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caro_phie

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 16.02.2024

So nah

Klarkommen
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Es gibt viele Bücher über das Erwachsenwerden, zumindest das zwischen 12 und 18, wenn der Körper sich plötzlich verändert, man anfängt die Lebensweise und das Gesagte der Eltern zu hinterfragen, sich seine ...

Es gibt viele Bücher über das Erwachsenwerden, zumindest das zwischen 12 und 18, wenn der Körper sich plötzlich verändert, man anfängt die Lebensweise und das Gesagte der Eltern zu hinterfragen, sich seine eigene Realität aufbaut. Es gibt viele Bücher über die Zeit um die 30, eine Zahl die gesellschaftlich so aufgebläht wird, obwohl sie doch nur das ist - eine Zahl. Es gibt viele Bücher über das Altern, über langjährige Ehen die bröckeln, über Midlife Crisis und Veränderungen der Körper. Worüber es wenige Bücher gibt, ist über die Zeit zwischen 20 und 30, und noch viel weniger, die so wahnsinnig unverfälscht und ehrlich diese Zeit einfangen, sie nicht romantisieren.

Es ist die Zeit, in der man aufblühen soll, in der man wilde Parties feiern soll und den Spaß seines Lebens haben soll, denn schon bald… schon bald sei die Party wieder vorbei, so sagen es die Leute. Diesem Druck fühlen sich Mounia, Leon aber vor allen Dingen die Erzählerin in Ilona Hartmanns neuem Roman ausgesetzt.

“Uns war zu jedem Zeitpunkt schmerzlich klar, dass wir nicht wild genug, nicht jung genug, nicht wütend genug, nicht intensiv genug, nicht verschwenderisch genug unsere Zeit verschwenden” (S.118)

Sie wollen Abenteuer erleben, doch die Abenteuer scheinen immer woanders, immer in ihrer Abwesenheit zu passieren. Und so hat die Erzählerin das Gefühl die schönste Zeit des Lebens zerrinne zwischen ihren Fingern ohne dass sie etwas dagegen tun könnte, denn der Druck, den sie sich aufbaut, lähmt sie.

Es ist ein mir sehr vertrautes Gedankenkarussell, das das Buch für mich zu einem persönlichen und emotionalen Leseerlebnis gemacht hat. In einer zugleich humorvollen und berührenden Weise fängt Ilona Hartmann, die oft verschwiegene Unsicherheit, das Schlingern und Stolpern in den Zwanzigern ein.

“Wir waren alle nicht alt, aber alt genug, dass aus kleinen Unebenheiten, die vor zwei Jahren noch niemandem aufgefallen waren, nun manifeste Schlaglöcher geworden waren. Auf kurzen Strecken fiel es nicht auf, aber je mehr Zeit verging, desto deutlicher kamen wir bei unseren Ausweichversuchen in verschiedene Richtungen von der Strecke ab” (S.96)

Eine absolute Leseempfehlung. Jetzt schon eines meiner Lieblingsbücher diesen Jahres. Ein Buch, das ich immer wieder aufschlagen will, in dem ich blättern will und noch viele weitere Stellen unterstreichen will. Denn es ist ein Buch das zugleich unglaublich tröstet und aufrüttelt und einen die eigenen Gedankenmuster reflektieren lässt.

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Veröffentlicht am 12.02.2024

Warmherzige Geschichte über Identität und gesellschaftliche Narrative

Weiße Wolken
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Weiße Wolken - die kleinen weißen Flecken auf den Fingernägeln, die entgegen weit verbreiteter Meinung von stumpfer Einwirkung auf die Nägel herrühren. Damit vergleicht Zazie in Yandé Secks Debütroman ...

Weiße Wolken - die kleinen weißen Flecken auf den Fingernägeln, die entgegen weit verbreiteter Meinung von stumpfer Einwirkung auf die Nägel herrühren. Damit vergleicht Zazie in Yandé Secks Debütroman die schmerzhaften Erfahrungen, die einen prägen, die eigene Identität ausmachen.

