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Veröffentlicht am 10.11.2023

Ein literarisches Wimmelbild des ausgehenden 19. Jahrhunderts zwischen Hanse und Provinz

Unsereins
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Der kleinste Staat im Deutschen Reich, oder doch eher der zweitkleinste, aber das klingt nicht gut… In feiner Sprache entwirft Inger Maria Mahlke ein Sittengemälde der Stadt Manns und der Buddenbrooks ...

Der kleinste Staat im Deutschen Reich, oder doch eher der zweitkleinste, aber das klingt nicht gut… In feiner Sprache entwirft Inger Maria Mahlke ein Sittengemälde der Stadt Manns und der Buddenbrooks im ausgehenden 19. Jahrhundert. Der Stil ist leichtfüßig, detailreich, bildlich hat man Holstentor und Trave vor sich und taucht ein in das Leben der Bewohnerinnen und Bewohner um die Jahrhundertwende. Etwas mehr als anderthalb Jahrzehnte begleiten wir im Buch Lohndiener, Senatoren, Hausmädchen, Köchinnen, Ratsdiener, Dichter etc. und solche die es werden wollen, die angesehensten Familien der Stadt und die, die so gerne dazugehören würden. Die Themen, die die ProtagonistInnen umtreibt sind dabei mal ganz lebensweltlich, mal pragmatisch, mal politisch. Interessant fand ich besonders die Darstellung der politischen Sphäre, das Repräsentationssystem im deutschen Reich, die Sozialistengesetze etc.

Der Stil ist zwar detailreich jedoch sehr deskriptiv, wenig deutend, was sicher auch durch die 3. Person bedingt ist. Dadurch erscheint zwar Lübeck vor dem inneren Auge realitätsnah auf, die Figuren blieben für mich hingegen leider emotional etwas blass. Wirkliche Nähe konnte ich nicht aufbauen. Am ehesten fühlte sich das Lesen für mich wie ein literarisches Wimmelbild an, auf dem immer Neues, neue Details erkennbar werden. Das hat durchaus seinen Reiz, jedoch auf knapp 500 Seiten auch gewisse Längen.

Bei aller Detailverliebtheit ergeben sich an einigen Stellen leider logische Dissonanzen, so wird beispielsweise ein Mantel, dessen Ausziehen bis ins Detail beschrieben wird, beim Anziehen später plötzlich zur Jacke.

Gewöhnungsbedürftig war für mich die Mischung des Schauplatzes um die Jahrhundertwende, der mit viel Mühe um Authentizität beschrieben wird, mit gelegentlichen Analogien und Bildern aus der Moderne. Da fliegt ein Regentropfen wie eine Drohne, oder es wird ein moderner Algorithmus an anderer Stelle als Vergleichsperspektive bemüht. Das ist sicher Geschmackssache, für mich fühlte es sich jedoch nicht ganz stimmig an.

Insgesamt ein interessanter, detailreicher Einblick in das Lübeck um die Jahrhundertwende und seine Ständegesellschaft mit all ihren Freuden und Sorgen, für mich jedoch mit kleinen Schwächen im Leseerlebnis.

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Veröffentlicht am 06.11.2023

Drei Menschen im 20. Jahrhundert zwischen Kriegen, Ideologien und politischen Systemen

Das Licht zwischen den Schatten
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Konrad, Brigitte, André - drei Menschen die nicht nur in verschiedenen Zeiten des 20. Jahrhunderts aufwachsen, sondern auch in vollkommen anderen politischen Systemen und nicht zuletzt auch familiären ...

Konrad, Brigitte, André - drei Menschen die nicht nur in verschiedenen Zeiten des 20. Jahrhunderts aufwachsen, sondern auch in vollkommen anderen politischen Systemen und nicht zuletzt auch familiären Verhältnissen. Konrads Geschichte beginnt 1919 kurz nach dem ersten Weltkrieg, der Vater als Held im Krieg gefallen, die Mutter froh den Nichtsnutz nicht mehr wiedersehen zu müssen. Brigitte begegnet uns zuerst 1950, sozialisiert im Nationalsozialismus noch immer im tiefen Glauben an diesen und den Führer. Andrés Geschichte beginnt 1976 in Ost-Berlin, adoptiert nach dem Tod seiner Eltern, mit Karrierechancen als DDR Vorzeigeathlet im Turmspringen.

