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Veröffentlicht am 16.05.2024

Freischwimmen

Windstärke 17
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Vorab: für mich war 22 Bahnen mein Überraschungsbuch 2023, mich hat die Geschichte um Tilda und Ida unglaublich berührt und ich habe mit ihnen gelitten, geweint und mich natürlich ebenso gefreut. Mit Windstärke ...

Vorab: für mich war 22 Bahnen mein Überraschungsbuch 2023, mich hat die Geschichte um Tilda und Ida unglaublich berührt und ich habe mit ihnen gelitten, geweint und mich natürlich ebenso gefreut. Mit Windstärke 17 setzt Caroline Wahl diese mitnehmende, authentische Geschichte nun fort, diesmal aus Idas Perspektive ca. 10 Jahre später. Doch kann sie damit an 22 Bahnen anschließen, sich sogar übertreffen?

Windstärke 17 beginnt wenige Wochen nach dem Tod von Idas und Tildas alkoholkranker Mutter. Ida ist Anfang 20, überfordert mit dem Verlust, verloren in Wut, Trauer und Schuldgefühlen und möchte einfach nur noch weg, ohne zu wissen wohin. In dieser Ziellosigkeit landet sie schließlich an einem abgelegenen Zipfel des Landes, auf der Ostseeinsel Rügen. Die Insellage, den Launen der Natur ausgesetzt, ist nicht ohne Grund, das was sie angezogen hat, entspricht es doch am ehesten ihrem aufgewühlten Innenleben. Durch einen glücklichen Zufall lernt sie das ältere Paar Marianne und Knut kennen, und findet bei den bodenständigen Insulanern, genau das, was sie gerade so dringend braucht.

Idas Gefühle, die mit dem Tod der Mutter ausbrechen, gehen weit über die Trauer hinaus. Da sind Wut und Enttäuschung über die Mutter, die aufgrund ihres Alkoholismus nie wirklich eine Mutter war, und all die Verletzungen der Vergangenheit, Schuldgefühle, und das Gefühl plötzlich allein auf der Welt zu sein.

Bereits nach wenigen Zeilen und Seiten bin ich mit Ida und ihrem Fühlen und Erleben verschmolzen. Die Wut über den Verlust der Mutter, auf Tilda, sich selbst, die Welt, ohne Ziel und so stark, dass sie für Trauer (noch) keinen Platz lässt. Und dazu immer wieder Schuldgefühle, hätte sie mehr tun müssen? Etwas tun müssen? Caroline Wahl versteht es dieses undefinierbare Gefühl Idas, eine Symbiose aus so vielen schmerzhaften Empfindungen und ihrer Verdrängung, einzufangen und das Erleben ihrer Figur für die Leserin nicht nur nachvollziehbar, sondern fast spürbar zu machen.

Mir hat sehr gefallen, dass die Autorin nach 22 Bahnen auch in Idas Geschichte dem Wasser eine so prominente Rolle einräumt. Ida kämpft mit den Wellen der Ostsee, wie sie mit und gegen sich selbst kämpft, gegen Trauer, Wut und Schuldgefühle. Sie dabei zu begleiten ist traurig und schön zugleich.

Wird Ida wieder zu sich finden, vielleicht überhaupt erstmals ein eigenes Ich unabhängig von der Krankheit ihrer Mutter ausbilden können, ihren Weg und innere Stärke entdecken? Wird sie ihrer Mutter, Tilda und am wichtigsten, sich selbst verzeihen können? Welche Rolle werden Marianne und Knut, und der ebenso traurige, gezeichnete Leif, den sie auf der Insel kennenlernt, dabei spielen? Da hilft nur: unbedingt lesen und herausfinden!

Man kann Windstärke 17 sicher auch gut lesen ohne 22 Bahnen zu kennen. Doch warum sollte man das tun und damit auf die wundervolle Geschichte darin und die Einblicke in Idas Vergangenheit verzichten?

In Windstärke 17 zeigt Caroline Wahl was ein Aufwachsen in dysfunktionalen Familienverhältnissen mit uns macht, wie schwer es ist einen gesunden Weg zwischen Nähe und Abgrenzung zu finden, da man egal wie, nie der Herkunft wirklich entkommen kann. Und zuletzt bleiben bei allem eigenen Leid, Schuldgefühle, Trauer und Wut. Idas und Tildas Geschichten zeigen jedoch auch, wie man selbst in Situationen, die zu schwer zum Tragen anmuten, Hoffnung und sich selbst finden kann, um trotz oder vielleicht gerade wegen einer schweren Vergangenheit gestärkt ins Leben und die Zukunft zu treten!

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Veröffentlicht am 12.05.2024

Zwei Tage und der Beginn einer Freundschaft, die ein Leben verändern

25 letzte Sommer
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Der Ich-Erzähler in 25 Sommer ist beruflich erfolgreich, hat privat ein stabiles Familienleben mit zwei Kindern, steht auf den ersten Blick mitten im Leben. Und doch fühlt er sich viel zu oft eher neben ...

