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Veröffentlicht am 05.05.2024

Grenzen und Wege

Das andere Tal
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Odile ist 16 Jahre alt und lebt in einem begrenzten Tal - es ist abgeschirmt durch strikte Grenzzäune und keinem ist es erlaubt, diese zu überschreiten. Außer die Bewohner:innen stellen einen Antrag - ...

Odile ist 16 Jahre alt und lebt in einem begrenzten Tal - es ist abgeschirmt durch strikte Grenzzäune und keinem ist es erlaubt, diese zu überschreiten. Außer die Bewohner:innen stellen einen Antrag - meist im Trauerfall. Denn im Westen existiert das selbe Tal, nur 20 Jahre in der Vergangenheit, wohingegen sich im Osten das Tal 20 Jahre in der Zukunft befindet. Alleinig die jeweiligen "Conseils" entscheiden, ob der oder die Antragssteller:in reisen darf. Odile entscheidet sich, an der Aufnahmeprüfung für die Schule der Conseils teilzunehmen, um ihren beruflichen Weg in dieser hochangesehenen Tätigkeit zu bestreiten. Doch ein folgenschweres Ereignis verändert ihre Pläne - und somit auch Zukunft und Vergangenheit...

Der kanadische Autor und Philosoph Scott Alexander Howard präsentiert mit "Das andere Tal" sein literarisches Erstlingswerk. Er besticht durch eine atmosphärische, bildgewaltige Sprache, die einen umgehend in diese ganz besondere Welt versetzt. Howard beherrscht die Kunst, die Erzählung voranschreiten zu lassen, ohne dass geahnt werden kann, in welche Richtung sie sich entwickelt. Dabei begleiten einen stets philosophische Denkanstöße über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Gut und Böse, Recht und Unrecht. Erst im Laufe der Zeit wird einem bewusst, dass es sich bei der hier geschaffenen Welt wohl um eine Diktatur handelt, die unbarmherzig mit ihren Bewohner:innen umgeht. Alle haben ihren vorbestimmten Weg, haben sich an die Regeln zu halten, haben keine zweite Chance verdient. Erstaunlich ist, dass sich scheinbar keiner mit diesem strikten Regelwerk auseinanderzusetzen und widersetzen zu scheint, (fast) alle nehmen ihre Lebensumstände als gegeben hin.

Ein besonderes Highlight ist die Hauptprotagonistin Odile. Sie erzählt in der Ich-Form, man bekommt viele Einblicke in ihre Gedankengänge, bis zum Schluss ist es jedoch nicht möglich, sie zu charakterisieren, geschweige denn einzuordnen. Sie scheint ein sehr regelkonformer Mensch zu sein, der sich seinem Schicksal ergibt - allerdings täuscht man sich hier, wie in einigen anderen Aspekten auch. Was aber feststeht ist, dass sie zäh ist. Ihr Leben entwickelt sich in Richtung Hölle auf Erden, aber aufgeben tut sie nie.

Der Roman spielt in unterschiedlichen Zeitabschnitten. Erst begleiten wir die jugendliche Odile, die mit üblichen jugendlichen Problemen kämpft - Schüchternheit, Freundschaft, komplizierte Beziehung zu den Eltern. Der zweite Abschnitt reist 20 Jahre weiter und zeigt eine hoffnungslose Odile, die sich ihrem Schicksal, das von grauenhaften Begegnungen mit den hässlichsten Seiten der Menschheit geprägt ist, fügt. Doch wie erwähnt kommt es immer wieder zu unerwarteten Wendungen in der Geschichte, die einem die Hoffnung nach dem Guten nie gänzlich nimmt.

In den Diskussionen über den Roman wird immer wieder angemerkt, dass die geschaffenen Zeitebenen - die verschiedenen Täler - und der geregelte Umgang damit, unlogisch seien, vom Autor zu wenig erklärt werden. Für meine Wahrnehmung waren die Erklärungen ausreichend, ich habe mich mit dem vorgegebenen Konstrukt zufrieden gegeben. Viel spannender waren für mich die damit einhergehenden philosophischen Auseinandersetzungen, die mir auch viel Stoff gegeben haben, um Parallelen mit der realen Welt herzustellen.

