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Veröffentlicht am 12.03.2024

Außen hui, innen pfui

9mm Cut
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Sybille Ruge ist eine Autorin, die ich seit ihrem Erstling „Davenport 160x90“ auf der Watchlist habe. Mit „9mm Cut“ folgt nun ihr zweiter Roman, und auch dieser hat es geschafft, mich äußerst positiv zu ...

Sybille Ruge ist eine Autorin, die ich seit ihrem Erstling „Davenport 160x90“ auf der Watchlist habe. Mit „9mm Cut“ folgt nun ihr zweiter Roman, und auch dieser hat es geschafft, mich äußerst positiv zu überraschen.

9mm, das ist exakt die Höhe, auf die der Mähroboter eingestellt ist, der tagaus, tagein über den Rasen der Züricher Karnofsky-Villa fährt, um Außenstehenden den Eindruck von Funktionalität, Prosperität und Integrität zu suggerieren. Doch schiebt man die Kulissen beiseite, sieht’s dahinter ganz anders aus.

Der Prachtbau ist marode, die Familie im höchsten Maß dysfunktional. Max Karnofsky, Vorstand der NGO „Interni“, ist ein weinerlicher heavy Trinker und hat keine Kontrolle mehr über die Verwendung der Stiftungsgelder, seine Frau Hell (nomen est omen) kreist um ihr eigenes Projekt und bereitet klammheimlich ihren Abgang vor, die beiden Kinder, sich selbst überlassene Manövriermasse mit seltsamem Benehmen auf der Suche nach Zuwendung.

Im Zentrum des Vulkans eine taffe Spezialistin für besondere Missionen mit dem Decknamen Eve Klein, engagiert von Fleisch-Tycoon Wellinghofen, Hauptmäzen der Stiftung, der die Gelegenheit sieht, gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Zum einen sind da die Barmittel, die eine Wäsche vertragen könnten, zum anderen macht er sich große Sorgen über die Vorgänge bei Interni (ein erschossener Geschäftsführer, ein abgetrennter Kopf auf der Schwelle, ein offensichtlich überforderter Stiftungsvorstand und nicht zuletzt der kreative Umgang mit den Barmitteln, die eigentlich benachteiligten Jugendlichen zugutekommen sollten), die seinen guten Ruf in der Öffentlichkeit gefährden könnten. Also muss Eve nach Zürich, um sich die Lage vor Ort anzuschauen und in die von Gier und Skrupellosigkeit dominierte Welt des Big Business einzutauchen.

Hört sich alles bekannt an, aber was diesen Roman von den üblichen 08/15-Thrillern unterscheidet, ist in erster Linie die Sprache. Bei Ruge gibt es kein Drumherumgerede, da ist jeder Satz ein Statement. Hart und präzise, kurz und knapp und dennoch auf den Punkt. Gleichzeitig überrascht sie mit entlarvenden Beobachtungen à la „Die Gäste standen Schlange für ein Foto mit dem Aufdruck A BETTER WORLD. Komplizen, die mit wohltemperierter Hilfe eine Eintrittskarte für die himmlische Seligkeit zu erschwinglichen Preisen erwarben. Die Oberschicht ergreift Partei für die Abgehängten, solange die Sicherheitsanlagen funktionieren…(S. 203)“. Dazu jede Menge pointierte Vergleiche und nicht zuletzt ein erfrischend trockener Humor. Eine seltene Kombination in einem Genre, das sich eher auf die Handlung als auf die Sprache konzentriert, aber gerade deshalb höchst willkommen ist.

Ein ungewöhnlicher, ein faszinierender Roman/Thriller, den ich allen nachdrücklich empfehle, die gerne auch abseits des Mainstream lesen.

Veröffentlicht am 08.03.2024

Schwarz und weiß

Bird
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„Bird“ ist der zweite Roman des australischen Autors Adam Morris, ein Gefängnisroman, und der Autor weiß, worüber er schreibt. Filmemacher, Musiker, Sonderpädagoge und Universitätsdozent, hat er in Haftanstalten ...