Der Ich-Erzähler in 25 Sommer ist beruflich erfolgreich, hat privat ein stabiles Familienleben mit zwei Kindern, steht auf den ersten Blick mitten im Leben. Und doch fühlt er sich viel zu oft eher neben sich und nicht mit beiden Beinen auf dem Boden. Er hat verlernt zu leben, ist irgendwann falsch abgebogen im Leben und schon viel zu lange in der modernen Effizienz- und Optimierungsmaschinerie gefangen, er funktioniert ohne wirklich zu leben. Ein Wochenende im eigens zur Entschleunigung angeschafften Häuschen auf dem Land soll etwas Ruhe bringen. Doch selbst die Natur vermag nicht die innere Anspannung zu lösen. Da entdeckt er bei einem Abzweig seiner Laufrunde zu einem See einen anderen Mann, der beschwingt aus dem kühlen Nass steigt.

Die Offenheit und Freundlichkeit des Fremden irritiert und beruhigt ihn auf eine ihm vergessene Weise. Es ist echtes Interesse an seiner Person, seinem Denken und Fühlen, fernab von Status und Oberflächlichkeit, die sonst seinen (Berufs-)Alltag bestimmen. Und so begleitet er den Mann, der sich als Karl vorstellt auf seinen nahe gelegenen Bauernhof, lernt dessen Familie und Leben kennen und entdeckt dabei Stück für Stück neue Perspektiven und auch lange vergessene Aspekte von sich selbst wieder. In den Gesprächen mit Karl wird deutlich, dass auch dieser seine gelassene Lebenseinstellung nicht in die Wiege gelegt bekommen hat, sondern aus Erfahrungen seines Lebens gelernt hat, lernen musste. Und so lernen zwei Menschen Neues übereinander, voneinander und sich selbst, der Beginn einer echten Freundschaft, wie sie das Leben schreibt.

25 Sommer ist eine berührende, lebensweise Erzählung über den Beginn einer Freundschaft, dem Einlassen auf ein neues Gegenüber und die Bereitschaft loszulassen vom vermeintlichen Müssen des Alltags und das Glück, das man dabei in der Begegnung, in sich selbst und anderen zu finden vermag!

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Veröffentlicht am 12.05.2024

Die hässlichen Geheimnisse eines abgelegenen Dorfes

Die Schönheit der Rosalind Bone
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Rosalind ist wunderschön, das ist ihr Wort in einem abgelegenen walisischen Taldorf, in dem es für jeden ein Wort gibt, schwarz und weiß, gut und böse, kein Sinn für die Grautöne des Lebens. Egal ob Rosalind, ...

Rosalind ist wunderschön, das ist ihr Wort in einem abgelegenen walisischen Taldorf, in dem es für jeden ein Wort gibt, schwarz und weiß, gut und böse, kein Sinn für die Grautöne des Lebens. Egal ob Rosalind, die Schöne oder Daniel, der Kriminelle, niemand kann dem Gericht des Dorfklatsches und der Rolle, die das unsichtbare Dorftribunal definiert hat, entkommen.

Der Umgang im Dorf ist geprägt von Distanzlosigkeit und Übergriffigkeit ohne jemals echte Nähe zuzulassen, echtes Interesse am Gegenüber zu zeigen, das Hervorlugen hinter Vorhängen als olympische Disziplin. Ein Hinsehen, das letztlich nur dem Wegsehen dient. Was Rosalind bewegt, erlebt, fühlt, denkt, ist irrelevant, einzig ihre Schönheit wird gesehen, mit einer Mischung aus Neid und Missgunst.

Eingebettet ist diese dichte Stimmung eines Dorfporträts in eine landschaftlich passende Umgebung. Das Tal, in dem keine Sonne scheint, so wie sich auch das Glück selten zu seinen Bewohner:innen verirrt.

Die Sprache ist sehr dicht und poetisch, in nur wenigen Seiten entwirft Alex McCarthy ein Sittengemälde einer Dorfgemeinschaft, um das Schicksal von Rosalind Bone. In der Charakterisierung der Protagonist:innen und Analyse der sozialen Beziehungen geht die Autorin mit soziologischem Feingefühl vor, sodass der Roman sich zu einer Art poetischen Sozialstudie entwickelt. Auf diese Weise erzählt die Autorin mit Rosalinds Geschichte auch über weibliche Selbstermächtigung und die Bedeutung von Schwesternschaft in noch immer stark patriarchal geprägten Strukturen.

Die Schönheit der Rosalind Bone überzeugt vom ersten bis zum letzten Satz. Alex McCarthy hat mich mit ihrer Mischung aus literarischer Kunst und Sozialstudie vollends begeistert!

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Veröffentlicht am 10.05.2024

Erinnern braucht Mut, darüber zu reden noch mehr!

Es ist einmal
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Es ist einmal… Unter diesem Motto haben die Autorinnen Sabine Michel und Dörte Grimm zehn Gespräche zwischen Großeltern, die in der DDR geboren und/oder aufgewachsen sind und ihren Enkeln aufgezeichnet.

