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Veröffentlicht am 25.03.2024

Der Aufstieg und Fall eines einfachen Mannes

Die Geschichte eines einfachen Mannes
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In seinem Erstlingswerk verfolgt Timon Karl Kaleyta die Bemühungen eines von sich zu sehr überzeugten Ich-Erzähler in die Höhen seiner Schaffenskraft aber auch wieder zurück nach unten.

Der Ich-Erzähler ...

In seinem Erstlingswerk verfolgt Timon Karl Kaleyta die Bemühungen eines von sich zu sehr überzeugten Ich-Erzähler in die Höhen seiner Schaffenskraft aber auch wieder zurück nach unten.

Der Ich-Erzähler ist dabei auch meiner Sicht total unsympathisch angelegt in seiner überbordenden Eingenommenheit und Egozentrik und trotzdem ist die Lektüre nicht im Entferntesten ärgerlich oder ätzend. Nein, sie ist unglaublich amüsant auf hohem intellektuellem Niveau. Der Plot, die Figur als auch die Geschehnisse sind sehr humorvoll beschrieben. Dabei musste ich durchaus sprachlich an ältere Formen aus den Zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts denken. Mal schelmenhaft, mal Hinterfragen (Aufstieg und Scheitern) des eigenen vorbestimmten gesellschaftlichen Strukturen, mal undefinierbar. Toll.

Wie soll ich beschreiben, dass dieses Schwanken des Protagonisten zwischen schlechten Charakteräußerungen - er gesteht es zwischenzeitlich sogar selbst ein: "Undank und Arroganz, Blasiertheit und Überheblichkeit, Ablehnung und Flucht" - und Verdrängen dieser Einsichten, die für ihn hoffen lassen, ein ums andere Mal immer wieder, indem er von seinem Selbst und seinem Talent dermaßen eingenommen ist, dass er andere nur vor den Kopf stoßen kann, wirklich sehr unterhaltsam zu lesen ist? Es ist ein Auf und Ab, mitunter innerhalb von nur einer Buchseite.

Ich bin total begeistert von diesem gleichsam intelligenten und unterhaltsamen Roman, der sprachlich herausragend geschrieben ist. Ein grandioses Debüt.

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Veröffentlicht am 12.02.2024

Eine Annäherung über Listen

Weltalltage
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Ich sitze hier und versuche mir einen schmissigen Titel für die Rezension zu diesem großartigen Buch einfallen zu lassen. Da „Weltalltage“ von Paula Fürstenberg aber so vielschichtig und im wahrsten Sinne ...

Ich sitze hier und versuche mir einen schmissigen Titel für die Rezension zu diesem großartigen Buch einfallen zu lassen. Da „Weltalltage“ von Paula Fürstenberg aber so vielschichtig und im wahrsten Sinne des Wortes „unbeschreiblich“ ist, fällt es mir schwer, einen solchen Titel zu finden.

Auf der aller obersten, oberflächlichen, inhaltlichen Ebene dreht sich der Roman um die Freundschaft der Erzählerin mit Max. Beide in der DDR kurz vor der Wende geboren und gefühlt schon immer befreundet. Dabei war Max immer der Aufpasser für die Erzählerin, denn diese ist chronisch krank seit der Kindheit, leidet unter anderem an einem medizinisch nicht erklärbaren Schindel, der sie häufig in die Knie zwingt und für sie lebensgefährlich wird, wenn sie z.B. schwimmen gehen will. Das Gefüge zwischen den beiden: Sie die Kranke, Er der Gesunde; bleibt bis sie Dreißig sind so bestehen, bis Max langsam in eine Düsternis abrutscht, die beide nicht schnell genug als eine Depression erkennen. So einfach, so profan. Aber dann kommen noch die anderen Ebenen zum Vorschein.

So betrachtet Fürstenberg auch den Zusammenhang von Biografien und Erkrankungen mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Auf einer soziologischen Ebene begleiten wir Kinder, die in der strukturlosen Nachwendezeit aufwachsen, deren alleinerziehende Mütter überfordert sind und um die existenziellen Grundlagen ihrer Familien kämpfen müssen, wodurch sie fast keine Kapazitäten für die Bedürfnisse ihrer Kinder mehr haben. Diese retten sich durch das Klammern aneinander.