„Bird“ ist der zweite Roman des australischen Autors Adam Morris, ein Gefängnisroman, und der Autor weiß, worüber er schreibt. Filmemacher, Musiker, Sonderpädagoge und Universitätsdozent, hat er in Haftanstalten nicht nur mit Indigenen gearbeitet, genau hingeschaut, sich mit Zuständen drinnen und draußen auseinandergesetzt und diese in „Bird“ verarbeitet. Ein fiktionaler Text, fußend auf seinen Beobachtungen, der realistischer nicht sein könnte, weil er eine Gesellschaft unter die Lupe nimmt, in der der Umgang miteinander von tief sitzendem Rassismus geprägt ist. Er erzählt von Herkunft, von Armut und Chancenlosigkeit, von kulturellen Unterschieden und Identität, von falschen Entscheidungen und dem Wunsch nach Veränderung. Und von einem Justizsystem, das bestehende Zustände zementiert und den für viele Aborigines verhängnisvollen Kreislauf am Leben hält.

Im Zentrum des Romans steht Carson, ein junger, intelligenter Häftling, ein Noongar, Ureinwohner, der so viele Möglichkeiten hätte, wenn er weiß wäre. So aber im System gefangen ist, mal draußen und mal drinnen. Kehrt er in sein altes Leben zurück, wehrt sich gegen rassistische Übergriffe, ist es nur eine Frage der Zeit, bis er wieder in den Fängen der Justiz landet. Keine Chance, sich aus diesem Teufelskreis, aus den Bedingungen eines Lebens zu befreien, das nicht gut ausgehen kann. Um dies eindringlich zu veranschaulichen arbeitet Morris mit verschiedenen Perspektiven, in denen die unterschiedlichsten Personen (meist weiß) d.h. Lehrer, Sachbearbeiter, Psychologin, Gefängniswärter, Knastkumpel etc. über Carson sprechen, ihre Eindrücke schildern, wobei sie allerdings gleichzeitig sich selbst entlarven, indem sie ihre Rollen offenbaren, mit denen sie dieses fatale System stützen und am Laufen halten.

Ein Kriminalroman, der Einblicke gewährt, aufrüttelt und nachdenklich macht. Ungeschönt und ehrlich, düster und rau. In der gelungenen Übersetzung von Conny Lösch, deshalb sprachlich wie immer auf höchstem Niveau.

Veröffentlicht am 03.03.2024

Denkmale

Marseille 1940
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Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten am 30.01.1933 nimmt das Unheil seinen Anfang. Grundrechte werden abgeschafft, Regimekritiker schikaniert, verfolgt, verhaftet. Angst um Leib und Leben ...

Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten am 30.01.1933 nimmt das Unheil seinen Anfang. Grundrechte werden abgeschafft, Regimekritiker schikaniert, verfolgt, verhaftet. Angst um Leib und Leben greift um sich. Zahllose Intellektuelle verlassen daraufhin Deutschland, viele von ihnen suchen Zuflucht in Frankreich. Doch was anfangs als sicherer Hafen erscheint, erweist sich spätestens nach dem nationalsozialistischen Einmarsch und der Auflösung der Dritten Französischen Republik durch das Vichy-Regime als Illusion. Die Lage ist für die Emigranten dramatisch, spitzt sich zu, ihre Sicherheit ist in Gefahr. Wenn sie ihr Leben retten wollen, müssen sie auf dem schnellsten Weg das Land verlassen.

Hier setzt Uwe Wittstocks Chronologie „Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur“ an, denn es ist die französische Hafenstadt im Süden, die Anna Seghers, Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger, Walter Benjamin, Heinrich und Golo Mann, und noch viele andere hoffen lässt, dieser ausweglosen Situation zu entkommen. Nicht zuletzt, weil es von dort aus Fluchtrouten Richtung Westen gibt. Zu Fuß über die Pyrenäen, Spanien durchquerend nach Portugal, oder im direkten und besten Fall mit einem Schiff nach Amerika.

