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Veröffentlicht am 19.02.2024

Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte

Sund
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Die namenlose Protagonistin wartet am dänischen Sund auf ihre Geliebte. Als die sie jedoch immer wieder vertröstet, beschließt die Erzählerin, ihre Recherche zur Rolle des Urgroßvaters im Dritten Reich ...

Die namenlose Protagonistin wartet am dänischen Sund auf ihre Geliebte. Als die sie jedoch immer wieder vertröstet, beschließt die Erzählerin, ihre Recherche zur Rolle des Urgroßvaters im Dritten Reich zu pausieren und auf die Insel Lykke überzusetzen. Dort werden sie und eine weitere neu Angekommene mit Misstrauen begrüßt und bleiben Außenseiterinnen. Doch dann entdeckt die Erzählerin Hinweise, die bestätigen, dass auf der Insel während des Nationalsozialismus Zwangssterilisationen durchgeführt wurden und plötzlich ist der Bezug zur eigenen Familie wieder ganz frisch.

„Sund“ ist bereits der zweite Roman der Autorin Laura Lichtblau. Erzählt wird aus der Perspektive der Protagonistin in der Ich- und Gegenwartsform. Dies und ein Sprachstil mit vielen kurzen Sätzen und beschreibenden Vergleichen (vor allem Naturbilder) vermitteln den Eindruck, die Handlung unmittelbar durch die Figur mitzuerleben und ihre Emotionen zu teilen. Der Text in der Gesamtheit ist jedoch eine gekonnte Mischung aus Romanszenen und Sachinformationen, denn wenn in der Mitte des Buches die Erzählerin über ihren Urgroßvater spricht, tut sie dies im Stil einer detaillierten biografischen Aufzeichnung, die sie aus den unterschiedlichsten Quellen zusammengetragen hat.

Wie mit der eigenen Familiengeschichte umgehen? Das ist die Frage, die Laura Lichtblau sich in diesem kurzen, aber gehaltvollen Roman stellt. Ein Gericht stufte den Urgroßvater als „Mitläufer“ ein, aber kann und darf seine Urenkelin zu dem selben Schluss kommen? Die Fakten sind zusammengestellt und nun müssen wir uns als Leser*innen abschließend selbst ein Urteil bilden. Die umrahmende Romanhandlung hingegen scheint sich der Realität zu entziehen. Die Protagonistin ist oft unsicher, ob sie ihrer Wahrnehmung trauen kann; einzelne Szenen lassen sich nicht klar als Wahn oder Wahrheit einordnen Was am Ende bleibt, ist nur der Titel gebende Sund.

„Dann verwandelt sich der Sund wieder in eine Fläche, auf der sich alles ablegen lässt. Er gleißt auf. Und mit einem festen Ruck verschluckt er jede Geschichte, alle Beweise, und alles, was stört.“ (S. 130)

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Veröffentlicht am 17.02.2024

Downton Abbey trifft Ocean's Eleven

Mayfair House
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London, 1905. Erst vor kurzer Zeit ist der Hausherr von Mayfair House, einer prachtvollen Villa auf der Park Lange verstorben. Nun hat die einzige Tochter das Kommando übernommen und plant – noch in der ...

London, 1905. Erst vor kurzer Zeit ist der Hausherr von Mayfair House, einer prachtvollen Villa auf der Park Lange verstorben. Nun hat die einzige Tochter das Kommando übernommen und plant – noch in der Trauerzeit – einen großen Kostümball, um sich endlich zu verheiraten. Mitten in diesen Geschehnissen wird die langjährige Haushälterin Mrs King entlassen und fasst einen kühnen Plan: Während des Balls will sie Mayfair House bis auf das letzte Möbelstück ausräumen. Ihre Truppe für diesen unmöglichen Job? Sechs ganz besondere Frauen.

„Mayfair House“ ist der Debutroman des britischen Schriftstellers Alex Hay und wurde von Regina Rawlinson aus dem Englischen übersetzt. Erzählt wird im Wechsel aus der Perspektive der insgesamt sieben Frauen in der dritten Person und der Vergangenheitsform. Das führt dazu, dass wir zwar das Geschehen von allen Seiten betrachten könnten, aber leider mit jeder der Figuren nur eine recht begrenzte Zeit verbringen. Manche von ihnen hätte ich gerne noch etwas besser kennengelernt.

In Mrs Kings „Diebesbande“ sind die unterschiedlichsten Charaktere vertreten: Mrs Bone, die toughe Geldgeberin, Winnie, Mrs Kings Freundin und Stütze, Hephzibah, eine Schauspielerin mit großen Träumen, die zwei Janes, ein talentiertes Artistenduo und schließlich die schüchterne Alice. Sie alle bekommen in Mrs Kings großem Plan ihre spezifische Rolle zugewiesen. Vordergründig geht es natürlich um die ungleiche Verteilung von Geld und Macht, aber im Verlauf der Handlung wird deutlich, dass hier noch viel mehr auf dem Spiel steht und die ein oder andere Ungerechtigkeit korrigiert werden soll.

