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Veröffentlicht am 28.02.2024

Starkes Debüt mit Schwächen

Krummes Holz
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Fünf Jahre ist es her, dass er gegangen ist. Dass er den alten Gutshof hinter sich gelassen hat und mit ihm einen Teil von sich. Das Scheppern des Bestecks, wenn Georg wütend war; den Hall des Schusses, ...

Fünf Jahre ist es her, dass er gegangen ist. Dass er den alten Gutshof hinter sich gelassen hat und mit ihm einen Teil von sich. Das Scheppern des Bestecks, wenn Georg wütend war; den Hall des Schusses, als er den Hund - hör auf, atme. Vor fünf Jahren ist Jirka aufs Internat gegangen, geflüchtet an einen Ort, an dem sein Inneres wieder zusammengewachsen konnte. Papa nannte er Georg damals schon nicht mehr, das Wort hatte für ihn jegliche Emotion verloren. Es tat weh, es auszusprechen; eh war er nie der richtige Sohn gewesen, wie seine Schwester Malene nicht die richtige Tochter war für dieses Erbe.

Die Hitze liegt schwer über den Feldern, als Jirka sein Elternhaus betritt. Die Stille ist ohrenbetäubend, seine Mutter schon lange tot. Niemand wartet auf ihn, niemand ist da, nur die Erinnerungen an seine Kindheit warten an jeder Ecke: die Gewalt seines Vaters, die Erniedrigungen seiner Schwester, die Bewegungslosigkeit seiner Mutter. Und: der Geruch von Zuhause, auch wenn es das schon lange nicht mehr war. Er war zurückgekommen wegen des Musterungsbescheids, über Wochen und Monate hatte er es aufgeschoben, hatte angerufen, doch das Klingeln ging ins Leere. Leer auch der Blick seiner Schwester, als er sie nach all den Jahren das erste Mal wiedersieht, wirsch und traurig; leer der Blick seiner Großmutter, gefangen in der Demenz. Vom Vater keine Spur, kein Wort. Nur Leander redet mit ihm. Leanders Vater Vilém war der letzte Verwalter des Gutshofs gewesen, da war Jirka noch klein, ein stolzer Mann, jedes seiner Worte warm wie ein Karamellbonbon. Bei ihnen fühlte er sich sicher und geliebt, all das, was er von seiner Familie nicht erfuhr. Aber mit Leander verbindet auch noch andere, intensivere Momente, die er lange verdrängte, aber nun mit jedem neuen Tag immer mehr zutage treten.

„Weißt du, Jirka, über den Tod sollte man nicht allzu lange weinen. Er ist das Einzige, was uns allen sicher ist, und daran ist nichts Schlimmes. Daran bemisst sich das Leben.“ (S. 67)

Es liegt eine eigentümliche Schwere auf den ersten Seiten des Debütromans von Julja Linhof, in Erwartung eines warmen Sommergewitters, das über das Krumme Holz hinwegbrechen soll. Und wärmend ist sie allemal, die Atmosphäre, die sie mit poetischen, betäubt-verträumten Bildern, durchbrochen nur von lakonischen Dialogen, erzeugt, und doch ist da eine gewisse Beklemmung, die von den Protagonist:innen ausgeht. Vom Körper erinnerte Angst, Schattenspiele dessen, was einst war: Erinnerungen an seine Kindheit diffundieren in Jirkas Gegenwart, ein Augenschlag, und sie verflüchtigen sich im Knarren des Gebälks. Schon früh bekommt man einen Eindruck davon, unter welchen Bedingungen die Familie auf dem Gutshof wohnte, welche Schmerzen sie einander zufügten, die Narben noch immer da. Alles fühlt sich seltsam nah an, jeder abschätzige Blick trifft auch mich, kühles Holz unter meinen Füßen, die Angst vor Gefühlen, vor dem jugendlichen Körper. Mitreißend beschreibt Linhof, wie sich die Dynamik zwischen den Geschwistern allmählich verändert, sie, um die Gunst der:s jeweils anderen buhlend, auseinanderbrachen, sich aber nun zaghaft anzunähern versuchen, und auch, einander wieder Familie zu sein, und diese Abschnitte haben mir wirklich gut gefallen. Doch ab dem letzten Drittel verlor mich die Geschichte. Vage Ahnungen manifestierten sich allmählich, überdrehten und brachen an der bis dahin so elektrischen Atmosphäre träge ab. Die Handlung verlief sich in eine etwas absurde, unglaubwürdige Richtung, was arg schade ist, waren die ersten zwei Drittel wirklich toll. Dennoch: ein starkes Debüt und große Freude auf mehr von Julja Linhof!

