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Veröffentlicht am 23.05.2024

Unaufgeregt, leise aber intensiv

Was ich zurückließ
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»Diese Worte sind der Versuch einer Annäherung aus der Distanz.« S. 13

In einer Art Brief versucht Marco Ott nachzuspüren, was zu einer Entfremdung von seinen Eltern führte. Ott wächst in einer Sozialwohnung ...

»Diese Worte sind der Versuch einer Annäherung aus der Distanz.« S. 13

In einer Art Brief versucht Marco Ott nachzuspüren, was zu einer Entfremdung von seinen Eltern führte. Ott wächst in einer Sozialwohnung in Dinslaken auf, das Verhältnis zu den Eltern ist herzlich, sie ermöglichen ihm alles, was in ihrer Macht steht. In einzelnen Episoden entsteht in mir ein klares Bild seiner Kindheit: ein gemeinsames Essen im Möbelhaus, weil man Werbecoupons hat, ein Blick auf das Preisschild, das entscheidet, ob man ein Teil gut finden kann. Allmählich mischen sich die Sichtweisen anderer ein, ein Mitschüler, der Otts Wohngegend als assi bezeichnet, offener Spott für Deichmannschuhe.
Er lernt schmerzhaft, was es heißt, anders zu sein, als ungenügend betrachtet zu werden, und erfährt Ausgrenzung. Scham, Verleugnung, Anpassung führen zunehmend zu Orientierungslosigkeit, Entfremdung und dem unbedingten Willen, dieses Milieu zu verlassen und aufzusteigen. Was folgt, ist ein Weg des Scheiterns, des immer wieder Neuorientierens, eine Suche nach sich selbst, die noch nicht abgeschlossen ist. Gleichzeitig analysiert er, wie es zum Bruch mit seinen Eltern kam, gesteht seine Mitschuld ein und sucht eine Aussöhnung.

»Erst später sollte ich erkennen, dass die Beziehung, die ich zu euch habe, ein Spiegelbild der Beziehung ist, die ich zu mir selbst habe.« S.122

Auf gerade mal 125 Seiten gelingt es Ott, all das in leise Worte zu fassen, die trotzdem einer Detonation gleichkommen. Die beim Lesen betroffen machen, die mich auch an meine eigene Kindheit erinnern. Die unserer Gesellschaft einen Spiegel vorhalten. Gerade in einer Zeit, wo der Ton in unserer Gesellschaft wieder rauer wird, braucht es diese Art von Klassenliteratur. Die Medien sind durchtränkt von der Darstellung von Idealen, die eine Welt vorgaukeln, die erstrebenswert sein soll. Die berühmte Möhre vor der Nase.

Ott nennt es gesellschaftliche Gewalt. Es sind die Wertvorstellungen einer anderen Schicht, die für allgemeingültig erklärt werden, Privilegien, die die Arbeiterklasse nicht hat, Geld, Status, Beziehungen. Ott jammert nicht, wenn er neben seinem Studium mehr arbeiten muss, als er letztlich im Hörsaal sitzen kann. Es geht aber um die Abbildung von Realität, das Nichtleugnen von Klassenunterschieden.

Nach der Lektüre standen bei mir noch immer viele Fragezeichen im Kopf. Was ist Klassenliteratur? Wodurch kennzeichnet sich autosoziobiografisches Schreiben? Begriffe, die ich nicht kannte. Nach stundenlanger Recherche war ich schlauer und las das Buch gleich ein zweites Mal – mein Blick war wesentlich schärfer. Nun fiel mir auch auf, wie on-Point seine Sätze sind, wie viel Verletzlichkeit dahintersteckt, wie schonungslos seine Selbstreflexion ist. Wie viel Mut es bedarf, seine unverblümten Gedanken der Ablehnung zu gestehen.

Aber kann man seine Klasse hinter sich lassen? Gibt es ein Ankommen oder auch ein Dazwischen?

»Ich weiß nicht, wie es euch damit geht, aber mittlerweile schäme ich mich dafür, euch verleugnet zu haben. Ich schäme mich für meine Scham.« S.99

Ein beeindruckendes Debüt, das mich sehr berührt hat.