„Mayfair House“ ist im Prinzip eine Mischung aus „Downton Abbey“ und „Ocean‘s Eleven“ und das macht wirklich viel Spaß. Manchmal konnte ich allerdings dem komplizierten Plan nicht ganz folgen und einzelne Elemente wurden auch nicht aufgelöst oder wieder aufgegriffen. Auch die große Motivation hinter dem Raub bleibt am Ende nicht vollkommen plausibel. Dennoch ein absolut unterhaltsamer Heist-Roman mit sympathischen Frauenfiguren, die sich nehmen, was sie wollen und dennoch füreinander einstehen.

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Veröffentlicht am 09.02.2024

Ein Buch, das wütend macht

"Einige Herren sagten etwas dazu"
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Bereits mit ihrem ersten Sachbuch „Frauen Literatur“ ist es Nicole Seifert gelungen, gleichzeitig zu informieren, wachzurütteln und den Puls vor Wut auf 200 zu bringen. In ihrem neuen Werk „‘Einige Herren ...

Bereits mit ihrem ersten Sachbuch „Frauen Literatur“ ist es Nicole Seifert gelungen, gleichzeitig zu informieren, wachzurütteln und den Puls vor Wut auf 200 zu bringen. In ihrem neuen Werk „‘Einige Herren sagten etwas dazu‘“ trifft all das wieder zu und die Wut steigt ins Unermessliche. Seifert erzählt von den Autorinnen der Gruppe 47 und zeigt auf, dass eben nicht nur Schriftstellerinnen wie Ilse Aichinger oder Ingeborg Bachmann vor der Gruppe gelesen haben. Insgesamt porträtiert sie 17 Frauen, die zwischen 1947 und 1967 ihre Texte auf den Tagungen der Gruppe vorgetragen haben.

Schnell wird deutlich, dass Autorinnen in der Gruppe 47 einen schweren Stand hatten. Sie dienten als Lustobjekte, ihr Aussehen wurde ebenso kommentiert und diskutiert, wie ihr Verhalten und ihre Texte traten völlig in den Hintergrund. Zudem schienen die anwesenden Herren eher verschnupft zu reagieren, wenn eine Frau mehr Talent zeigte, als sie es selbst vielleicht besaßen und verteilten harsche, bodenlose Kritik. Nicht weniger negativ verhielt sich die Presse, liest man bspw. die teilweise unverschämten Nachrufe auf Autorinnen der Gruppe 47.

Generell schien der männliche Kern der Gruppe einem starren Denken verhaftet, was vielleicht auch erklärt, warum keine Exildichter*innen zu den Treffen eingeladen wurden. Eine Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich war nicht erwünscht – was in einer demütigenden Szene endete, als der jüdische Dichter Paul Celan vor der Gruppe las. Doch zurück zu den Frauen: Sie kamen aus unterschiedlichen Lebenssituationen, viele von ihnen waren jedoch Akademikerinnen. Manche waren zudem Mütter, wie Ingeborg Drewitz, und mussten die Teilnahme im Vorfeld straff organisieren – undenkbar, dass der eigene Ehemann die Kinder hütet. Manche von Ihnen, wie Gisela Elsner, wurden von der Gruppe 47 und ihrem Verlag in eine Rolle gedrängt, die sie nicht erfüllen wollten und rebellierten.

In einem letzten Kapitel zieht Nicole Seifert schließlich ein Fazit und dieses hätte, für mich persönlich, gerne noch etwas länger sein dürfen. Wieder ist ihr jedoch ein Werk gelungen, das den Blick verändert – danke dafür!

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Veröffentlicht am 05.02.2024

Kurzer, aber eindrucksvoller Roman

Glänzende Aussicht
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Bruder sieben ist der jüngste noch lebende Sohn einer armen Familie aus Wuhan. Der Vater führt ein gewalttätiges Regiment, die Mutter flirtet mit anderen Männern und schreitet nicht ein. Die Söhne entwickeln ...