"Das andere Tal" war für mich ein absolutes Lesehighlight, dass mich auch in den Lesepausen immer wieder fest in Gedanken bei der Geschichte sein ließ. Es ist ein fesselndes Werk, dass immer wieder mit unerwarteten Wendungen aufwartet und die Gehirnwindungen ordentlich arbeiten lässt. Die Atmosphäre - Märchenhaftigkeit gepaart mit trister, grauenhafter Realität, wird mir dieses Buch nicht so schnell vergessen lassen. Gespannt warte ich auch weitere Werke des Autors!

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Veröffentlicht am 05.05.2024

Kollektives Wachwerden

Und alle so still
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Elin, Nuri und Ruth führen gänzlich unterschiedliche Leben. Die eine, Elin, ist Influencerin, die Bestätigung durch Follower:innen und Sex sucht, der andere, Nuri, ein junger Mann in prekären Lebensumständen, ...

Elin, Nuri und Ruth führen gänzlich unterschiedliche Leben. Die eine, Elin, ist Influencerin, die Bestätigung durch Follower:innen und Sex sucht, der andere, Nuri, ein junger Mann in prekären Lebensumständen, der kaum zum Schlafen kommt, weil er durch verschiedene, unterbezahlte Jobs seine Existenz sichern muss. Ruth hingegen ist Pflegekraft und ob der Überlastung des Systems hat sie seit Jahren schon kein Privatleben mehr. Alle hechten durch ihr Leben, bis plötzlich Frauen wahllos beginnen, sich auf die Straße zu legen. Das System beginnt zu bröckeln, rapide und unbarmherzig. Und die drei Protagonist:innen suchen ihren Weg im stillen Aufstand.

Mareike Fallwickls neuer Roman "Und alle so still" wurde, nach dem überwältigen Erfolg des Vorgängers "Die Wut die bleibt", sehnsüchtig von der Lesecommunity, Feminist:innen und Presse gleichzeitig erwartet. Für mich ist es eine Erzählung mit Durchschlagekraft - radikal, atemlos und aufschreiend. Grundsätzlich stehe ich "Hypes" skeptisch gegenüber und nachdem ich von erwähntem Vorgängerroman nicht so angetan (der Gewalt wegen) und die Vorschusslorbeeren enorm waren, machte ich mich mit Skepsis über dieses Leseerlebnis. Die Wucht der Erzählung ereilte mich schon auf den ersten Seiten - die Dichte und Unerträglichkeit der Umstände von den Lebenswelten der Protagonist:innen nahm mir fast den Atem, doch konnte ich kaum zu Lesen aufhören. Die Zeit des Aufstands der Frauen kommt unvermittelt, greift in die Erzählung ein und gibt ihr eine Wendung, die das Erzählte in eine andere, eine kollektivere Richtung lenkt. Schnell stellt sich heraus, dass vieles, fast alles nicht mehr funktioniert, wenn Frauen ihr vermeintliches Soll nicht mehr leisten. Die Gesellschaft kommt zum Erliegen. Des Öfteren musste ich bei der Schilderung des nun auftretenden Ausnahmezustands an "Blackout" denken, wobei ich nicht bezweifle, dass es eine Gesellschaft ohne Frauen wesentlich schlechter träfe als ohne Elektrizität. Immer mehr Frauen schließen sich dem stillen Widerstand an, immer mehr finden sich ein in die sich neu bildende Solidarität unter Frauen (und einiger verbündeter Männer). Natürlich kommt das Erzählte nicht ohne das Aufbegehren der Männer zustande, oft wehren sie sich mit Gewalt gegen die Verweigerung.

Mareike Fallwickl greift vielfältigste, gesellschaftlich relevante Themen auf - allen voran die unbezahlte Care-Arbeit, vorwiegend verrichtet durch Frauen. In einer dystopischen Utopie zeigt sie auf, wohin Ungleichheit, Patriachat, die Geschwindigkeit der Turbogesellschaft - der Kapitalismus - führen - und wie sich stiller Protest dagegen wehren kann. In vielen Besprechungen war zu lesen, dass ihr hier gezeichnetes Bild und die Charaktere unrealistisch seien, keine/r würde so sprechen, keine/r würde so agieren, alles sei vollkommen übertrieben. Natürlich überspitzt sie, verkürzt sie, eskaliert sie. Aber zu was soll Literatur gut sein, wenn sie das nicht darf?

