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Veröffentlicht am 23.02.2023

Religionskritischer Spannungsroman

Kathedralen
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Die argentinische Autorin Claudia Pineiro greift in ihrem 2020 erschienen Roman „Kathedralen“ wichtige Themen aus der damals heiß geführten Debatte in der argentinischen Gesellschaft auf: Abtreibungen ...

Die argentinische Autorin Claudia Pineiro greift in ihrem 2020 erschienen Roman „Kathedralen“ wichtige Themen aus der damals heiß geführten Debatte in der argentinischen Gesellschaft auf: Abtreibungen und die Rolle der katholischen Kirche in diesem Zusammenhang.

Vor 30 Jahren ist das 17jährige Mädchen Ana auf schreckliche Art und Weise ums Leben gekommen. Ihr Körper wurde verkohlt und zerstückelt auf einem verlassenen Grundstück gefunden. Nun 30 Jahre später erkunden wir zusammen mit Akteuren rund um das Geschehen von damals die Hintergründe der Tat und entdecken menschliche Abgründe.

Durch einen multiperspektivischen Ansatz beleuchtet Pineiro das Geschehen und die Persönlichkeiten um Ana herum aus sieben verschiedenen Perspektiven. So tauchen wir ein in die Gedankenwelt nicht nur ihrer beider älteren Schwestern, sondern auch einer sehr engen Freundin, Marcela, einem damaligen Ermittler oder den Männern der Familie, Vater, Schwager und Neffe von Ana. Zeigt sich dadurch eindrücklich bei den beiden Schwestern, dass diese unterschiedlicher nicht sein könnten, vor allem in ihrer Position der katholischen Kirche gegenüber, ist vor allem die Perspektive von Marcela, welche im Rahmen der Geschehnisse ein gedecktes Schädel-Hirn-Trauma erlitt und nun an einer anterograden Amnesie leidet, äußerst interessant umgesetzt. Die verschiedenen Figuren bekommen alle ihre Eigenheiten zugesprochen und unterscheiden sich nicht nur in ihrer Wahrnehmung der Ereignisse, Einstellungen, Glaubenssätze sondern auch ihrem Ausdruck und Form. Das macht das Buch sehr abwechslungsreich und spannend. Nach und nach bekommen wir Hinweise, was damals wirklich zum brutalen Tod von Ana geführt hat. Dass man schon früh alle Puzzleteile zusammensetzen kann und kaum Überraschungen bezogen auf die Tat an sich auftreten, hat mich nicht weiter gestört. Vielmehr ist der Blick in die Köpfe der Figuren hier spannend. Denn es werden durch die einzelnen Personen die Wut der Autorin auf die Zustände in ihrem Heimatland klar verdeutlicht. Auch dass es hier eine klare Einteilung in gute und böse Figuren gibt, die sich auch während der Lektüre wenig wandelt, ist für mich als Anregung zur Diskussion über die Themen der Bigotterie fanatisch-katholischer Gläubigen, einer ins Gesellschaftssystem über die Maßen eingreifenden katholischen Kirche sowie dem patriarchalen Machtgefüge mit (jungen) Frauen als Leidtragenden eines scheinheiligen sozialen Umfelds im Rahmen des Romans gut zu rechtfertigen.

Pineiro schreibt unglaublich süffig und man verschlingt die Seiten nur so. Dabei greift sie auf Mittel des unterhaltenden Spannungsromans zurück, weniger bis gar nicht auf literarisch anspruchsvolle Stilmittel. Das Denken wird den Leser:innen dieses Romans größtenteils abgenommen und Überlegungen fast immer vollständig ausformuliert. Damit muss man sich arrangieren, wenn man den vorliegenden Roman gewinnbringend lesen möchte. Für mich persönlich war dieser Roman informativ und spannend zugleich. Trotz des tonnenschweren Themas liest er sich leicht, wenngleich auch äußerst brutale Verstümmelungen geschildert werden, auf die ich im Zweifel in ihrer Ausführlichkeit hätte verzichten können. Da merkt man der Autorin die Nähe zum Krimi- oder Thriller-Genre sehr stark an.