Bruder sieben ist der jüngste noch lebende Sohn einer armen Familie aus Wuhan. Der Vater führt ein gewalttätiges Regiment, die Mutter flirtet mit anderen Männern und schreitet nicht ein. Die Söhne entwickeln sich sehr unterschiedlich, doch es ist der Jüngste, der von allen immer wieder gequält wird, weil er zu weich ist und zu wenig aufbegehrt. Nur der sanfte Bruder Drei spendet ihm hin und wieder etwas Trost. Die beiden Töchter der Familie haben ihrerseits nur wieder die Aufgabe, selbst Söhne zu gebären und versuchen durch ihr kaltes Verhalten ihren Stand zu festigen

Fang Fangs neuster Roman „Glänzende Aussicht“ erschien in China bereits im Jahr 1987, die deutsche Übersetzung stammt von Michael Kahn-Ackermann. Man spürt deutlich, dass die Autorin es hier dabei belässt, das Schicksal einer armen Familie zu beschreiben, anstatt – wie in ihren späteren Werken – dies in eine Kritik des Systems einzubinden. Erzählt wird rückblickend aus der Gegenwart, wobei zwischen unterschiedlichen Zeiten gesprungen wird. Der Erzähler an sich ist dabei sehr besonders, wenn auch realistisch gesehen nicht ganz klar ist, woher er all diese Informationen eigentlich hat.

Nach und nach erfahren wir das Schicksal jedes einzelnen Familienmitglieds und werfen dabei einen Blick in das China der 60er bis 80er Jahre und damit auf die Nachwehen der Kulturrevolution. Zu Beginn hausen alle in einem einzigen Raum in den Henan-Baracken, am Ende ist dem Vater nur noch der vor der Hütte begrabene Sohn Nummer acht geblieben. Jedes Kind versucht auf ganz eigene Weise, dem Schicksal zu entkommen und etwas aus sich zu machen. Sie schlagen zurück, tun sich zu zweit zusammen, träumen von eigenen Familien, Geschäften und Reichtum. Nur Bruder sieben bleibt dabei, wie üblich, außen vor – doch alles ändert sich, als er die Familie endlich verlässt.

„Glänzende Aussicht“ ist ein schmaler Roman von gerade einmal 176 Seiten. Dahinter verbirgt sich jedoch ein starkes Familienporträt, in dessen Fokus ein Sohn steht, dem sein Leben lang mit Gewalt und Ablehnung begegnet wurde. Dennoch ist er, wie zum Trotz, am Ende der einzige, der es im Leben zu etwas gebracht hat.

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Veröffentlicht am 31.01.2024

Ein kurzer, aber komplexer Roman

Wo Milch und Honig fließen
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In einer nahen Zukunft verdunkelt Smog die Sonne, was dazu führt, dass zahlreiche Pflanzenarten verschwinden und Wild- und Nutztiere verhungern. In dieser dystopischen Welt versucht eine 29-jährige Köchin ...

In einer nahen Zukunft verdunkelt Smog die Sonne, was dazu führt, dass zahlreiche Pflanzenarten verschwinden und Wild- und Nutztiere verhungern. In dieser dystopischen Welt versucht eine 29-jährige Köchin sich durchzusetzen. Dreist bewirbt sie sich bei einer mysteriösen Stellenanzeige mit falschen Qualifikationen und wird tatsächlich eingestellt. Fortan kocht sie für die Gäste einer privaten Forschungsgemeinschaft an der italienisch-französischen Grenze namens „Terra di latte e miele“ (=Land von Milch und Honig). Doch schon bald muss sie feststellen, dass sie nicht nur dafür eingestellt wurde und der Besitzer Geheimnisse vor ihr verbirgt.

„Wo Milch und Honig fließen“ ist der zweite Roman der chinesisch-amerikanischen Autorin C Pam Zhang und wurde von Eva Regul aus dem Englischen übersetzt. Erzählt wird aus der Perspektive der namenlosen Protagonistin in Ich- und Vergangenheitsform. Dabei blickt sie aus einer Gegenwart, in der sie sich schon lange nicht mehr im „Latte e miele“ aufhält, zurück auf das schicksalshafte Jahr, das sie dort verbracht hat.

Für den Besitzer ist sie die perfekte Kandidatin für den Job, denn sie hat in der Außenwelt keinerlei Bindungen mehr, seit die ihr entfremdete Mutter verstorben ist. In den ersten Wochen ist sie geradezu berauscht davon, dass auf dem Grundstück Pflanzen und Tiere nachgezüchtet werden, die als ausgestorben gelten. Endlich kann sie wieder Butter verwenden oder Erdbeeren essen und den seltsamen Gästen ausgefallene Menüs vorsetzen. Doch nach und nach schleichen sich Gewissensbisse ein: Ist es in Ordnung, all das vor dem Rest der Menschheit zu verstecken und zu genießen, wenn anderswo nur noch fades Proteinmehl genutzt werden kann?

Komplizierter wird die Situation durch zwei weitere Dinge: Die Beziehung zwischen der Protagonistin und der Tochter des Besitzers und ihre Herkunft. Die junge Köchin ist Tochter einer chinesischen Mutter und eines koreanisch-amerikanischen Vaters, weshalb sie immer wieder Alltagsrassismus ausgesetzt ist – und auch ihre Einstellung hat mit diesem Fakt zu tun.

Fazit: Ein kurzer, aber komplexer Roman über die Frage, ob der Zweck die Mittel heiligt

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