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Veröffentlicht am 18.11.2023

Wien in den Stunden vor der Mobilmachung

Die Inkommensurablen
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Der Bauernknecht Hans Ranftler trifft am Morgen des 30. Juli 1914 in Wien ein. Er ist gekommen, um die Psychoanalytikerin Helene Cheresch um einen Termin zu bitten. Sie ist spezialisiert auf Fälle wie ...

Der Bauernknecht Hans Ranftler trifft am Morgen des 30. Juli 1914 in Wien ein. Er ist gekommen, um die Psychoanalytikerin Helene Cheresch um einen Termin zu bitten. Sie ist spezialisiert auf Fälle wie den seinen, denn er ist seit einigen Jahren davon überzeugt, Gedanken anderer Menschen zu hören, bevor diese sie aussprechen. Die Stadt ist in Aufruhr, denn am nächsten Tag soll die Mobilmachung losgehen. Vor dem Haus von Helene Cheresch trifft Hans auf Adam und Klara, deren Fähigkeiten von der Psychologin untersucht werden. Adam stammt aus reichen Hause und soll General werden, Klara aus ärmlichen Verhältnissen. Die Sufragettenbewegung hat ihr ein Mathematikstudium ermöglicht, das sie am folgenden Tag mit einem Doktortitel krönen soll. Die beiden nehmen Hans unter ihre Fittiche und erkunden einen Tag und eine Nacht lang die Stadt.

Zu Beginn des Buches war ich als Leserin an Hans' Seite, als er in Wien eintrifft. Die Großstadt prasselt mit all ihren Eindrücken auf Hans ein, der jahrelang auf einem Hof gearbeitet hat. Trotz Reizüberflutung schafft er es zur Praxis von Helene Cheresch, schnappt jedoch schon auf dem Weg die angespannte Stimmung auf, die in Anbetracht des anstehenden Kriegsbeginns auf der Stadt liegt. Es ist überall das Gesprächsthema Nummer Eins und beinahe alle gehen automatisch davon aus, dass Hans in die Stadt gekommen ist, um sich für den Kriegsdienst zu melden.

Nach dem ersten Gespräch mit Helene, die Hans einen Termin für den folgenen Tag gibt, lernt dieser Klara und Adam kennen. Klara beschäftigt sich für ihren Doktortitel mit den titelgebenden Inkommensurablen, denn sie ist fasziniert von der Philosophie der Mathematik. Über das Verhältnis der beiden zu Helene und ihre vermeintlichen Fähigkeiten erfährt man im Laufe des Romans mehr. Ich fand die Einblicke in die Parapsychologie, die sich um fremde Gedanken und Erinnerungen sowie Traumcluster drehen, interessant. Auch die Geschichte der Sufragetten und die queere Geschichte Wiens spielen in diesem Roman eine Rolle.

Es wird eine große Bandbreite an Themen bedient, über die ich gerne mehr erfahren wollte. Diesen auf 350 Seiten gerecht zu werden ist jedoch eine gewaltige Aufgabe, welche der Autorin mal besser und mal schlechter gelingt. Sie wählt eine anspruchsvolle Sprache, die ich bereits aus ihren vorherigen Romanen kannte. Dennoch muss ich sagen, dass ich mich trotz Mathe-Abitur und abgeschlossenem Psychologiestudium schwer damit tat, den intellektuell herausfordernden Ausführungen nahtlos zu folgen. Nach einem starken Start habe ich mich im Mittelteil schwer getan. Den Abschluss mit der Verkündigung der Mobilmachung und den Entscheidungen, welche die Charaktere basierend auf dieser Nachricht treffen, fand ich gelungen. Ein Roman für alle, die Lust auf einen komplexen und vielschichtigen Roman mit historisch bedeutsamem Setting haben.

Veröffentlicht am 14.10.2023

Sitzt wirklich der Richtige seit über 20 Jahren im Gefängnis?

Ich hätte da ein paar Fragen an Sie
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Bodie Kane kehrt nach über 20 Jahren an das Internat in New Hampshire zurück, in dem sie einst selbst Schülerin war. Sie soll dort zwei Wochen lang Kurse geben, unter anderen einen, in dem alle Teilnehmer:innen ...

Bodie Kane kehrt nach über 20 Jahren an das Internat in New Hampshire zurück, in dem sie einst selbst Schülerin war. Sie soll dort zwei Wochen lang Kurse geben, unter anderen einen, in dem alle Teilnehmer:innen einen eigenen Podcast aufnehmen. Auf Bodies Liste an Themenvorschlägen landet auch der Mord an Thalia Keith auf dem Internatsgelände in den 90ern, den eine Schülerin für ihren Podcast auswählt. Das Prekäre daran: Thalia war Bodies Mitschülerin, für einige Zeit waren sie sogar Mitbewohnerinnen. Seit über 20 Jahren sitzt jemand als Möder im Gefängnis. Doch Bodie hat wie viele andere Zweifel daran, ob die richtige Person verurteilt wurde. Kann im Rahmen dieses Schulprojekts gelingen, woran alle anderen bislang gescheitert sind - neue Informationen zu finden, damit der Fall neu aufgerollt wird?

