoch sein Vermögen und Ansehen der Erfindung des Waschpulvers zu verdanken hatte, war dabei irgendwie nur zweitrangig und der spätere Verlust seines Reichtums vielleicht sogar die beste Fortsetzung? Zumindest fragte ich mich während des Lesens häufig, wie wohl alles gekommen wäre, hätte es den Krieg nicht gegeben, hätte es den Judenhass nicht gegeben und wie man mit diesem gewonnenen Vermögen fragwürdigen Ursprunges heute umgehen könnte? Und wie hätte sich wohl die Welt entwickelt, wäre das alles nie passiert? Wären wir heute als Familien vielleicht sogar offener und toleranter?

"Theodor Auber erzählte seiner Familie nie von dem, was er im Krieg erlebt hatte. Seine Frau und sein Sohn fragten nicht. Es wurde nicht darüber gesprochen. Er hatte Alpträume, das schon. Wenn er nachts aufwachte, hielt ihn seine Frau, meine Großmutter, im Arm. Aber sie fragte ihn nichts. Sie bemerkte, dass er Angst vor Regen hatte. Dass er sich in der Wanne mit dem Waschlappen die Haut wund schrubbte. Er sagte ihr nicht, dass er den Geruch von kaltem Schlamm nicht aus der Nase bekam. Das schrieb er aber in sein Tagebuch."

Ein weiteres großes Thema, das mir gerade zum Ende hin zu schaffen machte, war die Einsamkeit. Jakob pflegte schon lange keinen Kontakt mehr zu seinem Vater und dieser starb mehr oder minder einsam im Krankenhaus. Was er so genau in den letzten Jahren getan hat und wie er sein Rentenalter verbracht hat, bleibt anscheinend sein Geheimnis, so wie vieles andere auch. Von seinem Besitz und seinen aufbewahrten Erinnerungen, bleibt am Ende gerade mal ein Koffer übrig. Jakobs Vater suchte sich die Tonbänder, das 'Zimmer der Erinnerungen' als eine Art Ausweg um sich noch einmal alles von der Seele zu reden und so seinem Sohn vieles zu erklären und nahbarer zu machen, doch irgendwie ist es dann auch schon zu spät. "Ich war elf Jahre alt, als mein Großvater starb. Ich war einunddreißig, als meine Großmutter starb. Ich war vierundvierzig, als mein Vater starb. Warum habe ich mit ihnen so wenig über die Vergangenheit gesprochen?" fragt sich Wunn in den Anmerkungen. Man merkt diesem Buch stark an, dass ihn diese Frage sehr intensiv beschäftigt hat. Und ja, auch ich könnte mich das fragen. Du wahrscheinlich auch.
Wunn zeigt in diesem Roman wirklich sehr eindrucksvoll aus verschiedenen Blickwinkeln und Generationen einer Familie, was geschehen kann, wenn man nichts fragt bzw. Fragen nicht beantwortet werden und wie eine Familie durch die Sprachlosigkeit, die Geschichte und den Tod auseinanderfällt. Jakob fällt es schwer Liebe und Nähe zuzulassen, sich selbst wahrzunehmen und in sich reinzuhören. Und so kriselt es in seiner Ehe aus ähnlichen Gründen, wie bereits in den vorherigen Generationen. Am Ende macht er sich allein auf den Weg, um dem Geheimnis seiner Familie näher zu kommen, um die 90 -jährige Bella, Tochter des ehemaligen jüdischen Drogeriebesitzers, ausfindig zu machen und endlich Antworten auf Fragen zu finden... aber auch das hätte schon viel früher geschehen können.

"Alles, was wir tun, und alles, was wir sehen, und alles, was wir hören, ist in unserem Körper. Das Leid und die Freude. Die Liebe und das Glück. Und auch das Grauen. Es ist alles in uns drin. Es bleibt alles in uns drin. Und wir müssen lernen, damit umzugehen. Und auch mal was rauszulassen."

Auch wenn die Ausgangssituation eines sterbenden Verwandten und unausgesprochene Geheimnisse, die mit dem Verlust ans Tageslicht kommen nicht sonderlich neu ist, hat Wunn hier eine Geschichte erschaffen, die sehr intensiv daherkommt. Wunn beteuert zwar in seiner Anmerkung, dass diese Geschichte bis auf einzelne Fakten, die seinen Großvater und die Erfindung des Waschmittels betreffen, rein fiktiv ist und dennoch bleibt er seiner journalistischen Rolle treu, nimmt die Leser*innen mittels Jakobs Recherche, Tonbandaufnahmen und Tagebucheinträgen mit auf eine sehr nahbare Entdeckungsreise durch die Familiengeschichte der Aubers und erschafft damit den Eindruck, als könnte es wirklich seine eigene Spurensuche gewesen sein. Einzig die sehr detaillierten Ausschmückungen und Handlungen ließen mich anfangs nicht immer an das Nacherzählen dieser Aufnahmen glauben, aber ohne diesen Gedanken hat mich die Handlung wirklich gepackt. Es handelt sich bei "Saubere Zeiten" um einen großen, einnehmenden Roman über eine Familie, die in Zeiten des deutschen Wirtschaftswunders Aufstieg und Fall erlebt, mit vielen Verlusten umgehen, 'Sprachlosigkeit vererbte' und so einiges ertragen musste. Für mich ein ganz besonderes Buch, ein Stück weit deutsche Historie und eine sehr mitreißende Vater-Sohn-Geschichte. Ich könnte nun noch viel mehr erzählen, aber ihr sollt es ja schließlich noch lesen... Eine große Leseempfehlung!

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