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Veröffentlicht am 26.02.2024

Jüdisches (Er-)Leben

Die Hoffnung der Chani Kaufman
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"Die Hoffnung der Chani Kaufman" ist die Fortsetzung des bereits 2015 erschienenen Romandebüts von Eve Harris, lässt sich jedoch unabhängig davon lesen.

Mit gleichermaßen zärtlicher wie intensiver ...

"Die Hoffnung der Chani Kaufman" ist die Fortsetzung des bereits 2015 erschienenen Romandebüts von Eve Harris, lässt sich jedoch unabhängig davon lesen.

Mit gleichermaßen zärtlicher wie intensiver Sprache verflicht Eve Harris die Leben zweier Frauen miteinander: Chani Kaufman und Rivka Zilberman. Mehr als ein Jahr ist der Hochzeit von Chani und Baruch vergangen. Ein Jahr, und noch immer ist sie nicht schwanger - sehr zur Freude ihrer Schwiegermutter, Mrs Levy. Ihr Sohn, der seine Ausbildung zum Rabbi absolviert, ist hin- und hergerissen zwischen den beiden Frauen in seinem Leben, weiß er um den Groll, den seine Mutter seiner Frau gegenüber hegt. Er schlägt vor, dass Chani sich in einer Kinderwunschklinik in London vorstellt, doch die Empfehlungen der Ärztin widersprechen den jüdischen Gesetzen, an die er sich strikt zu halten hat. Ihr gemeinsames Leben steht vor der Wand. Zur gleichen Zeit flieht Rivka aus dem Leben, das sie bislang führte: Sie tritt aus der jüdischen Gemeinde aus, sehr zum Missfallen ihres Mannes. Er verurteilt ihre Entscheidung. Rivka reist nach Jerusalem, wo ihr ältester Sohn an der Talmudschule lernt, und findet bei ihm Halt, denn auch er steht auf unserem Fuß und trifft eine Entscheidung, die sein Leben verändern würde.

Mit Leichtigkeit ob der schwermütigen Thematik verflicht Eve Harris die Geschichten der beiden Frauen, die sich ähnlicher sind als auf den ersten Blick ersichtlich, zeigt klaren Wortes die veralteten Ansichten und Gesetze der ultraorthodoxen Rabbiner auf, die die vollkommene Unterwerfung der Frauen einfordern. Es hat mich ungemein aufgewühlt, all diese Dinge zu lernen, die mir bis dahin unbekannt waren, und der Gedanke daran hat mich noch lange bewegt. Zeitweise zog sich die Erzählung ein wenig, doch insgesamt habe ich das Buch sehr gerne gelesen - bis auf das Ende, das hat mich taumelnd zurückgelassen.

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Veröffentlicht am 12.02.2024

My life in a book

Klarkommen
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All das sind auch Gedanken, die die Erzählstimme von „Klarkommen“ umtreiben, auch wenn wir sonst nicht viel gemein haben. Nach dem Abitur und dem Umzug in eine neue, eine große Stadt, versuchen sie und ...