Das Buch beginnt im Jahr 2018 mit Bodies Rückkehr nach Granby, dem Internat, in dem sie selbst ihren Schulabschluss gemacht hat. Eine Freundin und ehemalige Mitschülerin, die dort als Lehrerin arbeitet, hat sie eingeladen, zwei Wochen lang zu ihr zu kommen und Kurse zu geben. Nach ihrer Ankunft dauert es nicht lange, bis das Gespräch auf Thalia kommt. Der Mord an ihr beschäftigt Bodie noch immer. In Internetforen wurden die Beweisstücke immer wieder analysiert und hinterfragt. Auch sie selbst hegt Zweifel, ob die Ermittlungen damals gründlich genug waren und nicht der Falsche hinter Gittern gelandet ist.

Die Ich-Erzählerin Bodie spricht bei ihrer Widergabe der Ereignisse immer wieder eine Person direkt an, die sie Siezt und die sich bald als ihr ehemaliger Musiklehrer Dennis Bloch herausstellt, der nach dem Mord für einige Zeit nach Bulgarien gegangen ist. Sie hat das Gefühl, dass er der Mörder sein könnte. Ich musste mich beim Lesen erst daran gewöhnen, dass nicht ich mit dieser direkten Ansprache gemeint bin. In Gedanken spielt Bodie immer wieder mögliche Mordverläufe mit unterschiedlichen Tätern durch, doch es fehlen handfeste Beweise. Als Leserin überlegte ich ebenfalls, wie plausibel diese unterschiedlichen Theorien sind.

Als eine Schülerin den Mord als Podcast-Thema auswählt, weiß Bodie zunächst nicht, ob sie sich freuen soll oder ob es ein Fehler war, das Thema auf die Auswahlliste zu setzen. Bald steckt sie mit ihrem Kurs mitten drin in Nachforschungen, was damals passiert ist und was möglicherweise übersehen wurde. Doch nicht jeder ist erfreut darüber, dass dieser alte Fall wieder einmal Aufmerksamkeit erhält.

Besonders interessant und relevant fand ich das Schlaglicht, das der Roman auf den strukturellen Rassismus wirft: Bei dem für den Mord an Thalia verurteilten Mann handelt es sich um den einzigen Schwarzen, der damals als Verdächtiger in Frage kam. Außerdem erhielt ich ausführliche Einblicke in das amerikanische Rechtssystem und was es braucht, um einen Fall vor Gericht neu aufzurollen und ein Urteil zu hinterfragen. Für meinen Geschmack zogen sich die Nachforschungen allerdings zu sehr in die Länge. Auch Handlungsstränge wie eine Meetoo-Debatte rund um Bodies Ex-Mann und ihre Reaktion darauf, die mit dem Fall direkt nichts zu tun haben, nehmen viel Raum ein. Der Roman spricht viele gesellschaftlich aktuelle Themen an, ich hätte mir aber eine straffere Erzählweise gewünscht.

Veröffentlicht am 23.09.2023

37 Briefe, um Lebewohl zu sagen

Die Butterbrotbriefe
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Kati Waldstein ist auf einer selbst auferlegten Mission: Auf den Butterbrotpapieren, die ihr Vater einst für sie gesammelt hat, schreibt sie offene Worte an all die Menschen, die Einfluss auf ihr Leben ...

Kati Waldstein ist auf einer selbst auferlegten Mission: Auf den Butterbrotpapieren, die ihr Vater einst für sie gesammelt hat, schreibt sie offene Worte an all die Menschen, die Einfluss auf ihr Leben genommen haben. Sie möchte mit dem Erlebten abschließen und Lebewohl sagen, bevor sie alles Bekannet hinter sich lässt und ins Ungewisse aufbricht. Als sie nach Brief Nummer 31 beim Fluss am Ortsrand zur Ruhe kommen will, begegnet sie zuerst einem Kranich und dann einem unbekannten Mann, der sich später als Severin herausstellt. Er ist davon überzeugt, dass das Schicksal ihn zu Kati geführt hat. So unterschiedlich die Dinge sind, die beide in der Vergangenheit gelebt haben - beiden ist es bislang nicht gelungen, diese hinter sich zu lassen. Können Sie einander dabei helfen?

