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Veröffentlicht am 30.07.2023

Es macht mich sprachlos. Ich möchte schreien.

Frauen und Macht
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Es hat schon in der Antike begonnen. Mary Beard beleuchtet das kulturelle Stummhalten der weiblichen Stimme, das bereits in Zeiten begann, als Cicero, Arestoteles & Co. brillierten, als man eine Frau nur ...

Es hat schon in der Antike begonnen. Mary Beard beleuchtet das kulturelle Stummhalten der weiblichen Stimme, das bereits in Zeiten begann, als Cicero, Arestoteles & Co. brillierten, als man eine Frau nur dann schätzte, wenn sie den Mund hielt. Das Recht, öffentlich zu sprechen, dies war den Männern vorbehalten. Frauen durften höchstens ihre eigenen Belange öffentlich kommunizieren und verkünden wie schwach sie seien, aber dass sie für die Gemeinheit sprachen (also Männer einbeziehend) war eine Anmaßung. Anhand von Drama und Prosa der Antike sowie Gemälden, die im Laufe der Jahrhunderte entstanden sind, zeigt sie auf wie systematisch Frauen untersagt wird ihr Wort in der Gesellschaft zu erheben.
Dieselben rhetorischen Mittel, die in der Antike ihren Ursprung fanden, werden heute noch verwendet, und mit der Überlieferung dieser Mittel geht auch weiterhin das systematische Stummhalten der Frau einher. Frauen, die ein öffentliches Rederecht beanspruchen, gelten selbst heute noch zu oft als verrückte Mannsweiber, die ihren Platz im Leben scheinbar nicht kennen.
Ganz so krass und offensichtlich, wie z.B. zu Zeiten vor dem Wahlrecht der Frau, läuft es heutzutage nicht mehr ab, Frauen öffentlich den Mund zu verbieten, und doch werden auch in unserer vermeintlich modernen Zeit Frauen nach wie vor derart diffamiert, dass ihren Worten jegliche Autorität und Kraft abgesprochen wird und das, was sie zu sagen haben, somit trivialisiert. Eine aktive Partizipation in höheren Positionen zu bekleiden wie Unternehmensvorständen, Politik und Männerdomänen wie Sport müssen Frauen noch immer zu hart erkämpfen. Dies zeigt sich insbesondere dann, wenn Frauen in "männliche" Territorien vordringen wie Claudia Neumann, Deutschlands erste Fußballkommentatorin (nahegelegt sei hier ihr Buch "Hat die überhaupt ne Erlaubnis, sich außerhalb der Küche aufzuhalten?"), denen keine Meinungsverschiedenheit sondern Dummheit attestiert wird, sobald eine andere Ansicht als die eigene männliche geäußert wird.
Es gibt kulturelle Muster, die Frauen von Machtpositionen fernhalten wollen, und wir befinden uns noch auf einer Stufe, auf der Frauen nicht für das akzeptiert werden, was sie sind, sondern sie sich einen Hosenanzug anziehen müssen, um in der Politik ernstgenommen zu werden.

Diese Zusammenfassung der mündlichen Vorträge von Mary Beard sind als eine harte kulturelle Wahrheit zunächst heftig zu lesen, wenn jedoch die geschilderten Machtstrukturen ins Bewusstsein dringen, ist es noch heftiger zu begreifen, dass unsere Gesellschaft ganz offensichtlich noch heute an bewussten wie unbewussten patriarchalen Strukturen festhält.
Da ich in letzter Zeit vermehrt feministische Bücher lese, ist es unglaublich erstaunlich wie sehr sich die einzelne und voneinander unabhängige Literatur zahnradgleich ineinander fügt und ein Bildnis der Gesellschaft aufzeigt, die es dringend zu optimieren gilt. Außerordentlich interessant ist dabei für mich der Aspekt, dass ein erheblicher Teil davon offensichtlich unbewusst schon seit Jahrhunderten in der Sozialisation der nächsten Generation weitergegeben wird – denn kaum jemand erzieht seine Söhne misogyn, und doch treiben wir weiterhin in diesem Strom, der Frauen ihre Stimme und Teilhabe versagt.

Veröffentlicht am 30.07.2023

Der alte Herr Rudi und die erste Liebe, die ihn einfach nicht loslassen will...

Herr Rudi
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Olivia, Livi, das ist die erste und einzige Liebe vom Herrn Rudi. Auch über 40 Jahre nach ihrem Tod denkt er kaum an etwas anderes als die Livi. Abgelenkt hat ihn seine Arbeit als Gerichtsvollzieher, bei ...