"Und alle so still" ist für mich ein Highlight in dieser Lesesaison und wohl weit darüber hinaus. Der Roman ist rasant, atemberaubend, inspirierend und für viele wohl augenöffnend. Er vermittelt die Hoffnung, dass eine Änderung des Systems möglich ist - wenn wir nur zusammenhalten.

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Veröffentlicht am 17.04.2024

Gefängnis Familie

Ein falsches Wort
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Bergljot kämpft mit ihrer Familie. Vordergründig geht es um eine Erbschaft von zwei Ferienhütten, doch der Kampf ist viel komplexer, viel tiefsitzender: sie wurde als Kind von ihrem Vater missbraucht. ...

Bergljot kämpft mit ihrer Familie. Vordergründig geht es um eine Erbschaft von zwei Ferienhütten, doch der Kampf ist viel komplexer, viel tiefsitzender: sie wurde als Kind von ihrem Vater missbraucht. Doch nicht alle glauben ihr, wollen die Realität nicht anerkennen, verdrängen kontinuierlich - auch weil, das Geschehene lange verdrängt wurde und dann mit voller Wucht wieder ins Bewusstsein rückt. Bergljot nimmt uns mit auf ihren inneren Kampf der Selbstbefreiung von den Fesseln der Familie.

Dieser Roman ist harte Kost, thematisiert er doch das Unaussprechliche. Vigdis Hjorth versteht es, mit ihren klaren Worten, ihren eindringlichen Satzwiederholungen, für die Lesenden eine Ebene zu schaffen, auf der es erträglich ist, den inneren Kampf von Bergljot mitzuverfolgen, wenn auch äußerst herausfordernd. Dieser ist so vielschichtig, dass man ihr jedes Wort glaubt. Es geht hier nicht nur darum den Täter anzuklagen, sondern das ganze System, das ihn stützt. Es geht um Machtmissbrauch, emotionale Erpressung, Vernachlässigung, körperliche Gewalt, der Suche nach Aufmerksamkeit in den unterschiedlichsten Stufen. Die komplexen Beziehungen der Schwestern, des Bruders und vor allem der Mutter zueinander werden aufgedröselt; Hjorth zeigt, dass es niemals eine einfache Antwort geben kann; dass es immer ein System ist, das den Missbrauch stützt. Und über allem steht die Frage des Beweises, die anklagend und mit Fingerzeig auf die Betroffene blickt. Der Roman ist anstrengend zu lesen, es wird einem viel abverlangt, denn das Gedankenkarussell läuft unaufhörlich und scheint nicht aufhaltbar zu sein. Oft wollte ich die Protagonistin packen und schütteln und sie fragen, warum es ihr nicht möglich ist, "einfach" mit der Familie zu brechen, den Kontakt ein für alle mal aufzugeben. Aber die Penetranz und die Verdrängungsgabe besonders der Mutter und der Schwester Astrid sind so stark, dass sie Bergljot nicht loslassen können. Gekonnt werden in die Geschichte Theorien der Psychoanalyse eingeflochten. Es werden auch Bezüge zu Theater oder Filmen hergestellt, allen voran zu dem ersten Dogma 95-Film "Das Fest", in dem es ebenso um Kindesmissbrauch geht, mit dem sich die Protagonistin vergleicht. So krass das Thema ist, umso erstaunlicher ist es, wie subtil Hjorth auch Schwarzhumoriges einfließen lässt, wenn sie über den Gebrauch des Wortes "Inzest" schreibt. Fast ist es unfassbar, wie genial das Thema aufgearbeitet wird, die Komplexität des Geschriebenen ist so tiefgängig, dass man oft vergisst, dass es sich um Autofiktion handelt. Doch mutmaßlich arbeitet Hjorth hier ihre eigene Geschichte auf. Und abgesehen von der Härte der Thematik, ist das Buch einfach eine herausragende Prosa mit schriftstellerischer Brillanz, die sicher eines meiner persönlichen Highlights des Jahres 2024 ist.