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Veröffentlicht am 21.05.2024

Familienchronik und Kriegsdrama

Saturnin
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»Leute wie mich nennt man »Singles«, aber ich bin kein Single, ich bin einfach nur einsam.« S.13

Der 30-jährige Handelsvertreter mit dem sonderbaren Namen Saturnin würde gern die nette Apothekerin ansprechen, ...

»Leute wie mich nennt man »Singles«, aber ich bin kein Single, ich bin einfach nur einsam.« S.13

Der 30-jährige Handelsvertreter mit dem sonderbaren Namen Saturnin würde gern die nette Apothekerin ansprechen, kauft aber stattdessen ständig Ohrstöpsel und tröstet sich mit Süßigkeiten. Sein Traum, Profisportler im Gewichtheben zu werden, ist längst geplatzt. Fast widerwillig kehrt er in sein Heimatdorf zurück, als seine Mutter Hania ihn anruft, dass sein Großvater Tadeusz verschwunden sei.

Małecki entblättert die Geschichte der Familie Markiewicz, über der ein bedrückendes Schweigen liegt, das jeder für sich mit etwas auszufüllen gelernt hat. Die Mutter mit Wörtern, der Großvater mit Arbeit und der kleine Saturnin mit Träumen und Selbstzweifeln.
Vieles in seinem Leben bleibt Saturnin lange ein Rätsel, woher sein bescheuerter Name kommt, wieso sein Vater in den entscheidenden Momenten abwesend ist. Er hadert mit seinen Sommersprossen, mit seiner Unfähigkeit, Frauen anzusprechen, mit seinem Hang, sich ständig zu überfressen.
Hania weiß das Schweigen zu füllen und klebt Wörter um sich, durch die sich Saturnin auf der Suche nach der eigentlichen Information hindurchwühlen muss.
Seine Mutter leide an »Satzlosigkeit, an fehlenden Punkten und anderen Satzzeichen«.

»Sie überschüttet mich mit Wörtern, und es ist unmöglich, diejenigen herauszufischen, die sie wirklich sagen will, denn sie sind mit dem ganzen Rest vermischt, mit all den Ausstopfwörtern, die ihr, seit sie denken kann, dazu dienen, sämtliche Ritzen und Risse zu schließen, all das, was sie nicht sehen will.« S.29

Dann endlich bricht der Großvater sein Schweigen. Die Erinnerung an den Krieg kehren zurück, an seine tote Schwester Irka, über die er nicht spricht. An Dinge, die er getan hat, die er wie seine Trompete am liebsten im Wald vergraben hätte.

Eine äußerst bewegende Geschichte über verpasste Chancen, unerfüllte Träume, Scham, Trauer und Verlust, die von ihrer Zartheit lebt, von virtuos komponierten Sätze, durchzogen von Zeitschleifen. Małecki spielt mit den schriftstellerischen Möglichkeiten, wechselt die Perspektiven, die Erzählform, streut einen Hauch magischen Realismus ein, weiß zu überraschen – vor allem mit seinem allerletzten Satz. Spannung schwebt über all dem, wie ein leichter Wind, der über die polnische Landschaft streicht. Doch die Molltöne der Melancholie schälen sich durch. Kriegstraumata, Tote, die auf seltsame Weise noch zwischen den Lebenden hängen und sich in dem Schweigen festgesetzt haben. Das transgenerationale Trauma der Sprachlosigkeit. Das Trauma eines ganzen Landes.

»… kurz danach ziehen die Polen wieder ein, beladen mit den Erlebnissen der Vertreibung. … Schöne Sätze von Krieg, Mut und Freiheit, er hätte Lust, sie alle zu sammeln und in den Ofen zu werfen.« S.248

Małeckis Geschichten tröpfeln in die Seele, wärmen, versöhnen und richten sich ein, um zu bleiben. Er ist aufrichtig, unverblümt mit seinen bodenständigen Figuren, die so wenig heldenhaft sind, wie polnisches Ackerland sehenswert ist. In denen wir unsere eigene Verzweiflung und Ängste entdecken können. Die Vergangenheit klebt an ihnen wie die Erde der Ackerscholle nach einem Regen. Traurigkeit hat tiefe Furchen gezogen, die Małecki mit der Magie des Alltags füllt, auf so traurig schöne Weise, dass ich seine Worte einatmen will.