Und eine Ebene weiter ist Fürstenbergs Roman eigentlich gar kein „richtiger“ Roman, denn er besteht ausschließlich aus Listen. Listen, welche nicht aus reinen Stichpunkten bestehen, aber nach denen der Zettelkasten dieser Freundschaftsgeschichte geordnet ist. Das Buch beginnt mit der „Liste möglicher Anfänge dieser Geschichte“. Wir finden bald heraus, warum hier ertastet werden muss, wie der Anfang der Freundschaft zustande gekommen ist. Denn die Erzählerin ist Schriftstellerin, Max ist Architekt. Die Schriftstellerin versucht ein Buch zu schreiben und muss ihre Ideen und Gedanken irgendwie zusammenbringen. Dies gelingt ihr durch Listen. So kommt die „Chronik einiger Verletzungen, die ihr euren Müttern zufügt“ ebenso vor wie ein „Amtliches Verzeichnis einiger Gespräche zwischen Max und dir, die im Nachhinein betrachtet nicht so optimal gelaufen sind“. Anhand dieser übergeordneten Punkte ergibt sich mehr und mehr ein tiefgründiges Bild nicht nur dieser besonderen Freundschaft, sondern auch der Biografien der Figuren, deren Befindlichkeiten und Sorgen.

Weiterhin enthält dieses Buch fast essayistische Passagen, in denen Krankheitsentstehung, die Wahrnehmung von Krankheit in der Gesellschaft, Diagnoseodysseen, die misogyne Medizingeschichte, Krankheit als Metapher in literarischen Texten usw. erforscht werden. Hier werden viele konkrete Zitate eingebunden, die im Anhang des Buches durch ein entsprechendes Literaturverzeichnis unterlegt werden.

Und auf einer Metaebene beobachten wir auch die Figur der fiktiven Schriftstellerin dabei, wie sie diesen Roman, den wir hier in Händen halten, überhaupt erst entwirft. Wie sie gegen Wände rennt, wie sie mit Max verhandeln muss, ob Passagen über ihn im Buch vorkommen dürfen, wie sie eine erzählerische Stimme findet: „Dies ist auch die Geschichte eurer Freundschaft und die begann 1999 in der siebten Klasse. Da hast du noch keine Selbstgespräche in der zweiten Person geführt, da hast du noch ich gesagt, wenn du ich meintest.“ Denn der Text ist vollständig in der Du-Form verfasst. Da muss man sich erst einmal zu Beginn des Buches hineinfinden, aber nach der Eingewöhnungszeit passt diese etwas distanzierte Form perfekt, wird mensch beim Lesen doch dadurch auch immer mit angesprochen.

Und auch wenn das alles jetzt unglaublich überkonstruiert klingt, ist es das dann bei der Lektüre gar nicht so sehr. Alles fließt wunderbar dahin, alles greift ineinander und ergänzt sich, lässt sich wunderbar lesen. Der Text ging mir an vielen Stellen ganz nah, entlockte mir immer wieder Tränen. Dieses Buch ist ein „Ja genauso ist/war es“-Buch für Menschen mit chronischen Erkrankungen, mit Ärzt:innenodyssee, mit „Migrationshintergrund“ aus dem nicht mehr existenten Staat DDR, eine Migration, für die man nicht einmal umziehen musste, und mit vielem mehr in ihrem Erlebnishorizont. Und es ist ein Buch für Menschen, die zwar all diese Erfahrungen nicht gemacht haben, aber die es besser verstehen wollen, wie es sich damit anfühlen kann.

Für mich persönlich stellt dieses Werk von Paula Fürstenberg ein wahres Highlight dar. Ein Roman, den ich in dieser kreativen Form und mit so eindringlich und authentisch vermittelten Inhalten noch nie gelesen habe. Ich bin restlos begeistert und ich weiß, egal, was ich hier schreibe, es wird sowieso weder dem Roman noch meiner Begeisterung gerecht, die ich beim Lesen empfunden habe.