All das sind auch Gedanken, die die Erzählstimme von „Klarkommen“ umtreiben, auch wenn wir sonst nicht viel gemein haben. Nach dem Abitur und dem Umzug in eine neue, eine große Stadt, versuchen sie und ihre Freund:innen Mounia und Leon, ihre Jugend hinter sich zu lassen, dieses „Erwachsensein“, das ihnen in Filmen und Büchern immer suggeriert wurde, fernab ihres perspektivlosen Heimatdorfes zu finden. Doch während Mounia und Leon scheinbar problemlos einen Schritt vor den anderen setzen, hat die Erzählstimme größere Päckchen zu tragen. Ihre Eltern waren geschieden, das Schweigen und Hinnehmen seit jeher Teil der Erblinie; sie war eine Bildungsaufsteigerin, demütigen Blickes bedacht. Und: sie hatte Angst. Vor dem Älterwerden, davor, etwas falsch zu machen, falsche Entscheidungen zu treffen. In dieser neuen Welt nicht klarzukommen. Und dann noch die Liebe, ach.
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Hätte ich mitgezählt, wie oft ich mich in diesem Text wiedergefunden habe, ich hätte meine Socken ausziehen müssen zum Zählen, denn beide Händen hätten nicht gereicht. Ich musste so oft peinlich berührt bis melancholisch verträumt grinsen oder lauthals auflachen, gegen den Kloß im Hals anschlucken oder stumm nicken ob der Erlebnisse und Erinnerungen der Protagonist:innen, die Ilona Hartmann so lebensnah, klar und präzise eingefangen hat. Ihre Sprache ist lakonisch, humorvoll und frech, bisweilen von einer intensiven, verlangsamenden Stille, die Höhen und Tiefen auslotend. Ich musste immer an diesen einen Song von Nina Nesbitt denken, in dem sie singt: My life's uncertain and sometimes it's strange / But one thing I've learned is it won't stay the same / Even in the darkness, I'll be okay / The sun will come up, the seasons will change - und so findet auch die namenlose Protagonistin ihren Weg, unmerklich, die Rollen kehren sich um. Ein:e jede:r von uns. Ein wundervoller Text, der von Freundschaft erzählt, vom Kindsein und Erwachsenwerden, von Abschieden und Neuanfängen und dieses besondere Lebensgefühl wie kein anderes einfängt. Große Empfehlung!

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Veröffentlicht am 13.10.2023

Eine spannende Geschichte

Endstation Malma
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Vor und zurück. Jahrzehnte voller Liebe und Schmerz vergehen, überschneiden einander, kehren wieder; ein immerwährender Kreislauf. In seinem neuen Roman „Endstation Malma“ zeigt Alex Schulman auf, welchen ...

Vor und zurück. Jahrzehnte voller Liebe und Schmerz vergehen, überschneiden einander, kehren wieder; ein immerwährender Kreislauf. In seinem neuen Roman „Endstation Malma“ zeigt Alex Schulman auf, welchen Einfluss Vergangenes auf unsere Gegenwart haben kann, oder: wie die Tränen unserer Eltern Jahrzehnte später unsere Sicht verschwimmen lässt. Einfühlsam verbindet er die Geschichten dreier Generationen einer Familie, die durch mehrere traumatische Ereignisse über die Zeit miteinander verbunden sind, ihren Schmerz und ihre Eigenheiten an ihre Kinder und Enkel weitergeben, eine „gerade Linie von der Kindheit bis in die Gegenwart hinaus“ (S. 233). Sie alle sitzen und saßen – alles eine Frage der Perspektive – im Zug nach Malma, wollten mit etwas abschließen, etwas beweisen, alte Dämonen zum Schweigen bringen. Immer klarer, intensiver werden die Bilder, je näher sie ihrem Ziel kommen, was sie an einem Punkt in ihrem Leben verletzt hat, und desto deutlicher treten die Parallelen hervor; die Abstände werden kleiner, die Brust enger, das Atmen fällt schwer. Es kribbelt unangenehm unter der Haut, letzte Worte, angespanntes Flüstern, das Geräusch von brechendem Knochen.
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„Alles, was man jetzt ist, kann und muss durch das erklärt werden, was einem früher widerfahren ist.“ (S. 233)
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Schulman zeichnet mit wenigen Worten sensible, eigenwillige Charaktere, die jede:r für sich ungemein interessant sind, die Sorgen haben, Ängste, nach der Sicherheit suchen, die sie in jungen Jahren nie erhalten haben. Doch obgleich man sie fast zu atmen hören meint, konnte ich zu niemandem wirklich eine Verbindung aufbauen, fühlte ich mich seltsam entfernt - und doch so nah, es ist paradox, spürte ich manches doch so intensiv, als würde es mir selbst wiederfahren. Vielleicht, wer weiß, wollte mein Kopf mich schützen, dass ich mich nicht zu sehr in den Fallstricke verfange, hatte ich beim Lesen doch selbst den Halt verloren, hier, in meiner Welt. Was jedoch kritisch angemerkt werden muss, ist die Beschreibung von Yana, die des Öfteren lediglich über ihr Aussehen und ihre Körperform charakterisiert und somit beschämt wird. Das hätte schöner, anders gelöst werden können, hinterließ es doch einen bitteren Nachgeschmack. Was mich an "Endstation Malma" jedoch sehr begeistert hat, ist der besondere, thrilleresque Handlungsaufbau mit seinen zarten Überblendungen, und der sie verbindende Gedanke. Denn insbesondere darüber musste ich noch lange nachdenken.