Ich bin begeistert. Auch von der großartigen Übersetzung durch Renate Schmidgall.

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Veröffentlicht am 07.05.2024

David Copperfield in den Apalachen

Demon Copperhead
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»Jeder weiß, dass alle, die in diese Welt geboren werden, von Anfang an gezeichnet sind – Gewinner wie Verlierer.«

Demons Leben beginnt unter undenkbar ungünstigen Voraussetzungen, in einer Gegend, die ...

»Jeder weiß, dass alle, die in diese Welt geboren werden, von Anfang an gezeichnet sind – Gewinner wie Verlierer.«

Demons Leben beginnt unter undenkbar ungünstigen Voraussetzungen, in einer Gegend, die zuerst von den Bergwerksbesitzern verlassen wurde, dann von denen, die noch bei Verstand waren und zuletzt auch noch von Gott.
Seine Teenagermutter ist high, als er auf den dreckigen Vinylfliesen in einem Trailer auf die Welt kommt, sein Vater tot.

»Wenn die Mutter in ihrer eigenen Pisse liegt, rechts und links nichts als Pillenfläschchen, und man dem Kind, das sie rausgepresst hat, auf den Hintern patscht, damit es ein wenig lebendiger wird, dann siehts für den kleinen Bastard nicht gut aus. Das Kind einer Junkiebraut ist ein Junkie.« S.10

An seinem 11. Geburtstag knallt sich seine Mutter mit einer Überdosis Oxy weg und für ihn beginnt ein trauriges Leben in miesen Pflegefamilien. Gewalt, Hunger, harte Arbeit, Drogen sind seine ständigen Begleiter – der amerikanische Albtraum. Mit jedem neuen Kapitel wünscht man dem kleinen Rotschopf (daher sein Spitzname Copperhead), dass es diesmal für ihn gut ausgehen soll. Und immer wieder denke ich: Nein, bitte nicht auch das noch.

»Es ist ein Wunder, dass man das Leben mit nichts beginnt und mit nichts beendet und dazwischen trotzdem so viel verliert.« S.741

Doch Demon hat eine Superkraft, na eigentlich zwei. Er liebt Comics und ist ein begnadeter Zeichner. Aus seinen Freunden macht er Superhelden, denn scheinbar mühelos erkennt er, was sie im Kern ausmacht. Nur seine eigene Superkraft zu erkennen, fällt ihm schwer. Aber er ist ein unverwüstliches Stehaufmännchen mit einer gehörigen Portion schwarzem Humor. Als der 11-Jährige gefragt wird, was er einmal werden wolle, sagt er: »Hauptsache, noch am Leben«.

Nicht zuletzt ist es Kingsolvers herausragendes schriftstellerisches Talent mit ausgefallenen Sätzen, auffälligen Metaphern und Demons flapsiger Stimme, sein Schicksal für uns Leser*innen aushaltbar zu machen.

Kingsolvers Roman ist eine Hommage an ihre Heimat, die Appalachen. Dort, in einem der ärmsten Gegenden Amerikas, in Lee County, Kentucky, wächst ihr Protagonist auf. Ein Landstrich, der verächtlich als der Fußabstreifer des Landes bezeichnet wird, ihre Bewohner als Hillbillys. Um sie aus der Vergessenheit herauszuholen, transferiert sie Dickens Sozialdrama »David Copperfield« auf eine tief beeindruckende und intensive Weise. Mit der wachsenden Reife von Demon erfahren wir viel über die geschichtliche Entwicklung seiner Heimat, darüber, warum keiner Interesse an den Menschen hat, die von Sozialschecks, Schwarzbrennerei und Eigenversorgung leben. Und warum ausgerechnet sie das bevorzugte Opfer der Pharmaindustrie wurden.
Sie übt Kritik am bestehenden Sozialsystem, das massiv überfordert ist, deren Schutzbedürftige nur eine Aktennummer und sich selbst überlassen sind. Das alles wird überschattet von der großen Opioid-Krise, die in den letzten Jahren hunderttausend Tote hinterlassen hat. Demon ist ein dieser Babys, die schon süchtig zur Welt kommen.