Hilfestellung dabei leisten dabei der amerikanische Journalist Varian Fry und das von ihm gegründete „Emergency Rescue Committee“. Fry kümmert sich mit seinen Helfern vor Ort um die Exilanten, besorgt Pässe, Transit- und Aus- und Einreise-Visa, auch wenn das amerikanische Konsulat ihm immer wieder Steine in den Weg legt und die Hilfe verweigert, weil sie panische Angst davor haben, Linksintellektuelle ins Land zu lassen.

Nicht alle konnten gerettet werden, und dennoch, trotz aller Widerstände und Schwierigkeiten können Varian Fry und seine Helfer weit über 2000 Menschen die Flucht ermöglichen und sie so vor dem sicheren Tod bewahren.

Wittstock hat sich in seiner chronologischen Darstellung an die Fakten gehalten und auf die Quellen gestützt (siehe dazu auch die umfangreiche Bibliografie am Ende des Buches). Und obwohl es ein Sachbuch ist, hat es durch die Vielzahl der beschriebenen Schicksale fast schon romanhafte Züge und ist wegen der anschaulich und feinfühlig beschriebenen Schicksale sehr anrührend, aber gleichzeitig auch unglaublich spannend. Das Buch schafft ein literarisches Denkmal für Varian Fry und seine Helfer, beschreibt deren Tatkraft, Mut und Menschlichkeit. Aber es ist auch ein Denkmal für alle diejenigen, die ihre Heimat verlassen mussten und zu einem Neuanfang gezwungen waren, sowie eine Erinnerung an all die Literaten, Künstler, Intellektuelle, an die Menschen, denen dies nicht gelungen ist. Ganz große Leseempfehlung!

Ergänzend dazu empfehle ich Jean Malaquais‘ Roman „Planet ohne Visum“ und die siebenteilige Miniserie „Transatlantic“, aktuell bei Netflix verfügbar.

Veröffentlicht am 22.02.2024

Eine entlarvende Odyssee, die den Spiegel vorhält

James
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Bei Retellings bin ich grundsätzlich skeptisch, da diese oft nur alter Wein in neuen Schläuchen sind. Aber nachdem Percy Everett spätestens 2022 mit seinem auf der Shortlist des Booker Prize stehenden ...

Bei Retellings bin ich grundsätzlich skeptisch, da diese oft nur alter Wein in neuen Schläuchen sind. Aber nachdem Percy Everett spätestens 2022 mit seinem auf der Shortlist des Booker Prize stehenden „Die Bäume“ überzeugen konnte, sollte sein neuer Roman „James“ durchaus einen Blick wert sein. Auch, oder gerade deshalb, weil er hier eine Figur aus Mark Twains Klassiker „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ ins Zentrum stellt, die uns allen bekannt sein dürfte.

Zwei auf der Flucht, eine Schicksalsgemeinschaft auf dem Weg in ein neues Leben. Der titelgebende James, der entlaufene Sklave, der verkauft und von seiner Familie getrennt werden soll und Huck, der vor den Misshandlungen durch seinen Vater flüchtet. Zusammen auf dem Mississippi gen Norden in Richtung Freiheit unterwegs. Wie im Original eine Reise voller Gefahren. Was allerdings diesen Roman besonders macht, ist die Perspektive, die sich aus dem geänderten Blick ergibt und so die Twain’sche Erzählung auf den Kopf stellt.

Es ist ein Roman über Rassismus und Ungleichheit. Über Vorurteile und die Befreiung davon. Über maskierte schwarze Identität, die es zu verbergen gilt – selbst in einer Gruppe von Black Face Sängern. Über Sprache, die eine Überlebenstaktik darstellt, um den Weißen ihre Überheblichkeit zu bestätigen. Eine dunkle, erschütternde und entlarvende Odyssee, die den Spiegel vorhält. Es ist ein Roman über Rassismus und Ungleichheit. Über Vorurteile und die Befreiung davon. Über maskierte schwarze Identität, die es zu verbergen gilt – selbst in einer Gruppe von Black Face Sängern. Über Sprache, die eine Überlebenstaktik darstellt, um den Weißen ihre Überheblichkeit zu bestätigen. Eine dunkle, erschütternde und entlarvende Odyssee, die den Spiegel vorhält. Eine bitterböse Satire voll mit komischen Momenten, die allerdings dafür sorgen, dass einem das Lachen im Hals stecken bleibt. Großartig!