Davon gibt es viele bei Yandé Secks drei Protagonistinnen: Zazie, die immer wieder auf ihr eigenes Anderssein als Schwarze in Deutschland zurückgestoßen wird, die ihre Wut über Alltagsrassismus und Sexismus oft nicht zurückhalten kann. Dieo, die mit den gesellschaftspolitischen Diskursen ihrer Schwester nicht mithalten kann, hat sie doch mit ihren Kindern zu viel zu tun. Die gleichzeitig aber ihre eigene Wut über die Verteilung von Care-Arbeit in ihrer eigenen Familie in sich aufstaut. Und ihr Mann Simon, der den gesellschaftlichen Druck übernimmt sich in der Kryptowelt zu behaupten ohne seine eigenen Wünsche zu hinterfragen.

So kreisen die drei Protagonist
innen umeinander, scheinbar absorbiert in ihrer Suche nach ihrer eigenen Identität zwischen gesellschaftlichen Idealen und individuellen Bedürfnissen.

Vieles wird nicht gesagt, viele Gedanken und intuitive Verhaltensmuster von Zazie, Dieo und Simon bleiben den Leserinnen gegenüber genauso unergründlich, wie sie vielleicht für die drei Charaktere selbst sind. Das lässt sie teilweise schwer greifbar machen. Manche Dialoge und insbesondere Konflikte, die genauso schnell gelöst werden wie sie aufgetaucht sind, wirken hölzern und unrealistisch.

Aber wenn man in die Geschichte reingefunden hat, sich an Yandé Secks ungewöhnlichen Erzählstil gewöhnt hat, verspricht das Buch ein schönes, leicht zu lesendes Leseerlebnis, das gleichzeitig wahnsinnig viele gesellschaftliche Diskurse aufgreift und doch so warmherzig und verständnisvoll jede
n der drei Protagonist*innen und ihre unterschiedlichen Perspektiven aufs Leben beleuchtet.

Trotz der teilweise konstruiert wirkenden Dialoge, habe ich das Buch deshalb ins Herz geschlossen und empfehle es sehr, gerade wenn man sich mit dem emotionalen Druck, den gesellschaftlicher Narrative ausüben, auseinandersetzen will.

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Veröffentlicht am 05.02.2024

Die Unbegreiflichkeit des Grauens

Spur und Abweg
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Harry Tallert ist “Mischling ersten Grades”, zumindest wird er dazu gemacht, durch die Nürnberger Rassengesetze, durch die Gefangennahme und Deportation in das Arbeitslager Lenne, wo er bis zur Befreiung ...

Harry Tallert ist “Mischling ersten Grades”, zumindest wird er dazu gemacht, durch die Nürnberger Rassengesetze, durch die Gefangennahme und Deportation in das Arbeitslager Lenne, wo er bis zur Befreiung 1945 für die deutsche Rüstungsindustrie schuften muss. Es ist ein Stempel, eine Identität, die ihm als Jugendlicher aufgedrückt wird und die ihn sein ganzes Leben bestimmen wird.

Als “Halbjude” zwischen den Stühlen von Opfern und Tätern sitzend, versucht er das Unbegreifliche zu erklären, die Absurdität, die Unmenschlichkeit der NS-Zeit zu verstehen. Ein Unterfangen, dass ihn bis zu seinem Tod nicht mehr loslassen soll, ihn seinen Schmerz in Alkohol und Schmerzmitteln ertränken lässt.

“Die Einteilung der Menschen in Täter und Opfer und die gleichzeitige Einsicht in die phänomenologische Fragwürdigkeit einer solchen Einteilung ließen meinen Vater zu einer Zeit über die ganze Menschheit stolpern, in der er eigentlich erst einmal eine Person hätte werden sollen.” (S.17)

So beschreibt es sein Sohn Kurt Tallert in diesem Buch, einer Mischung aus Erinnerungen an seinen Vater und seiner persönlichen Auseinandersetzung mit dem grauenhaften Schicksal seiner Familie während des Holocausts.

Mit viel Einfühlungsvermögen schafft es Kurt Tallert die Verzweiflung seines Vaters zu beschreiben und liefert gleichzeitig einen essenziellen Beitrag zu gesellschaftspolitischen Diskursen der Schuld und Erinnerungskultur. Wo erinnert man sich? Wie anders erinnert man sich, wenn man selbst Holocaust-Opfer in der Familie hat? Und wie geht man mit Schuld in der eigenen Familie um?