Missverstanden, auf Stereotype reduziert, wegen ihres Akzents verspottet und ungesehen vom Rest der Welt. Und daher sind die letzten Worte in der Danksagung ihnen gewidmet:

»Die Kinder, die an diesen dunklen Orten jeden Tag hungrig erwachen, die ihre Eltern durch Armut und Schmerzmittel verloren haben, deren Sachbearbeiterinnen ständig ihre Akten verlegen, die sich unsichtbar fühlen oder sich wünschen, sie wären es: Dieses Buch ist für euch.«

Eine schmerzhaft schöne Geschichte, die mit jeder Seite süchtig macht, die für immer einen Platz in meinem Herzen haben wird. 800 Seiten, die emotional fordern, aber ebenso spannend wie lehrreich sind, die viel zu schnell vorbei waren.

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Veröffentlicht am 07.05.2024

Ein Klassiker aus einer anderen Perspektive

James
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In letzter Zeit häufen sich ja die Adaptionen großer Werke aus der Weltliteratur, was nicht immer gelungen ist, wie ich festgestellt habe. Everett hat sich hier an einen Klassiker von Twain gewagt und ...

In letzter Zeit häufen sich ja die Adaptionen großer Werke aus der Weltliteratur, was nicht immer gelungen ist, wie ich festgestellt habe. Everett hat sich hier an einen Klassiker von Twain gewagt und dekonstruierte »Die Abenteuer des Huckleberry Finn« aus dem Jahr 1884, indem er die Flucht des Sklaven Jim nun aus dessen Perspektive erzählt. Ob es für mich diesmal funktioniert hat?

Zum Inhalt sei nur so viel gesagt: James flieht aus Hannibal, als er erfährt, dass er verkauft werden soll. Er sieht darin seine einzige Chance, um seine Familie nicht zu verlieren. Wie auch bei Twain ist Huck auf der Flucht vor seinem gewalttätigen Vater und begleitet James auf einigen Abschnitten der abenteuerlichen Reise auf dem Mississippi. Allerdings sucht man nun nach ihm nicht nur als »Entlaufenen« sondern auch als Mörder von Huck.
Doch aus dem ungebildeten, naiven Jim Twains macht Everett eine Figur, die aus ihrer Opferrolle heraustritt und nicht mehr auf die Gnade der Weißen angewiesen ist. Everett nutzt dazu das Stilmittel der Sprache, nicht nur indem er James vor den Weißen in einer Art Slang, einem Südstaatenenglisch sprechen lässt, damit diese den Eindruck bekommen, er sei ungebildet. Diesen Slang ins Deutsche zu übertragen war sicher eine Herausforderung, doch der Übersetzer Nikolaus Stingl hat hier ganze Arbeit geleistet, um die Authentizität zu erhalten. James muss seine Tarnung aufrechterhalten, genauso wie alle anderen. Denn Sklaven war es verboten, lesen und schreiben zu lernen.

»Jim, ich frag dich jetzt was. Warst du in Richter Thatchers Bibliothekszimmer?«
»In seim was?«
»Seiner Bibliothek.«
»Nein, Ma’am. Gesehen habbich die Bücher, aber im Zimmer drin warch nich. … Was sollchn mim Buch?« S.15

Vielleicht mag es übertrieben erscheinen, dass James Rousseau und Locke gelesen hat, es finden sich einige philosophische Aussagen und Fragen in dem Buch, die nachdenklich stimmen. Doch das verleiht der vorherrschenden Denkweise der Weißen, sich überlegen zu fühlen, eine gewisse Ironie. James kehrt es um, indem er denkt:

»Es lohnt sich immer, Weißen zu geben, was sie wollen …« S.11

Denn das gibt den Schwarzen ein Mindestmaß an Sicherheit, auch wenn sie ihren unbegründeten Misshandlungen, Auspeitschungen und sexuellen Übergriffen schutzlos ausgeliefert sind. Und es entlarvt gleichzeitig die vorherrschende Überlegenheitstheorie der Sklavenhalter.