Durch ...

Es ist einmal… Unter diesem Motto haben die Autorinnen Sabine Michel und Dörte Grimm zehn Gespräche zwischen Großeltern, die in der DDR geboren und/oder aufgewachsen sind und ihren Enkeln aufgezeichnet.

Durch dieses Setting entsteht ein sehr persönlicher Zugang zur Vergangenheit, bei dem das Nachfragen der Enkelgeneration neue Türen öffnet, oft auch zu vergessenen, verdrängten Erinnerungen, ebenso wie den oft schmerzhaften Gefühlen, die damit verbunden sind. Gleichzeitig gelingt den Autorinnen, dass die Generationen sich ins Verhältnis setzen, Ähnlichkeiten und Unterschiede entdecken, und Kontinuitäten ebenso wie Brüche in Familiengeschichten deutlich werden.

Die Enkel sind zwischen 1982 und 2005 geboren, die Großeltern zwischen 1935 und 1955. Dadurch variieren auch zwischen den Geschichten ganz unabhängig von der jeweiligen Familie die Erfahrungen des Aufwachsens und Erlebens der zeithistorischen Kontexte. Während einige Enkel selbst keine eigenen Erinnerungen an die DDR haben, sind andere noch Pionier geworden. Auch die Großeltern blicken auf sehr unterschiedliche Lebenswege zurück, während einige vor dem zweiten Weltkrieg Geborene in ihrem Leben drei Gesellschaftssysteme und zwei Systemwechsel erlebt haben, sind andere in der DDR geboren, wieder andere sind als Kind aus Polen geflüchtet.

So entsteht eine echte Vielfalt von Perspektiven auf das Leben und die Erfahrungen in der DDR und die Familiengeschichten, die diese schreiben.

Sehr authentisch und sympathisch finde ich, dass die Autorinnen immer wieder kurze eigene Eindrücke schildern und situativ ihre eigene Biografie in den Geschichten verorten, wie etwa der eigene Besuch in Buchenwald, als ein Großelternteil davon erzählt. Dadurch entstand für mich beim Lesen eine noch größere Nähe zum Geschriebenen.

Bereichert wird der lesenswerte Band zusätzlich durch eindringliche Fotografien von Ina Schoenenburg.

Nicht selten fungieren die Gespräche als Türöffner und Anstoß des Dialogs über die Vergangenheit innerhalb der Familien über die Aufzeichnung hinaus. Und so erging es auch mir beim Lesen, denn neben den aufgezeichneten Geschichten bewegt dieses Buch auch ganz persönlich, um über die eigene Familiengeschichte mehr in Erfahrung zu bringen und ins Gespräch zu kommen. Eine ganz klare Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 06.05.2024

Gibt es eine echte Rettung vor Krieg und (vererbten) Traumata?

Und dann sind wir gerettet
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Aida ist 6 Jahre alt, als sie im Jahr 1992 mit ihren Eltern aus ihrer bosnischen Heimat vor dem Krieg flieht. Was folgt, ist nicht nur eine gefährliche Flucht durch ein bereits kriegsgebeuteltes Gebiet, ...

Aida ist 6 Jahre alt, als sie im Jahr 1992 mit ihren Eltern aus ihrer bosnischen Heimat vor dem Krieg flieht. Was folgt, ist nicht nur eine gefährliche Flucht durch ein bereits kriegsgebeuteltes Gebiet, sondern auch ein Ankommen in Italien, das zwar physisch zunächst Frieden verspricht, innerlich kann jedoch kein Familienmitglied die schrecklichen Erfahrungen abstreifen. Hinzu kommt die stete Sorge und Trauer um die zurückgelassenen Familienmitglieder und Freunde.

In diesem Rahmen erzählt Alessandra Carati auf drei Zeitebenen zwischen 1992 und 2013 die Geschichte einer Flucht, eines Ankommens und einer Rückkehr.

Poetisch und sensibel, mit einem besonderen Blick für die menschlichen Zwischentöne beschreibt die Autorin die Herausforderungen für das Familienleben, bei dem die Integration in das neue Umfeld der Sehnsucht nach der Heimat und dem Schmerz der Kriegserfahrung gegenübersteht und wie ein Pendel ausschlagen, ohne je in ein echtes Gleichgewicht zu finden, eben weil dies vielleicht auch kaum möglich ist.

In einer Familie zeigt Carati so die Variation von Traumata durch Kriegs- und Fluchterfahrung und den Umgang mit diesen, von Abgrenzung, Aggression über innere Verschlossenheit bis hin zur Psychose.

Und dann sind wir gerettet ist ein schmerzhaftes und hoffnungsvolles Buch zugleich, das nicht nur inhaltlich mit einem sensiblen Blick für psychische und soziale Herausforderungen in Verbindung mit Krieg, Flucht und Neuanfang, sondern auch einer wundervoll poetischen Sprache der Autorin überzeugt. An dieser Stelle muss auch die herausragende Übersetzung aus dem Italienischen unbedingt erwähnt werden.

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