Zu Beginn des Romans erfuhr ich, warum Kati überhaupt auf die Idee gekommen ist, Briefe auf Butterbrotpapier zu schreiben. Sie möchte damit sowohl Vorwürfe als Dankbarkeit loswerden, bevor sie etwas Neues wagen kann. Wer die ersten 30 Briefe erhalten hat wird in aller Kürze erzählt, als Leserin stieg ich beim Vorlesen des 31. Briefes an Katis alte Grundschullehrerin ein, die sie nicht für das Gymnasium empfohlen hat. Deren Rückmeldung, dass das nur auf den Wusnch der inzwischen verstorbenen Mutter hin geschah, macht Kati deutlich, dass ihr jahrelang Dinge verheimlicht worden sind.

Mit ging zu Beginn alles zu schnell und ich hatte das Gefühl, keine Zeit zu haben, um Kati überhaupt kennenzulernen. Sie ist schon mittendrin in ihrer Briefe-Mission, als der Roman beginnt und sie nach wenigen Seiten auf Severin trifft. Dieser benimmt sich zu Beginn ziemlich merkwürdig. Ich war daher erstaunt, wie gelassen Kati mit seinem Verhalten umgeht, dass hart an der Grenze zum Stalking ist, und ihm direkt eine Unterkunft besorgt.

Wie schon "Der Buchspazierer" und "Der Geschichtenbäcker" hat die Geschichte etwas Magisches und Poetisches. Was für mich bei den genannten Büchern sehr gut funktionert hat war mir hier aber einfach zu viel. Ich hatte beim Lesen das Gefühl, dass die Geschichte zu weit von der Realität entfernt ist und die Grenze zum Kitsch überschritten hat. Es gab aber auch genügend Szenen, die wirklich schön zu lesen waren - insbesondere alles rund um das Artiksmuseum von Katis Onkel Martin und die Szenen im Friseursalon. Insgesamt muss ich aber leider sagen, dass mich dieser warmherzige Roman verhältnismäßig kalt gelassen hat.

Veröffentlicht am 01.09.2023

Coming of Age in der DDR

Gittersee
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Die 16-jährige Karin lebt in Gittersee, einem Stadtteil von Dresden. Es ist das Jahr 1976, sie verbringt gern Zeit mit ihrem Freund Paul und ist unentschlossen, was sie nach ihrem bald anstehenden Abschluss ...

Die 16-jährige Karin lebt in Gittersee, einem Stadtteil von Dresden. Es ist das Jahr 1976, sie verbringt gern Zeit mit ihrem Freund Paul und ist unentschlossen, was sie nach ihrem bald anstehenden Abschluss tun soll, während ihre beste Freundin Marie ehrgeizige Pläne verfolgt. Ihr Leben gerät aus dem Tritt, als Paul von einem Ausflug nach Tschechien nicht zurückkehrt. Er soll Republikflucht begegangen haben, wovon sie jedoch nichts geahnt hat. Trotzdem muss sie immer wieder Befragungen über sich ergehen lassen. Dabei muss sie bald erkennen, dass ihr Verhalten in diesem Zusammenhang unweigerlich Konsequenzen nach sich zieht.

Der Roman beginnt mit einer sehr kurzen Szene, in der Rühle einen verunglückten Motorradfahrer findet. Danach übernimmt die Ich-Erzählerin Karin das Wort, die sich an ihren letzten Tag mit Paul erinnert. An diesem hat er sie beharrlich zu überreden versucht, mit ihm und seinem besten Freund Rühle übers Wochenende zum Sommersonnwendfest nach Tschechien zu fahren. Aufgrund ihrer familiären Verpflichtungen hat sie sich dagegen entschieden und sich auch nichts weiter dabei gedacht, als sie gesehen hat, mit welcher Menge Geld sich Paul auf den Weg macht.

Als Leserin erhielt ich Einblick in Katrins Leben im Familien- und Freundeskreis. Zu Hause hat sie für ihr Alter viele Verpflichtungen, denn sie kümmert sich gemeinsam mit ihrer Oma um die zweijährige Schwester, während ihre Eltern in Vollzeit arbeiten. Ihre Mutter hat Katrin im Teenageralter bekommen und tut sich schwer damit, für sie eine Mutterrolle auszufüllen. Katrins beste Freundin Marie träumt von einem gänzlich anderen Leben und vertraut ihr ein Geheimnis an. Doch Katrins Gedanken kreisen vor allem um Pauls Verschwinden, über das sie mehr zu erfahren versucht.