Mein Fazit: "Ein falsches Wort" ist ein heftiger Roman, der die Lesenden an ihre Grenzen bringt. Die Autorin schafft es durch ihre feinfühlige Sprache und der Vielschichtigkeit der Aushandlungen innerhalb der Familie, ein Gefängnis nachzuzeichnen, aus dem die Protagonistin nur schwer entkommen kann - jenem der Familie. Ein herausragendes Werk, bei dem es aber aufgrund der Heftigkeit gut überlegt sein soll, ob man sich dem Thema annähern kann oder will.

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Veröffentlicht am 24.03.2024

Über das Dickicht der Generationen

Wir sitzen im Dickicht und weinen
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Valeries Mutter Christina hat Krebs. Die Diagnose trifft die Familie schwer und Valerie bemüht sich, für ihre Mutter da zu sein. Aufgrund ihrer schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung fällt ihr das aber alles ...

Valeries Mutter Christina hat Krebs. Die Diagnose trifft die Familie schwer und Valerie bemüht sich, für ihre Mutter da zu sein. Aufgrund ihrer schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung fällt ihr das aber alles andere als leicht, zudem macht ihr die Tatsache, dass ihr Sohn ein Jahr in Ausland gehen will, zu schaffen. Die Geschichte zeigt, dass schwierige Beziehungen schon seit Generationen in der Familie vorhanden sind und nimmt uns auf eine Entwicklungsreise verschiedener ihrer Frauenfiguren mit.

Felicitas Prokopetz hat ein unglaubliches Talent - sie kann nicht nur hervorragend und einnehmend schreiben, sondern sie hat eine spezielle, feinfühlige Beobachtungsgabe, die sie ins Unterbewusstsein ihrer Protagonistinnen transferiert. Alle beschriebenen Charaktere in "Wir sitzen im Dickicht und weinen" sind eigen, ecken an, gehen auf die Nerven - und wirken dadurch äußerst authentisch. Zudem spannt sie einen weiten Bogen der Entwicklung von weitergegebenen Rollen- und Charakterbildern, die ein Stück weit erklären, weshalb die Figuren zu dem geworden sind, was sie im Moment des Betrachtens sind.

Die einzelnen Kapitel sind kurz und prägnant, oft findet ein Wechsel der erzählten Zeitstränge statt. Es dauert etwas, bis klar ist, wie welche Protagonistin mit wem in direkter Linie verwandt ist, wer die Vorfahrin und Prägerin war. Hauptaugenmerk liegt auf weiblichen Personen, auch weil die Männer in der Geschichte ohnehin meist nur eine untergeordnete Rolle spielten. Die Charaktere sind Einzelkämpferinnen, starke Persönlichkeiten, auch wenn ihnen das selbst oft nicht bewusst ist. Am detailliertesten wird Valerie - die Protagonistin der Gegenwart - beschrieben, die sich offensichtlich bemüht, das Gegenteil ihrer Mutter zu werden, dadurch aber auch Zwänge entwickelt, die weder für ihren Sohn noch für sich selbst gesund sind. Oft habe ich mir beim Lesen gedacht: "bitte, tu das nicht!" oder "wie krass bist du, warum beharrst du so auf deinem Standpunkt?". Besonders am Schluss kann vermutet werden, dass sie einige ihrer Handlungen wohl bereuen wird.

Das Buch regt dazu an intensiv über das Erzählte nachzudenken, oft empfand ich es emotional so heftig, dass ich eine Lesepause einlegen musste, wenngleich ich aber trotzdem unbedingt weiter lesen wollte. Auch hat es mich dazu angeregt, meine eigenen Familienkonstellationen zu reflektieren. Ich fragte mich oft - wie hätte ich selbst in dieser oder jener Situation reagiert? Was hätte ich anders gemacht oder ist das Handeln der Figuren die logische Reaktion auf das Erlebte? Ich mache mir zwar grundsätzlich viele Gedanken zu verschiedensten Themen, kaum jedoch hat mich ein Roman zu einem solchen Gedankenfeuer angeregt. Was ich allerdings sehr schade fand: die Geschichte ist nur 205 Seiten kurz. Ich hatte nach Beendigung der Lektüre das Gefühl, dass so viel noch nicht erzählt ist. Nicht unbedingt über Valerie und Christina, ihre Geschichte wird rund portraitiert, sondern über die anderen Frauen der Familie, die uns nähergebracht wurden. Vielleicht war das nähere Eingehen auf die anderen Charaktere nicht so wichtig für den Ausgang der Geschichte, trotzdem blieb bei mir eine kleine ungeschlossene Lücke zurück. Das tut aber im Endeffekt nichts zur Sache, denn wie auch immer - "Wir sitzen im Dickicht und weinen" zu lesen war eine Bereicherung!