Das sind die Ausgangspunkte aus denen Michaela Beck eine durchdringende Familiengeschichte über fast ein dreiviertel Jahrhundert von 1919 bis 1989 entwirft. Die Kapitel sind alternierend jeweils der Perspektive einer der drei Hauptfiguren gewidmet und ermöglichen so nicht nur in die jeweilige Gedanken- und Lebenswelt der ProtagonistInnen einzutauchen, sondern auch in den historischen Kontext der jeweiligen Zeit. Durch die wechselnde Perspektive ergibt sich aus den zunächst losen Einzelgeschichten von Konrad, André und Brigitte erst nach und nach ein Gesamtbild, wie ein Puzzle, das sich zusammensetzt. Der Schreibstil ist flüssig und einfühlsam. Die historischen Hintergründe sind durchweg gut recherchiert, sodass auch die persönlichen Dilemmata vor diesen authentisch erlebt werden. Trotzdem gab es für mich ein paar Längen, in dem über 800 Seiten umfassenden Werk.

Besonders macht das Buch für mich, dass anhand der drei ProtagonistInnen in verschiedenen Epochen deutlich wird, wie politische Ideologien bis in unser Privatleben vordringen und die Macht haben dieses zu zersetzen, aber auch unser Handeln und Denken machtvoll beeinflussen. Dabei spielt letztlich die politische Coleur eine untergeordnete Rolle. Ideologie als Opium für die Massen aber auch für den oder die Einzelne. Was diese Ideologien im 20. Jahrhundert mit der Welt und auch in Deutschland gemacht haben, ist in Geschichtsbüchern gut dokumentiert. Was sie für den Einzelnen und Familien bedeuten konnten, davon gibt uns das Licht zwischen den Schatten und Michaela Beck mit ihrer wundervollen Sprache ein eindrückliches, emotionales Bild.

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Veröffentlicht am 30.10.2023

Was bedeutet es Mädchen und Frau im 21. Jahrhundert zu sein?

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Abtreibung, Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, Suche nach Orientierung, Zugehörigkeit, und Liebe beim Heranwachsen und auch später, sexuelle Übergriffe, Konkurrenzdenken… Saba Sams thematisiert eine ...

Abtreibung, Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, Suche nach Orientierung, Zugehörigkeit, und Liebe beim Heranwachsen und auch später, sexuelle Übergriffe, Konkurrenzdenken… Saba Sams thematisiert eine wahre Bandbreite aus dem Leben junger Frauen in ihren Geschichten. Im Mittelpunkt stehen immer Mädchen und Frauen, die sich jenseits von Hochglanzbildern und Ideallebensläufen bewegen. Es sind Geschichten, Mädchen und Frauen mitten aus dem Leben, oft jenseits der privilegierten Mehrheitsgesellschaft, auf die Saba Sams ihr Augenmerk legt. Junge Frauen, die in irgendeiner Form mit ihrem Sein hadern, sei es dem Erwachsenwerden und der Sexualität, oder ihrem Aussehen, ebenso wie mit gesellschaftlichen und familialen Erwartungen und Rollenbildern, die sie zum Teil unreflektiert übernommen haben. In ihrem Unglück suchen sie Nähe, Vertrauen, Liebe und werden dabei allzu oft enttäuscht.

Obwohl es eher kürzere Geschichten sind und der Umfang des Buchs mit knapp 200 Seiten überschaubar, war es kein Buch, dass ich mal eben so weggelesen habe. Die Geschichten sind oft sehr karg und bitter beschrieben, mit Botschaften zwischen den Zeilen, sodass ich mir jeweils Zeit genommen habe, die Geschichte zu reflektieren, aber auch ihre gesellschaftliche Relevanz. Saba Sams schreibt wie es ist, nicht wie es sein sollte! Darin liegt für mich der besondere Charme dieser Sammlung.