Die bringt Autorin die gesellschaftlich äußerst relevanten Themenfelder der religiös motivierten Gewalt und Gewalt an Frauen detailliert recherchiert zu einem sehr guten Spannungsroman zusammen. Mir hat es zur Abwechslung wirklich sehr gefallen, einfach einmal ein Buch schön süffig „weglesen“ zu können, ohne noch zwei bis drei weitere Bedeutungsebenen innerhalb eines Satzes herausfinden zu müssen. Ich wurde gut unterhalten, auch wenn ich sonst i.d.R. literarisch anspruchsvollere Sachen lese. Somit komme ich unter der Prämisse "Spannungsroman" auf 4 Sterne.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 10.02.2023

Über Einsamkeit und den unkonventionellen Weg in eine Gemeinschaft

Oben Erde, unten Himmel
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Die in einer größeren japanischen Stadt lebende Suzu ist gerade nicht nur aus ihrem Job als Kellnerin in einem Familienrestaurant gefeuert worden, sondern auch „geghostet“, das heißt ein Liebhaber hat ...

Die in einer größeren japanischen Stadt lebende Suzu ist gerade nicht nur aus ihrem Job als Kellnerin in einem Familienrestaurant gefeuert worden, sondern auch „geghostet“, das heißt ein Liebhaber hat von jetzt auf gleich vollständig den Kontakt zu ihr abgebrochen und Suzu wie eine heiße Kartoffel fallengelassen. Sie selbst zog eigentlich vor fünf Jahren in die Stadt, um zu studieren, brach das Studium jedoch nach nur kurzer Zeit wieder ab. Nun treibt sie durch ihre einsames Leben und trifft unvermittelt durch ein nebulöses Stellenangebot auf ihren neuen Chef Herrn Sakai, sowie einige neue Kollegen und zukünftige Freunde. Ihre neue Arbeit ist nichts Alltägliches – zumindest für uns Europäer:innen – , denn die ist nun Leichenfundortreinigerin. Im Japanischen gibt es eigenes ein Wort für den „einsamen Tod“ von Menschen, die in sozialer Isolation leben und mitunter erst Wochen später nach ihrem Versterben in den eigenen vier Wänden gefunden werden. Dieses Wort ist „Kodokushi“ und ein einsamer Verstorbener ist ein sog. „Kodokusha“.

Flašar entwirft nun eine reizende Geschichte um die Mitte Zwanzig Jährige Suzu und die vielen, toll ausgeleuchteten Nebenfiguren um sie herum. Es geht um die Vereinsamung in den städtischen Häuserblocks, aber eben auch um den Weg hin in eine neue Gemeinschaft. Vom Allein- und Einsamsein hin zum Zusammensein mit anderen, selbst wenn einen mit diesen zunächst nicht viel verbindet.

Sprachlich schreibt die Autorin sehr solide, nutzt ab und an Anglizismen, die ich persönlich manchmal als etwas störend empfand, führt aber letztlich ganz sanft durch diese Welt der Verstorbenen und vor allem der Lebenden. Ganz präzise Beobachtungen und Formulierungen bleiben dabei im Gedächtnis, wie zum Beispiel „Mit Beziehungen war es wie mit Weihnachtsbäumen. Es war schön, einen zu haben, andererseits auch egal, wenn man keinen hatte. Problematisch wurde es eher dann, wenn man unbedingt einen haben wollte und keinen bekam.“ Will Suzu zu Beginn noch unbedingt eine Beziehung und sieht sich auf den entsprechenden Dating-Online-Portalen um, rückt dies mit dem Einzug der realen menschlichen Gemeinschaft in ihre Leben immer mehr in den Hintergrund. Sie entwickelt sich und ihre Wahrnehmung weiter und bemerkt, was viele als selbstverständlich annehmen würden: „Wir lachten. Menschen waren seltsam, dachte ich. Unberechenbar, kompliziert und zutiefst komisch waren sie.“ Suzu entdeckt soziale Kontakte und damit das Soziale in sich selbst. Dabei hilft ihr vor allem der herzliche neue Chef Sakai, eindeutig meine Lieblingsfigur in diesem Roman. Durch seine unkonventionelle Art, sich mit immer neuen Menschen in seinem Umfeld anfreunden zu wollen und sie damit von einem Roboter zu einem Menschen zu machen, ist einfach herzerwärmend.