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Veröffentlicht am 15.08.2023

Ein halbes Highlight

Das Pferd im Brunnen
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Von melodischer Leichtigkeit und Poesie sind die Worte, mit denen Valery Tscheplanowa in ihrem autobiographisch inspirierten Debütroman „Das Pferd im Brunnen“ die Bilder dreier Frauen zeichnet, dreier ...

Von melodischer Leichtigkeit und Poesie sind die Worte, mit denen Valery Tscheplanowa in ihrem autobiographisch inspirierten Debütroman „Das Pferd im Brunnen“ die Bilder dreier Frauen zeichnet, dreier Generationen, die sich vom Zweiten Weltkrieg und der Perestroika bis in die Gegenwart erstrecken, von einem kleinen Dorf in Norddeutschland bis nach Russland - und zwischen den Welten: Walja. Über kurze, keinem zeitlichen Faden folgenden Szenen nähert sie sich ihrer Mutter Lena, der Großmutter Nina und deren Mutter Tanja an, den Frauen, die die Wurzeln pflanzten, aus denen sie heute deren Erinnerungen weiterlebt.

"Für die Menschen ist der Wandel in den Neunzigerjahren verheerend. Wie eine schützende Decke ist der Kommunismus über ihren Köpfen weggerissen wurden, und nun ist Selbstständigkeit gefragt. Woher aber Selbstständigkeit nehmen, wenn man ein Leben lang Gehorsam gelernt hat?“ (S. 107)
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Waljas Mutter Lena verließ 1988 das „zerfallende Land“ (vgl. S. 40), um nach Deutschland zu gehen; ihr Bruder Mischa begleitete sie, doch er fühlte sich ratlos in der Fremde, einsam in der Sprache, die er nicht beherrschte, verloren auf den sterilen Gängen des Jobcenters: "Dort im Ausland gab es die erdrückende Selbstverständlichkeit der Unterschied. Ganz so, als gebe es für jeden Menschen eine eigene Realität." (S. 40)
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Sieben Jahre später kehrte er zurück nach Kasan, zurück in die Wohnung seiner Kindheit. Er ist der einzige Mann, der geblieben ist, waren sämtliche Väter aus dem Leben der Frauen verschwunden: „Tanjas Mann war im Krieg gefallen, Ninas Mann hatte sich mit einem Haufen Eier, Brot und Butter in den Herzinfarkt gefressen, und Lenas Mann hatten die Trümmer der Sowjetunion unter sich begraben. Die Gesichter der Väter geisterten fortan in den Köpfen dieser Frauen, und sie fanden die Linien nicht wieder. Die Frauen krempelten die Ärmel hoch. Sie hatten die Kinder zu versorgen, die Tiere zu füttern und die Pflanzen zu gießen." (S. 165) Das war ihnen, diesen so unterschiedlichen Frauen, gemein: ihr Wunsch nach Unabhängigkeit, Selbstbestimmtheit. Und doch spielten auch die politischen Umstände, der Zerfall der Sowjetunion und die damit verbundene Armut eine wegweisende Rolle in ihrer aller Leben.
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Berührend und zermürbend, bisweilen bitter-ironisch und humorvoll sind die Bilder, die Valery Tscheplanowa zeichnet, und von einer sepiafarbenen Weichheit. Sie erzählt von der Rolle des Glaubens und Heiligenbildern, vom Verliebtsein und der Angst vor Einsamkeit, von Fürsorge und Mutterliebe – und dem Fehlen derselben –, vom Älterwerden und dem Tod, von Narben, die die Jahre, die Generationen überdauern und fortleben. Und von den blinden Flecken unserer Geschichte, die wir zu füllen versuchen. Während ich die erste Hälfte förmlich inhaliert habe, vollends geborgen in der Sprache und diesen besonderen Figuren, verlor mich die Geschichte zum Ende hin aus mir unerfindlichen Gründen. Ich kann nicht genau sagen, ob es letztlich die fehlende Präsenz der Erzählerin innerhalb der einzelnen Anekdoten ist, der schleichende Wandel der Tonalität, oder doch das zeitliche Setting, in dem ich das Buch las. Davon abgesehen hatte ich nämlich durchaus das Gefühl, dass das ein unbedingtes Highlight werden würde. Und das wünsche ich mir sehr.

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