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Veröffentlicht am 19.03.2024

Ein Krimi der etwas anderen Art

Neusiedler Tod
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Nachdem die Journalistin Laura ihren Job bei einem Magazin für medizinische Ästhetik verloren hat, begibt sie sich an den Neusiedler See, um dort einen Reiseführer über die Sehenswürdigkeiten rund um diesen ...

Nachdem die Journalistin Laura ihren Job bei einem Magazin für medizinische Ästhetik verloren hat, begibt sie sich an den Neusiedler See, um dort einen Reiseführer über die Sehenswürdigkeiten rund um diesen Steppensee zu schreiben. Während der Erkundung der Landschaft trifft sie - just an der Österreichisch-Ungarischen Grenze - auf eine Leiche im Wasser. Während die Ermittler den Fall zu lösen versuchen, kann es Laura nicht lassen, sich ihre eigenen Gedanken zu dem Geschehen zu machen. Es beginnt eine umfangreiche Suche nach Motiven, nicht nur zur Tat, sondern auch für Lauras Reiseführer und nach der Richtung, die sie in ihrem Leben einschlagen will.

Bernadette Németh ist mit "Neusiedler Tod" ein kurzweiliges und anspruchsvolles Buch gelungen, das nur auf den ersten Blick ein bloßer Kriminalroman ist. Vielmehr erfahren die Lesenden viel über die Menschen und Kulturen auf österreichischer sowie ungarischer Seite des Neusiedler Sees. Die Charaktere werden vielschichtig und eindrücklich beschrieben, sodass es ein Leichtes ist, sich in deren Situation hineinzuversetzen. Den Schreibstil habe ich als einnehmend und literarisch empfunden. Durch Zeitsprünge bekommen wir Einblicke in die Vorgeschichte der Protagonist:innen - sowohl das künftige Opfer, als auch Laura selbst erhalten Platz, um ihre Charaktere im Laufe der Geschichte weiter zu entwickeln. Auch gesellschaftspolitische Themen werden aufs Tapet gebracht; so spielt der Klimawandel ebenso eine Rolle wie die prekären Arbeitsbedingungen, welchen viele Ungar:innen ausgesetzt sind. Die Autorin hat m.E. ein großes Beobachtungstalent, nicht nur für ihre Figuren, sondern auch für die (Kultur-)Landschaft, in der sie sich bewegen.

Der Kriminalfall selbst wird vorwiegend durch die Wahrnehmungen von Laura beschrieben, es kommen zwar auch Ermittler vor, in die polizeiliche Arbeit werden die Leser:innen jedoch nur sehr am Rande mitgenommen. Dies verleiht dem Fall eine unübliche Perspektive, auch, weil er nicht immer vordergründig thematisiert wird. Zwischendurch erhalten wir Einblicke in die Gedankenwelt des Täters, die einen aber bis am Schluss um dessen Identität im Dunklen lassen, was den Spannungsbogen zusätzlich strafft. Gekonnt werden verschiedene Spuren zu den möglichen Tätern gelegt, die einen immer wieder in die Irre führen. Die Auflösung kommt schlussendlich überraschend.

Mein Fazit: Neusieder Tod ist ein anspruchsvoller Roman mit einem ungewöhnlichen Krimisetting, bei dem der Fall nicht unbedingt im Vordergrund steht. Es ist ein kurzweiliges Buch, das viel erzählt über die Österreich-Ungarische Kulturlandschaft um den großen See, über menschliche Beziehungen, den Wert der Natur und schließlich auch darüber, wie man sich gut täuschen kann. Große Leseempfehlung!

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