Beim Verstehen des Textes und seinen vielen Bezügen zu Japan helfen die Worterklärungen in alphabetischer Reihenfolge im Anhang. Wie immer hätte ich mir gewünscht, dass die entsprechenden Begriffe schon im Romantext auf irgendeine Weise hervorgehoben worden wären. Aber sei es drum. Insgesamt handelt es sich um eine wunderschöne Veröffentlichung des Wagenbach Verlags, die sich optisch ebenso schön in die vorangegangen Romane der Autorin einordnet.

Somit ist „Oben Erde, unten Himmel“ ein äußerst lesenswerter Roman, der zwar zum Thema Einsamkeit und Gemeinschaft im Allgemeinen nicht mehr allzu viel Neues beitragen kann, aber dafür im Speziellen mit Blick auf die japanischen Kultur und das Kodokushi wirklich sehr wissenswert und erhellend ist. Ich habe das Buch sehr gerne gelesen und wünsche ihm sowie dem behandelten Themenbereich viel Aufmerksamkeit.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 09.02.2023

Wenn eine Krise der nächsten den Rang abläuft

Liebes Arschloch
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„Liebes Arschloch, ich habe deinen Beitrag auf Insta gesehen. Du bist wie die Taube, die mir im Vorbeiflug auf die Schulter kackt.“ So beginnt die Replik einer mit fünfzig schon „alternden“, aber immer ...

„Liebes Arschloch, ich habe deinen Beitrag auf Insta gesehen. Du bist wie die Taube, die mir im Vorbeiflug auf die Schulter kackt.“ So beginnt die Replik einer mit fünfzig schon „alternden“, aber immer noch bekannten französischen Grand Dame des Schauspiels, Rebecca, auf den Post eines Mannes, der sie aus dem Nichts im Internet mit Tiefschlägen bezüglich ihres Aussehens diffamiert. Kein Wunder, dass sie da mal kurz die Contenance verliert. Nur hat es Rebecca sowie faustdick hinter den Ohren, wie man im Verlaufe dieses eindrücklichen Briefromans erfährt. Ihr Gegenüber ist Oscar, ein dreiundvierzigjähriger Schriftsteller, welcher sie noch aus seiner Kindheit kennt. Denn Rebecca war eine Zeit lang die beste Freundin von Oscars Schwester Corinne. Die Dritte und eher passive Teilnehmerin dieser illustren digitalen Runde ist Zoé, Ende Zwanzig und als radikale Feministin der jüngsten Generation in den sozialen Medien unterwegs. Zoé wurde vor einigen Jahren durch das aufdringliche Verhalten Oscars aus ihrer Stelle als Pressereferentin aus Oscars Verlag gekickt. Bevor die MeToo-Bewegung es Frauen ermöglichte, offen über Belästigungen und Machtmissbrauch am Arbeitsplatz zu reden. Mit einem Post auf ihrem Blog kommt nun ein Shitstorm ins Rollen, der nicht nur Oscar sondern auch von rechts außen Zoé zu überrollen droht.

All dies und noch viel, viel mehr bekommen wir als Leser:innen des vorliegenden Briefromans nun über Bande mit. Über mehrere Monate hinweg begleiten wir vor allem Rebecca und Oscar bei ihrer rein digitalen Konversation. Potentielle Leser:innen, die vom harschen Beginn des Romans abgeschreckt werden könnten, kann man beruhigen: Keineswegs verfällt Despentes in eine vulgäre Sprache. Nein, sehr differenziert aber immer authentisch im Sprachstil werden große und wichtige Themen unserer Gegenwart angesprochen und diskutiert. Als Leser:in fühlt man sich dabei empathisch mal zu Rebecca, mal zu Zoé und tatsächlich auch mal zu Oscar hingezogen. Und gleichzeitig hat man das Gefühl von allen Protagonist:innen auch massiv abgestoßen zu werden. Mitunter vertreten sie krasse Standpunkte bezogen auf Feminismus, Drogenkonsum oder die Anti-Coronamaßnahmen, das Altern von Frauen vs. Männern und die damit verbundenen Ansprüche der Gesellschaft an sie.