Die Qualität der Geschichten schwankt für mich recht stark zwischen drei und fünf Sternen. Insgesamt eine Autorin, die ich weiter im Blick behalten werde, weil sie gerade in den starken Geschichten sehr viel Potential zeigt.

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Veröffentlicht am 19.10.2023

Eine Ode an die Heiterkeit

Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte
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Klimawandel, Ukrainekrieg, es droht eine Eskalation im Nahen Osten - als bestimmendes Gefühl beim Blick auf die Weltlage scheint in diesen Zeiten nichts so fern wie Heiterkeit. Oder sollten wir uns gerade ...

Klimawandel, Ukrainekrieg, es droht eine Eskalation im Nahen Osten - als bestimmendes Gefühl beim Blick auf die Weltlage scheint in diesen Zeiten nichts so fern wie Heiterkeit. Oder sollten wir uns gerade deshalb mit Heiterkeit beschäftigen?

In 27 Kapiteln geht Axel Hacke dieser Frage und noch vielen Fragen mehr nach. Was hat Heiterkeit mit Lachen und Witzen zu tun? Hat es überhaupt etwas damit zu tun? Und wie werde ich ein heiterer Mensch? Warum sollte ich das anstreben?

Hacke wählt einen sehr persönlichen Ausgangspunkt für sein Buch und möchte auch herausfinden, was Heiterkeit mit ihm selbst zu tun hat. So folgt man dem Autor bei seinen Gedanken, die zuweilen hin und her springen, immer mal wieder etwas erinnern, einen Film, ein Gedicht, eine Fernsehsendung, Szenen aus dem Alltag, die für ihn jeweils mit Heiterkeit in Verbindung stehen. Aber auch Freud kommt zu Wort und Umberto Eco und viele mehr… Mir persönlich fehlte besonders in der ersten Buchhälfte manchmal ein wenig der Faden, und ich hätte mir oft mehr Verweilen und ein Tiefergehen bei einigen Gedanken gewünscht, wo stattdessen bereits schon wieder die nächste Fragebatterie und der nächste Gedankensprung des Autors folgte. Das ist jedoch natürlich Geschmacksache.

Am stärksten wird der Essay für mich, wenn Hacke über die Kraft der Heiterkeit spricht und Heiterkeit als Möglichkeit der Lebensgestaltung auch unter Rückgriff auf die Philosophie herausarbeitet. Wirklich schön sind außerdem die zahlreichen persönlichen Bezüge und Erlebnisse des Autors, man begleitet ein wenig Axel Hacke auf seinem ganz eigenen Weg zur Heiterkeit, im Verstehen und im Tun.

Das Buch, oder besser Büchlein, da im kleineren Format, ist wunderschön gebunden mit einem hochwertigen, schön bedruckten Buchumschlag. Das Buch eignet sich daher auch ganz besonders als Geschenk für einen lieben Menschen, um die Möglichkeit der Heiterkeit zu entdecken.

Ein interessantes, wunderschönes Büchlein, das zum Nachdenken anregt und im besten Fall beim Lesenden für Heiterkeit in schwierigen Zeiten sorgt.

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Veröffentlicht am 15.10.2023

Eine Spurensuche zwischen Berlin, Rom, Bozen und Brasilien nach einem, der keine Spuren hinterlassen wollte

Wer sind Sie denn wirklich, Herr Gasbarra?
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In „Wer sind Sie denn wirklich Herr Gasbarra“ nimmt uns Gabriel Heim mit auf die Suche nach der Geschichte seines Vaters, Felix Gasbarra, den er selbst nie kennengelernt hat. Ich kannte den Namen Gasbarra ...