Olivia, Livi, das ist die erste und einzige Liebe vom Herrn Rudi. Auch über 40 Jahre nach ihrem Tod denkt er kaum an etwas anderes als die Livi. Abgelenkt hat ihn seine Arbeit als Gerichtsvollzieher, bei der hat er auch seinen besten und einzigen Freund, den Fritz, kennengelernt. Der Fritz versteht den Herrn Rudi, wenn das Herz mal wieder besonders schwer von der Olivia ist.
Jetzt, kurz vor seinem Ruhestand, bekommt Herr Rudi die Diagnose Krebs. Da hat ihn das Pech nochmal richtig an den Eiern erwischt! Dabei wollte er den Lebensabend doch in Salzburg verbringen, das Haus kaufen, in dem die Olivia früher gewohnt hat. Die Livi will ihn nicht in Ruhe lassen, und jetzt hat sich mittem im Badezimmer des Hotels auch noch ihr Geist auf seinen Rücken gesetzt, dieser schlimme Hexenschuss! Dabei ist der einzige Schuss, den er noch braucht, der aus der Pistole, die er dem Fritz entwendet hat.

Dass sich ein an Seiten so überschaubares Buch so sehr in mein Herz graben konnte, wer hätte das gedacht? Herr Rudi ist ein liebenswerter und gleichzeitig bedauernswerter Mensch. Auf den Seiten begleitet man die Stationen seines Lebens, bevor der Herr Rudi den Zug verlässt und in einem Salzburger Hotel dem Elend ein Ende machen will. Man spürt mit jedem Umblättern mehr den Verlust von Herrn Rudi, man fragt sich, ob die Geschichte nach so viel Vermissen noch ein gutes Ende nehmen kann, um sich unweigerlich danach direkt zu fragen, was für Rudi ein gutes Ende wäre.
In den letzten Wochen habe ich oft den Herrn Rudi in Rezensionen und Buchblogs an mir vorbeiziehen sehen, das Lob vernommen und sehnlichst den Moment erwartet, in dem ich die Bekanntschaft mit ihm machen kann. Nun war es endlich soweit, und die vielgelobten Stimmen haben mir nicht zu viel versprochen! Gespannt werde ich nun verfolgen, wann Weiteres von Anna Herzig kommt!

Veröffentlicht am 30.07.2023

Feministisches Manifest

Fleischmarkt
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Direkt mal vorweg: Ich glaube, dass ich gar nicht jeden Aspekt sofort verstanden habe, den Laurie Penny in dieser Abhandlung zusammengefasst hat. Das Buch hat einen sehr hohen Informationsgehalt auf den ...

Direkt mal vorweg: Ich glaube, dass ich gar nicht jeden Aspekt sofort verstanden habe, den Laurie Penny in dieser Abhandlung zusammengefasst hat. Das Buch hat einen sehr hohen Informationsgehalt auf den knapp 120 Seiten.
Wer denkt, dass es in ihrem Buch nur um das sexuelle Kapital geht, das Prostituierte nutzen, der irrt. Laurie Penny widmet sich dem Bild, das Frauen in der Öffentlichkeit vermittelt wird, aus dem sie ihre Identität ziehen sollen. So beleuchtet Penny beispielsweise Transsexualität im Hinblick auf die Weiblichkeit im Kapitalismus. Es geht um geschlechtliches Kapital, das ausgegeben wird, um eine sozial akzeptierte Weiblichkeit zu generieren und Frauen in geduldeten Bahnen zu halten. Damit kritisiert sie auch die Entweder-Oder-Entscheidung zwischen ausschließlich zwei Geschlechtern, die alle Identitäten dazwischen ausblendet. Ein persönliches Thema für Laurie Penny sind Essstörungen, auch diesen misst sie eine Bedeutung bei, besonder in Anbetracht der „Größe-Null-Debatte“ und der Modeindustrie im Allgemeinen. Ein weiterer Punkt in diesem Buch war die unbezahlte Betreuungs- und Erziehungsarbeit, die Frauen nebst einer hauptberuflichen Vollzeitbeschäftigung leisten, während Männer statistisch gesehen immernoch genauso viel Arbeit im Haushalt erledigen wie in den 80er Jahren – wohlgemerkt, als es noch nicht so viele voll arbeitende Frauen gab.
Laurie Pennys Resümee ist, dass Frauen im Zuge des kapitalistischen Machtwerks klein gehalten werden sollen, ihre Forderung ist, dass sich alle Frauen mal wieder öfter des Wortes Nein bedienen, denn klar ist: Wenn alle Frauen die unbezahlte Arbeit, die sie täglich so verrichten, niederlegen, würde das kapitalistische System von jetzt auf gleich in die Knie gezwungen werden.

Wie gesagt ist die Informationsdichte in diesem Buch enorm, und ich werde es mir bestimmt irgendwann wieder hervornehmen, um es erneut zu lesen. Laurie Pennys Analyse fand ich treffend, nicht zuletzt, weil sie sagt, dass das Patriarchat, das die Weiblichkeit unter Kontrolle halten will, nicht alle Männer umfasst, da es auch Männer gibt, die unter diesen Strukturen leiden. Fakt ist jedoch, dass ein radikales Umdenken stattfinden muss und man sich von der Idee der konsumierbaren, verfügbaren Frau verabschieden muss, die selbst nicht frei konsumieren darf.

Veröffentlicht am 30.07.2023

Wer Worte sammelt: Hier ist eine ganze Schatzkiste voll!