Nun nutzt die Autorin die Form des Briefromans ganz geschickt, um viele verschiedene Sichtweisen auf einen Sachverhalt ins Rennen zu bringen. Aus vielen Blickwinkeln werden zentrale Themen der letzten Jahre (ausgenommen dem Ukraine-Krieg, welcher im zeitraum des Romanverlaufs noch nicht begonnen hatte) beleuchtet und als Lesende lernen wir unglaublich viel durch die Argumentationslinien der hier Schreibenden. Da sie aus jeweils unterschiedlichen Generationen stammen, treffen gegenteilige Ansichten aufeinander. Man selbst kann sich dann aussuchen, was einen überzeugt. Sehr viele kluge Beispiele zu problematischen gesellschaftlichen Entwicklungen werden von Despentes ins Feld geführt ohne über den gesamten Roman hinweg mit „der einen“ klaren Aussage moralinsauer auf die Rezipient:innen einwirken zu wollen.

Punkte Abzug gibt es meinerseits nur für die recht platte Art, wie der Emailkontakt von der Autorin eingefädelt wird. Da fragt man sich zu Beginn doch, warum überhaupt diese Personen so ausführlich einander schreiben, wenn sie sich doch auf den ersten Blick außer Beleidigungen nicht viel zu sagen haben. Recht schnell wird es dann aber inhaltlich intensiv mit persönlichen Einblicken und Eingeständnissen der Protagonisten. Zusätzlich wirkt es dann recht offensichtlich konstruiert, dass hier scheinbar jeder jeden kennt. Diese Kritikpunkte treten aber hinter dem Großen und Ganzen zurück.

Die Veränderungsfähigkeit der Figuren über diesen recht langen Zeitraum der Korrespondenz hinweg hat mit hingegen sehr gut gefallen und war auch sehr gut nachvollziehbar und plausibel erzählt. Diese Flexibilität und Plastizität wurde ja auch von uns verlangt in den letzten Jahren. Eine Krise, ein Skandal löste den nächsten ab. So konstatiert Rebecca an einer Stelle, als gerade das Coronavirus in Europa Einzug gehalten hat, gegenüber Oscar, der noch mitten in seinem Belästigungsskandal steckt: „Und in diesem Schlamassel denke ich an dich, mein dummer Freund. Und sage mir, du wirst erleichtert sein. Dieses verdammte Coronavirus wird deinem #MeToo den Rang ablaufen…“ Eine Krise läuft hier der vorherigen den Rang ab. Ja, genauso sahen unsere letzten Jahre aus auf der Welt.

Virginie Despentes entwirft einen klugen Briefroman, der sprachlich wie auch inhaltlich überzeugt. Ich habe ihn sehr gern gelesen, während die Seiten nur so dahinflogen. Eine klare Leseempfehlung meinerseits.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Gute Fortsetzung zu „22 Bahnen“

Windstärke 17
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Ich muss zugeben, dass ich bezüglich dieses Fortsetzungsromans von Caroline Wahl zwiegespalten bin. Ihren Roman „22 Bahnen“ empfand nicht nur ich damals als ganz starkes Debüt und er wurde sogar zum „Lieblingsbuch ...

Ich muss zugeben, dass ich bezüglich dieses Fortsetzungsromans von Caroline Wahl zwiegespalten bin. Ihren Roman „22 Bahnen“ empfand nicht nur ich damals als ganz starkes Debüt und er wurde sogar zum „Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels 2023“ gekürt. Meines Erachtens vollkommen zu Recht! Dort drehte sich alles um Tilda, Anfang Zwanzig, die mit Nebenjobs versucht nicht nur ihr eigenes Mathematik-Studium zu finanzieren, sondern auch noch das Leben der alkoholkranken Mutter und ihrer kleinen Halbschwester Ida. Sie trifft außerdem einen alten Schulkameraden Viktor wieder, verliebt sich nach ersten Anlaufschwierigkeiten, denn auch er hat familiär viel zu tragen, und schafft es letztlich sich mit ihrer schwierigen Familiensituation auseinanderzusetzen und für eine andere Stadt und damit ihren Traum von der Promotion zu entscheiden.