Beim Lesen fühlte ich mich schnell in die DDR der 70er hineinversetzt. Es ist ein Coming of Age-Roman, Katrin steht mit ihrem baldigen Abschluss am Scheideweg und muss sich entscheiden, welches Leben sie anstreben will. Das Erzähltempo ist langsam und intensiv, driftet für meinen Geschmack zwischenzeitlich aber zu sehr in Ereignislosigkeit ab. Pauls Verschwinden bleibt das zentrale Thema, das dafür sorgt, dass sich die Situation allmählich zuspitzt. Dabei hat die Autorin das Gefühl der Unsicherheit, wem man was erzählen kann und sollte, gelungen eingefangen. Eindringlich führt sie vor Augen, welche Konsequenzen es haben kann, Auskunft zu geben.

Erst ganz am Ende wird der Bogen zur rätselhaften Eingangsszene geschlagen. Dem voraus geht eine für Katrin ebenso wie für mich Augen öffnende Enthüllung, welche ein neues Licht auf die gesamte vorangegangene Handlung wirft und das Ausmaß an Manipulation deutlich macht, die hier im Spiel war. Für diesen starken Abschluss lohnt es sich, das Buch trotz einiger Längen zu beenden.

Veröffentlicht am 14.03.2023

Verschwundene Frauen und ein mysteriöses Dorf hoch oben in den Bergen

Wolfskinder
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Zehn Jahre sind vergangen, seit Smillas beste Freundin Juli bei einer Übernachtung im Wald beim Faunfelsen verschwunden ist. Von ihr fehlt seither jede Spur und jeglicher Hinweis, was mit ihr geschehen ...

Zehn Jahre sind vergangen, seit Smillas beste Freundin Juli bei einer Übernachtung im Wald beim Faunfelsen verschwunden ist. Von ihr fehlt seither jede Spur und jeglicher Hinweis, was mit ihr geschehen ist. Inzwischen arbeitet Smilla als Volontärin bei einer Lokalzeitung und versucht privat, mehr über diverse Vermisstenfälle in der Gegend in den letzten Jahren herauszufinden. Unterdessen kommt es zu einem weiteren Vorfall: Die Schülerin Rebekka verschwindet während der großen Pause. Sie und Jesse stammen aus dem kleinen Dorf Jakobsleiter hoch oben in den Bergen, wo sie als Teil einer Täufergemeinde ein einfaches Leben führen. Im Tal begegnet man den Sonderlingen entweder mit Argwohl oder Verachtung. Verzweifelt versucht Jesse, Hilfe bei der Suche nach Rebekka zu erhalten.

"Wolfskinder" ist der erste Thriller von Vera Buck. Ich kenne bisher nur "Runa" von der Autorin, das mich mit seiner düsteren Atmosphäre fesseln konnte. Die Geschichte wirft gleich zu Beginn mit einer beklemmenden Szene Fragen auf. In dieser versucht jemand, in völliger Dunkelheit einen Ausgang zu finden, wird aber wieder zurückgezogen.

Danach lernte ich die Journalistin Smilla und den Schüler Jesse kennen, aus deren Perspektive die meisten Kapitel geschrieben sind. Zusätzlich kommen die Lehrerin Laura sowie Isaiah, der Prieser von Jakobsleiter, zu Wort. Und auch in die Gedankengänge von Edith, die in Jakobsleiter lebt, nicht spricht, aber eine aufmerksame Zuschauerin ist und die Welt auf ihre Art und Weise interpretiert, erhielt ich Einblicke. Jeder von ihnen hat einen ganz eigenen, unverwechselbaren Erzählsound.

Ich hatte leider Schwierigkeiten, in die Geschichte hineinzufinden. Nachdem die erste Spannung wieder abgeflacht ist lernt man das Umfeld der einzelnen Erzählstimmen besser kennen. Dabei verhält sich fast in ihrem Umfeld unfreundlich bis feindselig: Die Mitschüler von Jesse und Rebekka, die anderen Bewohner von Jakobsleiter, ja selbst die Journalisten in der Redaktion von Smilla. Überall warten geballte negative Emotionen, erst später in der Geschichte tauchen ein paar freundliche Charaktere auf.

Im Mittelteil fehlt dem Buch aus meiner Sicht der Schwung, durch die bedrohliche Stimmung gibt es psychologische Spannung, aber die Handlung kommt nicht so recht voran. Mehr Bewegung entsteht erst, als Smilla ein Mädchen vors Auto läuft, das ihrer verschwundenen Freundin Juli ähnelt. Die Situation wird schon in der Buchbeschreibung angekündigt, findet aber erst auf der Hälfte des Buches statt.

Zum Ende hin wird es dann noch einmal besonders dramatisch und gefährlich, doch auch die Auflösung hat in Sachen Glaubwürdigkeit für mich nicht hundertprozentig funktioniert. Für mich bleibt "Wolfskinder" daher nur ein durchschnittlicher Thriller, der vor allem für Fans atmosphärischer Beschreibungen und psychologischer Spannung interessant sein dürfte. I