Ungemein eigensinnige Auswahl unbekannter Wortschönheiten aus dem Grimmschen Wörterbuch
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Eine ungemein eigensinnige Auswahl unbekannter Wortschönheiten aus dem Grimm'schen Wörterbuch vereinigt – wie der zungenbrecherische Titel schon verrät – hübsche Wortkreationen wie sie Deutsche richtig ...

Eine ungemein eigensinnige Auswahl unbekannter Wortschönheiten aus dem Grimm'schen Wörterbuch vereinigt – wie der zungenbrecherische Titel schon verrät – hübsche Wortkreationen wie sie Deutsche richtig gut schaffen können.

Wer hier reinblättert, der möchte glatt als Meerschaumkind („dem schaume des meeres entstiegenes kind, Venus: du schönes meerschaumskind! Lohenstein auserles. ged. 1, 240“) all die schönen Wörter heraus in die Welt dirdirlieren („wie eine lerche singen, es dirdirlir, dirdirlor, dirdirlirliret die lerche. Prätoius Winterquartier 227. Betulius Pegnitzschäferei 35“).

Dieses Nachschlagewerk vereinigt derbe Worte wie Dummschnute, Arschwolf, Hodenmännlein und Saugfresse neben Inspirationen wie Gedächnisgelehrter, Zwielichtstimmung und Hoffnungsmorgenröthe.


Außen wie innen ist dieses 350 Seiten umfassende Buch ein reines Schmankerl: Wunderhübsche Leinenbindung, oben ein gefärbter Buchschnitt, Lesebändchen, Vignetten und Illustrationen.

Wer Worte in ihren Zusammensetzungen mag, wird mit diesem Buch ein kleines, wenn auch ungewöhnliches Schätzchen vor sich haben – oder anders gesagt, wird schätzeschwer („mit schätzen schwer beladen“) sein!

Veröffentlicht am 30.07.2023

Ein japanisches Jahr weg von der Großstadt und ab aufs Land

Der Spielplatz der Götter
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Der Ehemann der japanischen Schriftstellerin Natsu Miyashita hat den Traum, einmal in seinem Leben auf Japans nördlichster Hauptinsel Hokkaidō zu leben. Im Familienverband bespricht man sich, denn der ...

Der Ehemann der japanischen Schriftstellerin Natsu Miyashita hat den Traum, einmal in seinem Leben auf Japans nördlichster Hauptinsel Hokkaidō zu leben. Im Familienverband bespricht man sich, denn der einzige Zeitpunkt wäre jetzt gekommen, bevor der älteste Sohn die Mittelschule abschließt. Natsu, ihr Mann, die beiden Söhne und die kleine Tochter entscheiden sich dafür und ziehen in die Bergregion, in der sich das Dorf Tomuraushi befindet, der „Spielplatz der Götter“.

Tomuraushi ist ein sehr kleiner Ort, über 30 km vom nächsten Supermarkt entfernt. Die Schülerschaft der winzigen Schule besteht aus weniger als zehn Schülern. In den Bergen werden auf dem Thermometer selten mehr als 10°C angezeigt, und die Winter sind so kalt, dass einem die Kontaktlinsen in den Augen gefrieren können. In dieses ländliche Gebiet zieht die Familie für das kommende Jahr und wird sehr herzlich in die Dorfgemeinschaft aufgenommen.
Den Familien- und Dorfalltag dokumentiert Miyashita über das Jahr verteilt chronologisch in kleinen Abrissen, sie erzählt über die Aktivitäten ihrer Kinder in der ungewöhnlichen Schule, über die majestätische Landschaft, die Besuche im Onsen - einer Thermalquelle, die ganzjährig aufgesucht werden kann – und welche ungewöhnlichen Tiere ihnen in der Natur begegnen. Nur einem Bären, den die Miyashitas gehofft haben zu sehen während ihres Jahres auf dem Lande, begegnen sie nicht.
An ihren Kindern und auch an ihrem Mann bemerkt die Autorin im Laufe des Jahres Veränderungen, alle werden offener und selbstbewusster, und immer wieder ist sie dankbar über den Zusammenhalt, der in Tomuraushi herrscht.
Als sich das Jahr dem Ende neigt, können die Miyashitas kaum glauben wie schnell die Zeit vergangen ist. Sie fragen sich, ob die Rückkehr in ihren Heimatort Fukui nicht eine zu große Umstellung sein wird. Der „Spielplatz der Götter“ mit seinen herzlichen Menschen ist ihnen so ans Herz gewachsen, dass sie entgegen ihrer ursprünglichen Entscheidung überlegen weiterhin auf Hokkaidō in ihrem geliebten Dorf wohnen zu bleiben.

Dieses erzählende Sachbuch ist kein fiktives Werk, sondern eine Dokumentation der Zeit auf dem Lande. Da das Buch verschweißt war, konnte ich vorher nicht reinlesen und war erst etwas überrascht, dass es sich nicht um eine Geschichte, sondern um eine Sammlung tagebuchähnlicher Einträge handelt. Nachdem ich mich ein wenig eingelesen habe, gefiel es mir richtig gut. Man liest sich ohne Umschweife durch das Wesentliche, sozusagen die Highlights des Jahres. Das Buch hat mir sehr gut gefallen und fängt die japanische Art sehr gut ein.