Warum erzähle ich hier, was in „22 Bahnen“ passiert? Weil vom groben Konstrukt her ähnliches in „Windstärke 17“ passiert. Hier begleiten wir die nun auch Anfang Zwanzigjährige Ida, die ihr Literaturstudium weiterhin in der Heimatstadt verfolgte und bei der alkoholkranken Mutter wohnte. Nun erfahren wir allerdings, dass die Mutter vor wenigen Wochen verstorben ist und Ida muss mit ihrer Trauer aber auch mit der Entscheidung, wie ihr Leben weitergehen soll, zurechtkommen. Sie flüchtet auf die Insel Rügen, wird von einem liebevollen, alten Ehepaar aufgenommen und lernt Leif, der ebenso familiär und persönlich schon viel zu tragen hat, kennen und verliebt sich nach ersten Anlaufschwierigkeiten in ihn. Mithilfe von Leif und dem Ehepaar lernt sie mit ihrer Trauer umzugehen, sich mit ihrer schwierigen Familiensituation auseinanderzusetzen und für ihren Wunsch vom Schreiben zu entscheiden. Während für Tilda das Freibad und die Regelmäßigkeit des Bahnenschwimmens ein wichtiger Copingmechanismus ist, stellt dies für Ida die Ostsee und das lebensgefährlich weite Rausschwimmen dar. Fällt euch etwas auf?

Für sich genommen ist „Windstärke 17“ wieder ein schön geschriebener Roman, der Menschen in belastenden Lebenssituationen zeigt und die Möglichkeiten diese mit Hilfe von anderen und durch eigene gefundene Stärke zu bewältigen. Das kann Caroline Wahl wirklich sehr gut. Allerdings drängt sich für mich die Frage auf, warum dieser Folgeroman unbedingt so stark dem erfolgreichen Debüt ähneln muss. Natürlich gibt es auch Unterschiede, keine Frage. Aber diese reichen mir nicht aus, um eine erneut hervorragende Leseerfahrung zu haben. Außerdem störten mich in diesem Buch die Dialoge ab und an. Diese wechseln zwischen in Anführungszeichen gesetzte Sätze, die im Fließtext auftauchen (so mag ich es) und Dialogen, die formell wie in einem Theaterstück über Seiten hinweg untereinander angeordnet sind. Mir kommt es generell so vor, als ob dieser Roman dialoglastiger ist als der vorherige. Und das, was ich hier gerade mache, ist auch ein Problem, welches mit der Entscheidung einen so ähnlichen Roman zu schreiben, einhergeht: Man vergleicht unwillkürlich oder auch willkürlich während des Lesens ständig „Windstärke 17“ mit seinem Vorgänger „22 Bahnen“. Diese Nähe tut meines Erachtens dem vorliegenden Roman nicht gut.

Ich habe „Windstärke 17“ durchaus gern gelesen und auch an der ein oder anderen Stelle mit Ida mitgefiebert, fand viele Figuren sehr interessant und die Dynamiken gut dargestellt. Trotzdem habe ich im Hinterkopf wie sehr mir damals „22 Bahnen“ gefiel und ich finde, dieser hier kommt da nicht heran. Und es tut mir so leid, dass ich den Vergleich nicht einfach weglassen kann. Das provoziert die Autorin leider durch ihre Themen- und Plotwahl. Ich hätte gern mal ein ganz anderes Buch dieser vielversprechenden Autorin gelesen.

3,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 13.03.2024

Ausführliche ethische Betrachtung eines medizinischen Durchbruchs

Wir werden jung sein
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Maxim Leo macht es sich in seinem aktuellen Roman zur Aufgabe die Frage, wie einzelne Menschen, die Gesellschaft und die Politik auf eine zufällig entdeckten Verjüngungsmedikation reagieren könnten. Das ...

Maxim Leo macht es sich in seinem aktuellen Roman zur Aufgabe die Frage, wie einzelne Menschen, die Gesellschaft und die Politik auf eine zufällig entdeckten Verjüngungsmedikation reagieren könnten. Das ist ein spannendes Gedankenexperiment, welches hier aber auch literarische Schwächen aufweist.

Ein Forscher der Berliner Charité wollte eigentlich Herzinsuffizienzen heilen, indem er ein Medikament entwickelte, welches die DNA der Herzzellen verjüngen und damit eine symptomatische Verbesserung bis hin zu einem vollkommen gesunden Herzen anstoßen sollte. Ein Jahr nach dem Start der Studie an vier Patient:innen sowie zwei weiteren Testobjekten, die außerhalb der Studie stehen, stellt sich allerdings heraus, dass nicht nur das Herzleiden kuriert ist, sondern eine allgemeine Verjüngung des gesamten Organismus stattfindet. An diesem Punkt der Geschichte setzt die Erzählung ein und verfolgt die nicht nur persönlichen sondern auch gesellschaftlichen Entwicklungen, die ein solches Forschungsergebnis nach sich ziehen kann.