Veröffentlicht am 31.01.2024

Amerikas Hund

Demon Copperhead
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Ein entlarvender Blick auf das „Land of the Free and Home of the Brave“: In den Appalachen gibt es mittlerweile “zwischen 15 und 35 Prozent Kinder, die nicht von ihren Eltern großgezogen werden, weil sie ...

Ein entlarvender Blick auf das „Land of the Free and Home of the Brave“: In den Appalachen gibt es mittlerweile “zwischen 15 und 35 Prozent Kinder, die nicht von ihren Eltern großgezogen werden, weil sie abhängig, im Knast oder tot sind“, so Barbara Kingsolver in einem Interview im Juli 2023. Kinder ohne Zukunft, die von Geburt an chancenlos sind, von staatlichen Institutionen auf ihrer Reise durch das amerikanische Pflegesystem verwaltet werden. Ihnen gibt Barbara Kingsolver eine Stimme in ihrem mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten neuen Meisterwerk „Demon Copperhead“, in dem sie, inspiriert von Charles Dickens‘ David Copperfield, einerseits scharfe Kritik an diesem herzlosen System einer gespaltenen Gesellschaft übt, andererseits aber auch mit den strukturschwachen Appalachen eine Region in den Fokus rückt, deren Bewohner geringschätzig wahlweise als Hinterwäldler oder Hillbillys bezeichnet werden. Auch für diese Menschen und ihre Lebensweise bricht die Autorin eine Lanze, ist sie doch im ländlichen Kentucky an den Ausläufern der Appalachen aufgewachsen.

Demon aka Damon Fields hat keine guten Startbedinungen. Geboren von einer achtzehnjährigen Drogenabhängigen in einem Trailer in Lee County, West Virginia, eine Region, die Schaden genommen hat, durch den Wegzug der Kohleindustrie wirtschaftlich am Boden liegt. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, aber die Zahl der Suchtkranken ist um ein Vielfaches höher. Keine Perspektive für niemanden, insbesondere für die Kinder und Juegendlichen. Was allerdings noch immer funktioniert, ist der Zusammenhalt, ein Verdienst der älteren Generation, die ihre Heimat lieben und die alten Werte der Appalachen bewahrt haben. Die sich kümmern und einspringen, wenn sonst niemand mehr da ist. Aber auch das bewahrt Demon nicht vor den schmerzhaften Erfahrungen, die der Elfjährige nach dem Tod seiner Mutter nach einer Überdosis machen muss und auch bei ihm schließlich in die Sucht münden.

Das alles beschreibt Kingsolver in beeindruckender Weise und weckt damit Verständnis für ihre ehemalige Heimat. Aber sie lässt uns auch ihre unbändige Wut über das systemische Versagen der Regierung in allen Bereichen spüren, klagt im gleichen Atemzug die Gier und Rücksichtslosigkeit der Pharmaindustrie an, die skrupellos mit Opioiden ihre Profite auf dem Rücken der Ärmsten macht und ganze Regionen in den Abgrund zieht.

Jetzt schon mein Highlight des Jahres, dem ich viele Leser wünsche!

Nachtrag: Zur Vertiefung des Themas empfehle ich in gedruckter Form „Hillbilly-Elegie“ von J.D. Vance und „Dopesick“ von Beth Macy. Beide Bücher auch verfilmt und unter den gleichen Titeln bei Streamingdiensten abrufbar. Ebenfalls einen ungeschönten Eindruck vom Leben im ländlichen Kentucky (hier Harlan County) vermittelt Elmore Leonards „Raylan“, als mehrteilige Minisierie unter dem Titel „Justified“ verfilmt.