Was Sprache in dem Roman alles kann, solltet ihr selbst herausfinden, für mich ist es ein zentrales Thema, um das sich zahlreiche erschreckende Abenteuer ranken. Zum Beispiel ein gestohlener Bleistift, den James nutzen will, um seine Geschichte aufzuschreiben, für den ein anderer aber mit dem Leben bezahlt. Auch ein Grundgedanke – Bildung als Waffe.

In kurzen, temporeichen Kapiteln jagen wir den Mississippi rauf und runter, treffen dabei auf manch skurrile Gestalten, Trickbetrüger, Gauner und Sklavenhalter der übelsten Sorte, wodurch Everett dem Abenteuercharakter des Originals gerecht wird. Zwar verkürzt er etliche Ereignisse, was aber für das Gesamtverständnis des Romans nicht von Belang ist. Trotz aller Ironie, die sich oft hinter einigen Begegnungen versteckt, ist Everett on point, wenn es um die Darstellung von rassistischen Themen geht. Das geht stellenweise echt unter die Haut.

»Was ich verbrochen habe? Ich bin ein Sklave. Ich habe eingeatmet, als ich hätte ausatmen sollen. Was ich verbrochen habe?« S.234

Immer wieder wird Twain unterstellt, er sei ein Rassist gewesen, andere halten ihn für einen Chronisten seiner Zeit. Wiederholt fielen zahlreiche Passagen der Zensur zum Opfer, auch streitet man sich über das N-Wort in seinen Romanen und eine etwaige Bereinigung. Doch zeitkritische Literatur braucht m.E. auch eine authentische Sprache, egal, ob es heute einigen gefällt oder nicht. Auch Everett bleibt dabei, was zur Verdeutlichung der Brutalität von Sprache dient und mich einige Male heftig schlucken ließ. Das nur btw.
Für mich ist »James« eine Weiterführung der twainschen Grundidee. Eine Hommage an Twain, eine kritische Auseinandersetzung mit dem Rassismus, der heute noch tief verwurzelt ist. Radikal und scharfzüngig mit viel Humor, absolut lesenswert.

»Es ist eine schreckliche Welt. Die Weißen versuchen, uns einzureden, dass alles gut sein wird, wenn wir in den Himmel kommen. Meine Frage ist: Werden sie dann auch dort sein? Wenn ja, sehe ich mich vielleicht nach etwas anderem um.« S.162

»Ein Mann, der sich weigert, Sklaven zu besitzen, jedoch nicht dagegen war, dass andere welche besaßen, war in meinen Augen immer noch ein Sklavenhalter.« S.189

»Wenn man die Hölle als Heimat kennt, ist die Rückkehr in die Hölle dann eine Heimkehr?« S.293

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Packende Geschichtsstunde

Waldeck
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1964, der Journalist Ferdinand Broich ist bei seiner letzten Story falschen Informationen aufgelaufen und braucht nun dringen einen neuen Job, um seine Reputation wieder herzustellen. Sein Spezialgebiet ...