Die Geschichte wird durch einzelne Kapitel strukturiert, welche mithilfe der personalen Erzählperspektive immer wieder die Geschehnisse aus der Sicht einer der betroffenen Testpersonen, als auch des Forschers sowie der Leiterin des Deutschen Ethikrates und in Personalunion Beraterin der Bundesregierung in (medizin-)ethischen Fragestellungen vermittelt. Hier gelingt es Leo sehr gut die einzelnen Erzählstimmen authentisch zu erschaffen, die von einem sechzehnjährigen Jugendlichen, über eine Mitte dreißigjährige Ex-Profischwimmerin, eine Frau Ende Dreißig, die verzweifelt eine Fertilisierungsbehandlung nach der nächsten durchläuft, um endlich schwanger zu werden, bis hin zu einem achtzigjährigen Firmenchef, sowie dem Forscher als auch der Ethikerin rangieren. Das ist wirklich sehr gut gemacht.

Während der Plot seinen Lauf nimmt, der mitunter richtig Spannung erzeugt wie bei einem Wissenschaftsthriller, webt Leo alle erdenklichen Vor- und Nachteile eines solchen Verjüngungsmedikaments für die einzelne Person als auch die Gesellschaft, Wirtschaft, Politik ein. Das passiert meines Erachtens aber manchmal etwas zu gewollt, sodass das Buch über weite Strecken recht edukativ wirkt. Da wirklich jeder Aspekt beleuchtet wird, wird aber auch der Leserschaft das selbstständige Denken fast vollständig abgenommen. Zumindest kann man sich nach Abschluss der Lektüre als hervorragend informiert zum Themenbereich fühlen. Maxim Leo hat hier herausragende Recherchearbeit geleistet. Von der ethisch-wissenschaftlichen Seite finde ich das auch durchaus toll, ist es doch als hätte man gerade einen Bericht des Deutschen Ethikrats in Romanform gelesen. Somit wird die Causa niemals trocken oder langweilig vermittelt. So bleibt einem eigentlich zum Schluss nur noch sich selbst einzuordnen mit seiner informierten Meinung zu den Verjüngungsmedikamenten, denn eine abschließende Einschätzung drückt einem der Roman zum Glück nicht auf.

Für mich zeigen sich kleinere Schwachstellen eher in der literarischen Verarbeitung des Stoffs. Zum einen möchte ich als Leserin gern noch ein wenig selbst nachdenken beim Lesen. Zum anderen finde ich den Abschluss des Romans nicht sonderlich gelungen. Er erscheint etwas schnell runtererzählt. Dabei taucht die Figur der Ethikerin einfach gar nicht mehr auf und verschwindet einfach in der Bedeutungslosigkeit, was meines Erachtens ein Kardinalfehler ist, wenn diese Figur doch zu Beginn zu den Hauptcharakteren gehört hat und sogar immer wieder Einzelkapitel zugestanden bekommen hat. Es wirkt, als hätte der Autor sie einfach in seinem etwas hektischem Schluss tatsächlich vergessen. Zum anderen schließt das Buch mit einer Art Epilog, in dem noch einmal blitzlichtartig ein Blick auf die Leben der einzelnen Protagonist:innen geworfen wird. Das erschien mir zu gewollt angepfropft und machte den Roman eher unrund.

Insgesamt halte ich den sehr soliden Roman als definitiv lesenswert, besonders aufgrund der wirklich ausführlichen Betrachtungen zur Debatte. Wenn man den Roman dann eher als leichtgängigen, unterhaltsamen Beitrag sieht und weniger als ausgefeiltes, literarisches Werk, kommt man definitiv auf seine Kosten. Im besten Falle werden viele Menschen durch den Roman von Maxim Leo für die Thematik sensibilisiert und werden dadurch im – nicht ganz unwahrscheinlichen – Falle der realen Entdeckung eines solchen Medikaments zu mündigeren Bürger:innen. Deshalb habe ich mich abschließend doch für ein Aufrunden entscheiden.

3,5/5 Sterne

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