Viele Stellen habe ich unterstrichen, oft hat mich das Buch zum Nachdenken angeregt und doch war ich am Ende ratlos, als ich es zuklappte. Kurt Tallert scheint sich im Kreis zu drehen, findet keinen roten Faden in seiner Geschichte. Immer wieder reist er nach Buchenwald, nach Lenne, nach Theresienstadt, versucht die Lücke zwischen Geburts- und Todesdatum seiner Verwandten zu füllen, einen Ort des Erinnerns zu finden, zu begreifen. In seinem Schreibstil spiegelt sich die eigene Verzweiflung wider, das über Generationen vererbte Trauma. Vielleicht muss es deshalb so sein. Vielleicht muss das Buch einen verwirrt und ratlos zurücklassen, denn das Unbegreifliche kann nicht begreifbar gemacht werden. Aber es muss erinnert werden.

Ein, trotz aller Schwierigkeiten den Gedankengängen Tallerts zu folgen, wichtiges Buch! Insbesondere in Zeiten, in denen geschichtsrevisionistische Tendenzen wieder an Zuspruch gewinnen.

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Veröffentlicht am 10.01.2024

Schweigen in Worte gefasst

Zweistromland
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Istanbul, 2016 - von hier aus begibt sich Dilan auf die Suche nach der Geschichte ihrer Eltern, der Geschichte hinter dem jahrelangen Schweigen ihrer Eltern. Sie reist nach Osten in die kurdischen Gebiete ...

Istanbul, 2016 - von hier aus begibt sich Dilan auf die Suche nach der Geschichte ihrer Eltern, der Geschichte hinter dem jahrelangen Schweigen ihrer Eltern. Sie reist nach Osten in die kurdischen Gebiete der Türkei aus denen ihre Eltern nach Deutschland geflohen sind. Was ist passiert? Warum mussten sie fliehen?

Mit ihrer bildgewaltigen und dennoch ruhigen Sprache hat Beliban zu Stolberg mich von der ersten Seite an in die Geschichte entführt. Durch Rückblenden in Dilans Jugend verwebt sie kunstvoll Vergangenheit und Gegenwart und zeigt wie tief verankert das Schweigen in Dilans Familie ist. Ein Schweigen, das zwischen den Zeilen auf jeder Seite dieses Buches spürbar ist.

Es ist ein Roman von unglaublicher sprachlicher Schönheit, der viel sagt und dennoch viel ungesagt lässt. Ein Roman der gelungen über die Geschichte der Kurdern erzählt, der berührt und in Teilen erschüttert. Ein Roman der dennoch so viele Fragen offen lässt, dazu anregt sich intensiver mit dem Schicksal der Kurden auseinanderzusetzen.

Für mich ist es ein wahnsinnig gelungener Debütroman und eines meiner absoluten Lieblingsbücher im Jahr 2023.

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Veröffentlicht am 05.12.2023

Eine junge Frau auf der Suche nach ihrer Identität

Wovon wir träumen
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Es ist schwierig für dieses Buch die passenden Worte zu finden. Schwierig, weil sich dieses Buch bewusst verwehrt in die Schublade gesteckt zu werden, in die man es so gerne stecken will.

Es ist nicht ...

Es ist schwierig für dieses Buch die passenden Worte zu finden. Schwierig, weil sich dieses Buch bewusst verwehrt in die Schublade gesteckt zu werden, in die man es so gerne stecken will.

Es ist nicht nur ein Buch über die Suche nach einer Identität als in Deutschland aufwachsendes Mädchen mit chinesischer Mutter. Es ist nicht nur ein Buch über eine Beziehung zwischen Mutter und Tochter, geprägt durch eine tiefe Liebe und gleichzeitig dem verzweifelten Wunsch der Tochter in ihren Gedanken und ihrem Handeln Distanz zu ihrer Mutter zu schaffen.

‘Sie werden unsere Geschichten immer anders erzählen. Als gehörte sie mehr ihnen als uns. Es ist dann eine Geschichte von Wurzeln und keine von Händen und Füßen. Eine von der Suche nach dem besseren Leben, von Zerrissenheit, von einer ewig unvollständigen Existenz. Eine Geschichte von Fehlen statt Fülle, von Traumata und nicht von Träumen. Ich hasse diese Erzählungen. Und ich liebe die, in denen es einfach um das gute Leben geht. Die Geschichten, in denen wir im Einzelnen ganz sind.’

‘Es ist einfach meine Geschichte’, scheint die Erzählerin zu schreien. Aber sie schreit es leise, in einer wahnsinnig zarten und natürlichen Sprache, die mich sehr berührt hat. Ein sehr schönes Buch, das noch lange nachhallen wird.

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