Deshalb:

10/5 Sterne… nein natürlich 5/5 Sterne, geht ja nicht anders. ;)

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Veröffentlicht am 29.01.2024

In Form und Inhalt konsequent erzählte Lebensgeschichte

Ein Tropfen Geduld
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Wir begleiten Ludlow Washington zu Beginn des 20. Jahrhunderts als fünfjährigen Jungen in ein Heim für blinde, schwarze Kinder; zu seinem ersten Engagement als Blasmusiker in eine Südstaaten-Bar; nach ...

Wir begleiten Ludlow Washington zu Beginn des 20. Jahrhunderts als fünfjährigen Jungen in ein Heim für blinde, schwarze Kinder; zu seinem ersten Engagement als Blasmusiker in eine Südstaaten-Bar; nach New York zum großen Erfolg und später mit zum Karrierefall. Ludlow ist ein Genie des Jazz, welchen er wie ein Handwerk betreibt, und er ist blind, und er ist schwarz.

All diese Faktoren verwebt William Melvin Kelley in seinem zweiten auf Deutsch - und viele Jahrzehnte nach der Erstveröffentlichung - erschienenem Roman "Ein Tropfen Geduld". Der Plot wird durchweg flott erzählt. Die Zeit- und Ortswechsel der sechs Romanteile werden durch den gekonnten Einsatz von fiktiven Interviewausschnitten mit dem scheinbar älteren und erfolgreichen Jazzmusiker Ludlow eingeleitet. So springt man viel schneller als erwartet weg vom Heim für Blinde, in welchem - nach nur wenigen Zeilen klar - scheußliche Dinge geschehen. Und landet elf Jahre später mit dem jugendlichen Ludlow bei seinem neuen "Besitzer" (aka Vormund, der ihn jedoch dem Heim aufgrund dessen Talent "abgekauft" wurde) und dessen Band. So zügig geht es durch das gesamte Buch. Was zunächst gewöhnungsbedürftig ist und das Gefühl hinterlässt, man hätte auch ein mindestens doppelt so dickes Buch lesen können und wollen, wirkt im Gesamtkonzept des Buches schlüssig. Ebenso schlüssig erklärt Gerald Early in seinem Nachwort aus dem Jahre 1996, dass Kelley in die Lebensgeschichte Ludlows nicht nur die Geschichte der Afroamerikaner*innen im frühen 20. Jahrhundert sondern auch die musikgeschichtlichen/-theoretischen Phasen des Jazz einwebt. Das ist im Rückblick ganz gekonnt gemacht und schafft somit ein großartiges Buch über ein Einzelschicksal, ein Massenschicksal und ein Musikphänomen.

Besondere Klasse macht für mich aber der konsequente Stil, in dem der Roman geschrieben ist, aus. So schildert Kelley von der ersten bis zur letzten Zeile mithilfe des personalen Erzählers Ludlows Leben allein durch akustische, olfaktorische, gustatorische und haptische Beschreibungen. Nicht ein einziges Mal tauchen visuelle Reize im Buch auf. So legt, laut Gerald Early, der Roman nahe, dass race eine Illusion ist, die jene blind macht, die eigentlich sehen können. Aber selbst ohne diese tiefere Deutung, ist es einfach ein ungewöhnliches und dadurch großartiges Leseerlebnis über 260 Seiten hinweg, Wahrnehmungen zu schärfen, die leider für Sehende häufig völlig außen vor bleiben. Diese Eindrücke, in ihrer Komplexität genauso wie in ihrer Einfachheit der Erkenntnis, hallen noch lang nach und lassen hoffen, dass sich der Verlag bald dazu entschließt, weitere Werke von Kelley auf Deutsch zu veröffentlichen.

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Veröffentlicht am 29.01.2024

Klare Leseempfehlung für ALLE Literaturliebhaber*innen

FRAUEN LITERATUR
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Zugegeben: Nicole Seifert hatte mich schon auf der ersten Seite dieses Buches für sich und ihr Anliegen eingenommen. Und mit der ersten Seite meine ich den Abschnitt zum Sprachgebrauch im vorliegenden ...