1964, der Journalist Ferdinand Broich ist bei seiner letzten Story falschen Informationen aufgelaufen und braucht nun dringen einen neuen Job, um seine Reputation wieder herzustellen. Sein Spezialgebiet – das Aufspüren von ehemaligen Kriegsverbrechern, die, meist unter einer falschen Identität, nach wie vor unbehelligt in Amt und Würde sind. Da kommt ihm der Anruf einer Überlebenden des Holocausts gerade recht, die in München einen ehemaligen Zahnarzt aus dem Lager Majdanek wiedererkannt haben will. Doch bei Broichs Eintreffen ist die alte Dame bereits verstorben. Zufall?
Silvia will sich nicht ihrem Vater beugen, der ihr verbietet, Kunst zu studieren, sie stattdessen mit einem wohlhabenden Juristen verheiraten will. Außerdem hat sie herausgefunden, dass ihr Vater ein schreckliches Geheimnis verbirgt. Wenige Tage bevor sie großjährig wird, überschlagen sich die Ereignisse, und sie muss früher fliehen als geplant. Ihr Ziel ist das Waldeck-Festival, wo sie sich mit einem jungen Mann treffen will.
Währenddessen versucht Mine auf einem Dorf im Hunsrück, ihre ungeplante Schwangerschaft vor ihrer Familie zu verheimlichen. Auch sie soll einen Mann heiraten, den sie nicht liebt. Sollte sie sich weigern, bliebe ihr nur eine Zukunft als bessere Magd auf dem elterlichen Hof, unter der Knute ihres strengen Großvaters, eines glühenden Hitleranhängers, bei dem alle in Schweigen versinken, wenn er an der sonntäglichen Kaffeetafel ins Schwadronieren über die guten alten Zeiten vor 45 gerät.

Heimbach erzählt in seinem multiperspektivischen (Kriminal)Roman von einem Generationenkonflikt, der exemplarisch für die 60er Jahre ist. Obwohl die eigentliche Handlung nur acht Tage umfasst, gelingt ihm ein außerordentlich stimmungsvolles Bild, das den Zeitgeist eines Aufbegehrens perfekt widerspiegelt. Eine Jugend, die sich gegen den Mief ihrer Elterngeneration auflehnt, was sich im Besonderen in der Musik niederschlägt.

Heimbach wählt dafür das erste Festival auf der Burgruine Waldeck als Kulisse, aus dem sich eine neue Kultur, die der Liedermacher entwickelte, wie z.B. Hannes Wader oder Katja Ebstein. Die jungen Menschen, die sich dort versammeln und über neue Ideale diskutieren, sind als Gammler und Kommunisten den Vorgenerationen ein Dorn im Auge. Die, die eine neue linke Gefahr und sich in ihren Werten bedroht sehen. Was für eine erschütternde Parallele zur heutigen Zeit!

»Aber ich fürchte, … dass die Ideen der Nazis weiterleben, dass Zeiten kommen werden, in denen vergessen sein wird, was passiert ist, in denen man es wahrscheinlich sogar als lästig ansieht, dass immer wieder aufs Neue an die Gräueltaten der Nazis erinnert wird. Ein Vogelschiss in der Geschichte, werden sie sagen, sei das gewesen.« S.147

Gleichzeitig möchten die Alten über die Kriegsjahre und die damit begangenen Verbrechen den Mantel des Schweigens ausbreiten, nach dem Motto: Jetzt muss aber auch mal gut sein. Und das in dem Wissen, dass nicht wenige der Täter unbehelligt unter ihnen leben. Auch in angesehener Stellung, wie im Roman der Zahnarzt Fischer. Ihm zur Seite stellt Heimbach den pensionierten BND-Mann Winter, einen Mann fürs Grobe, der hinter Fischer aufräumt. Denn durch die 1963 begonnenen Auschwitz-Prozesse in Frankfurt werden manche von ihnen äußerst nervös.

Mit Mine und Silvia zeichnet der Autor zwei sehr authentische Frauenfiguren, die es satthaben, nach den alten Vorstellungen ihrer Väter zu leben, die sich nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung sehnen und voller Zuversicht und Glauben an sich selbst die ersten Schritte in ein freies Leben gehen.

Ein Buch, das mir einiges an Geschichte vermittelt hat, bin ich doch später und auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs aufgewachsen. Die Sehnsucht einer neuen Generation, Gerechtigkeit walten zu lassen, die Vergangenheit aufzuarbeiten und den Opfern Wiedergutmachung zukommen zu lassen.
Denn auch heute redet man nicht gern davon, wie viele Nazis sich in Wirtschaft, Justiz und Politik nie zur Verantwortung gezogen wurden und gesellschaftliches Ansehen genießen konnten.

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