In „Wer sind Sie denn wirklich Herr Gasbarra“ nimmt uns Gabriel Heim mit auf die Suche nach der Geschichte seines Vaters, Felix Gasbarra, den er selbst nie kennengelernt hat. Ich kannte den Namen Gasbarra zuvor nicht, wohl aber einige seiner Zeitgenossen und Kolleginnen von Käthe Kollwitz bis Bert Brecht, und kann seine ursprüngliche Liebe zu Südtirol persönlich sehr gut nachempfinden. Daher war mein Interesse an Felix Gasbarra und Gabriel Heims Buch geweckt.

Gabriel Heim beginnt sein Buch sehr persönlich, beschreibt als Ausgangspunkt sein Anliegen und die Familiengeschichte, die bis dato, ganz in der Intention Felix Gasbarras, mit vielen Geheimnissen belegt war. Man sollte nicht vergessen, dass es bei all dem, um seinen Vater geht, der zeitlebens bewusst den Kontakt zu ihm vermieden hat. Insofern hat die Reise und Vergangenheitssuche sicher auch etwas sehr emotionales für ihn.

Heim verknüpft Material und Aufzeichnungen von Doris Homann und seiner Mutter Ilse Winter mit weiteren eigenen Rechercheergebnissen. Die Dokumentation bewegt sich dabei immer wieder zwischen einem Eintauchen in vergangene Zeiten und Orte und der aktuellen Spurensuche mit Reisen Heims an wichtige Orte. Berlin, Schlesien, Rom, Südtirol und zuletzt Brasilien, all dies sind Orte, verknüpft mit dem Leben Gasbarras und/oder seiner Familie, und hierhin entführt uns auch Heim auf seiner Spurensuche.

Die Theaterjahre in Berlin sind unglaublich intensiv beschrieben, mit interessanten Einblicken in das kommunistische, kulturell-politische Milieu dieser Zeit. Große Namen fallen hier mit einer Selbstverständlichkeit und mittendrin Gasbarra. Jede Etappe des Lebens Gasbarras beschreibt Heim in ihrem eigenen Tempo und Eigenheiten. Den ruhigeren letzten Jahren in Bozen stehen die Anfangsjahren seines Wirkens in Berlin gegenüber. Doch all dies ist Felix Gasbarra, alles und nichts, möchte man vielleicht meinen, angesichts der Verwandlungskunst und schweren Greifbarkeit des Charakters Gasbarra.

Gasbarra mag vielleicht nicht wirklich sympathisch sein, doch welche Menschen mit wahrem Genie waren und sind dies in der Geschichte? Ohne zu viel aus dem Buch vorwegzunehmen, kann verraten werden, dass Felix Gasbarra ein streitbarer, aber talentierter und interessanter Mensch war, der es immer wieder verstanden hat, diese Talente auch an den „richtigen“ (zumindest für ihn wirkungsvollen) Stellen einzusetzen.

Für mich ist das Buch jedoch auch und gerade wegen der starken und beeindruckenden Frauen darin unbedingt lesenswert. Von der Künstlerin Doris Homann über Ilse Winter bis hin zu Gabriel Heims wiedergefundener Schwester Claudia und der bereits verstorbenen Schwester Livia, sprüht und lebt das Buch von den emanzipierten Frauen in Gasbarras Leben.

Positiv hervorzuheben sind auch die zahlreichen Fotos, auch von Doris Homanns Bildern, die das Buch zusätzlich bereichern.

Einziger Kritikpunkt ist, dass ich mir eine Kapitelunterteilung und Überschriften zur Strukturierung und Einordnung gewünscht hätte. Das Buch umspannt fast ein Jahrhundert, und springt zum Teil immer wieder zwischen den Episoden hin und her, sodass thematische Überschriften sicher hilfreich gewesen wären.

Insgesamt eine gelungene Biografie, die in ein bewegtes Jahrhundert und interessante Milieus und Lebensgeschichten eintauchen lässt, mit einer klaren Empfehlung!

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