Zugegeben: Nicole Seifert hatte mich schon auf der ersten Seite dieses Buches für sich und ihr Anliegen eingenommen. Und mit der ersten Seite meine ich den Abschnitt zum Sprachgebrauch im vorliegenden Buch, welcher dem eigentlichen Text vorangestellt ist. Denn schon hier fängt das an, was im weiteren Verlauf des Buches Programm ist: Seifert macht klar, wann und warum sie "Autorinnen" oder "Schwarze..." oder "weiße..." [kursiv] als Formulierung nutzt. Denn hauptsächlich sexistische aber auch rassistische Strukturen unserer Literaturgeschichte sowie die weiterhin ausgeprägte Misogynie werden hier ausführlich besprochen.

Trotz widriger Umstände gab es schon immer Frauen, die anspruchsvolle Literatur geschaffen haben. Ihre Fähigkeit zum literarischen Schreiben wurde und wird ihnen nicht nur aberkannt, sondern durch festgefahrene männliche Strukturen im Literaturbetrieb aktiv verdrängt und aus dem kulturellen Gedächtnis gelöscht. So klar und hart muss man das sagen. Und nach der Lektüre dieses hervorragenden Sachbuchs ist es selbst den nicht mit einem literaturwissenschaftlichen Studium gesegneten Leser
innen deutlich wie nie zuvor. Etwas, was vor der Lektüre nur als vage Ahnung bestand, wird für uns leicht nachvollziehbar aufbereitet und verändert den Blick auf den Literaturbetrieb grundlegend.

Seifert leitet anhand konkreter historischer Beispiele die strukturelle Herabwürdigung literarischer Werke von Autorinnen eindringlich her. So vergleicht sie zum Beispiel Theodor Fontanes "Effi Briest" (1896), welches in den deutschen Literaturkanon aufgenommen wurde und bis heute in der Schule gelesen wird, mit den fast vergessenen Roman "Aus guter Familie" (1895) von Gabriele Reuter. Beide behandeln ähnliche Themen, sind fast zeitgleich erschienen, waren zur damaligen Zeit erfolgreich. Aber der Roman der Autorin wurde verdrängt (aktiv! nicht nur passiv "vergessen"). Dort, aber auch über die gesamte Literaturgeschichte hinweg zeigt sich, dass - beginnend bei der Annahme von Manuskripten durch Verlage, über die Vermarktung, hin zur Rezension von Kritikern und Präsentation im Buchhandel - eine frappierende Ungleichbehandlung zwischen dem Werk von Autorinnen und und dem von Autoren besteht. So gleicht die Lektüre von "FRAUEN LITERATUR" fast einem Erweckungserlebnis. Natürlich ist in den letzten Jahren etwas Bewegung in den Literaturbetrieb gekommen, keine Frage. Aber dies ist noch lange nicht genug. Denn wenn man den Satz "Männer haben immer noch Mühe, Frauen ausreden zu lassen, sie anzuhören und als die Expertinnen, die sie sind, ernst zu nehmen...", liest, unterstreicht er das vor kurzem Gesehene bei der beliebten Sendung "SWR Lesenswert Quartett" am 16.12.2021. Hier argumentierte - wie immer fundiert - Literaturkritikerin Insa Wilke in einer Runde von ansonsten ausschließlich Männern... und blieb verhältnismäßig ruhig, obwohl ihr überproportional häufig ins Wort gefallen oder schulmeisterhaft die Welt erklärt wurde.

Unser Augenmerk sollte zukünftig als Leser*innen nicht nur darauf liegen, WAS wir lesen, sondern auch VON WEM wir lesen. Wir sollten durch Kaufentscheidungen den Verlagen das Signal senden, dass wir uns eine Kultur und Gesellschaft ohne misogyne Strukturen wünschen. Denn wie die Autorin unterstreicht: "[…] durch Abwarten kam man Ungleichbehandlung in der Vergangenheit noch nie bei [...]".

Dieser aufrüttelnde Text über die strukturell nachweisbare, geschlechterbezogene Voreingenommenheit im Literaturbetrieb stellt meines Erachtens ein wichtiges Werk zum gesamten Themenkomplex dar und wird von mir uneingeschränkt zur Lektüre empfohlen. Männern wie auch Frauen und allen nicht-binären Personen, ob Schwarz oder weiß [kursiv]. Unbedingt lesen und eigenes (Lese-)Verhalten ändern! Zum Beispiel anhand der in diesem Buch zuhauf befindlichen Lektüreanregungen.

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Veröffentlicht am 29.01.2024

Opium fürs Literaturvolk

Hundepark
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Der Opiumanbau wie auch die Einzellspende ist in Deutschland verboten. Das Erste sollte vielen bekannt sein, das Zweite eher weniger. Beides wird hingegen in der Ukraine, wenn man Sofi Oksanens neuen Roman ...

Der Opiumanbau wie auch die Einzellspende ist in Deutschland verboten. Das Erste sollte vielen bekannt sein, das Zweite eher weniger. Beides wird hingegen in der Ukraine, wenn man Sofi Oksanens neuen Roman und ihren Recherchen im Rahmen dessen Glauben schenken kann, vielfältig genutzt, um weit verbreiteten, finanziellen Sorgen zu begegnen, eine gewisse Unabhängigkeit zu erlangen und vielleicht den sozialen Aufstieg zu schaffen.

Geschickt verwebt Oksanen in ihrem Roman die Geschichte der Ich-Erzählerin Olenka, welche als im Westen gescheitertes Model in ihre Heimat Ukraine zurückkehrt, um dort zunächst selbst als Eizellspenderin und später aufgestiegen in der Hackordnung als Koordinatorin ebendieser zu agieren, mit den postsowjetischen Zuständen und politischen Ereignissen ab 2009 in der Ukraine. Das geschäftstüchtige Unternehmen "Eizellspende" wird kaltblütig mit bedürftigen Mädchen gefüttert, die nicht nur eine Hormontherapie über sich ergehen lassen müssen, sondern auch ihre Gesundheit durch dieses Verfahren riskieren. "So gern die Elite ins Ausland fuhr, um dort etwas für ihre Gesundheit zu tun, war unsere Gesetzgebung doch einzigartig, wenn es um die Unterstützung bei der assistierten Anschaffung von Kindern ging: Nur die künftigen Eltern genossen juristischen Schutz, während Spenderinnen und Leihmütter keinerlei Rechte besaßen." Die ukrainische Landbevölkerung hingegen hält sich mit illegalen Gruben und dem Schlafmohn- und damit Rohopiumanbau im Garten über Wasser. Beides zwielichtig, beides kreuzgefährlich.

Olenka schildert zunehmend um Verständnis bittend mit Rückschauen auf vergangene Jahre und Erlebnisse einem ominösen "Du" ihr Leben, was sie als einfache Putzfrau bis nach Helsinki geführt hat. Nur portionsweise, so wie es Olenka dem angesprochenen "Du" preisgeben möchte, erfahren wir mehr über die weitreichenden Zusammenhänge ihrer Handlungen und Taten. Wir müssen darauf hoffen, dass sie uns die Wahrheit - oder zumindest ihre Wahrheit - darlegt, denn Olenka ist eine Meisterin des Manipulierens gewesen. Doch in diesem Roman ist keine der Figuren einfach nur "böse" oder "gut", nur "Täter" oder "Opfer". Besonders Olenka bekommt so viele Facetten zugeschrieben, dass ihre Erzählung, ihr Geständnis umso lebhafter und authentischer wirkt. Zugegeben, der verknoteten Handlung muss man sehr aufmerksam folgen, um sie annähernd verstehen zu können. Verwirrend wird mitunter erzählt. Aber all dies ist grandios von Sofi Oksanen konzipiert. Der Roman fesselt bis zum Schluss und liest sich durch seine mitunter harte, dem Charakter und Denken der Protagonistin angepassten Sprache wie ein düsteres Spiegelbild einer zunehmend moralisch zerrütteten Gesellschaft.

So lässt sich dieses vom brillant durchdachten Cover bis zum letzten Satz durchweg stimmig konstruierte Buch uneingeschränkt für eine nicht nur spannende, sondern auch unglaublich wissenswerte - wie auch, aufgrund der Hintergrundinformationen zur modernen Ukraine, hochaktuelle - Lektüre dringend empfehlen.

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