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Veröffentlicht am 02.07.2024

Befremdliche Stille und Akzeptanz aus Japan

Das Loch
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Das junge Paar Asa-chan und Mune-chan ziehen aus ihrer Mietwohnung aus. Asa-chans Mann wurde von einer in die andere Präfektur versetzt, ist eine Gehaltsklasse aufgestiegen und die Überstunden werden bezahlt. ...

Das junge Paar Asa-chan und Mune-chan ziehen aus ihrer Mietwohnung aus. Asa-chans Mann wurde von einer in die andere Präfektur versetzt, ist eine Gehaltsklasse aufgestiegen und die Überstunden werden bezahlt. Ganz im Gegensatz zu Asa-chan selbst. Sie hat keine Festanstellung, muss auf jede Sondervergütung hoffen und sich dankbar zeigen und fühlt sich neben den Festangestellten als Mensch zweiter Klasse.

Die Fügung schwemmt sie einen Ort weiter, in das Haus seiner Eltern, das bis vor Kurzem vermietet war. Inmitten des Umzugs prallen die kalten Polarwinde mit der feuchtwarmen, subtropischen Luft zusammen und läuten den Monsun ein. Während Asa-chan in den Hundehausschühchen ihrer Schwiegermutter durch ihre neue Wohnung schleicht, weist die Ältere die Umzugsarbeiter ein.

Asa-chan richtet am frühen Morgen das Frühstück für ihren Mann und richtet seine Bento-Box. Sobald er das Haus verlässt kauft sie im nahen Supermarkt ein, noch bevor die Sonne zu hochsteht. In die Stadt fährt sie selten, schlechte Busverbindung. Seit ihrem Umzug verbringt sie die meiste Zeit allein Zuhause und langweilt sich. Wenn Mune-chan am späten Abend kommt, bereitet sie ihm etwas Miso Suppe und schaut ihm beim Essen zu, während er Monologe in sein Handy drückt.

Fazit: Diese Novelle hat es in sich und zeigt mit allen Konsequenzen, wie schwer Veränderung fällt. Und sie zeigt, die Minderwertigkeitsgefühle einer jungen Frau, die ihren Stellenwert in ihrem Leben noch gar nicht gefunden hat und in einem traditionsreichen Japan, mit strenger Geschlechterrollenverteilung vielleicht auch nie finden wird. Frauen arbeiten und leisten Care-Arbeit, vielleicht in einer größeren Selbstverständnisdimension als bei uns in Deutschland. Die Protagonistin wirkt, wie ein Blatt im Herbstwind, das von den Stürmen herumweht wird, sich kurz ausruht und atmet, um gleich von der nächsten Böe erfasst zu werden. Da ist weder Eigeninitiative, noch Resignation, sondern einzig befremdliche Stille und Akzeptanz. Eine durchaus empfehlenswerte kurze Geschichte.

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Veröffentlicht am 03.06.2024

Obwohl gut erzählt habe ich mich außenvorgelassen gefühlt

Zitronen
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Lilly Drach hatte zu dem vollgestellten Haus, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte, keine besondere Beziehung. Am ehesten lag ihr noch der Garten aber nicht ein ums andere Jahr. Mal gelang ihr die Apfelernte ...

Lilly Drach hatte zu dem vollgestellten Haus, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte, keine besondere Beziehung. Am ehesten lag ihr noch der Garten aber nicht ein ums andere Jahr. Mal gelang ihr die Apfelernte und sie kochte den ganzen Sommer Kompott, das August und sie tagelang aßen. Im nächsten Jahr ließ sie alles wie es war und krümmte keinen Finger.

August war ein ruhiger Junge, das verdankte er seinem Vater.

Mit zehn kannte August die Macht der Kränkung. Er wusste, dass er gerade stehen sollte, keinen Lärm machen, sein Zimmer aufräumen, dass aus ihm nie etwas werden würde, dass er dumm war, dass er nicht so blöd schauen sollte, dass es besser gewesen wäre, man hätte ihn abgetrieben, dass er sich nicht so anstellen dürfe, dass jetzt alles wieder gut war. S. 27

Nachdem der Vater zugeschlagen hat, tröstet die Mutter. Die Mutter interveniert, möchte von August wissen, wen er lieber mag, wen er retten würde, wenn das Haus brenne, Vater oder Mutter?

Wenn der Vater nachts nach Hause kam unterhielt er die Hunde, mit einem Tänzchen oder einer Jonglage.

Die beiden Hunde waren des Vaters bestes Publikum, hörig und unbeeindruckt gleichermaßen. S. 33

Dann war der Vater eines morgens weg und die Mutter schminkte sich wieder. Sie grämte sich, weil sie keinen Mann hatte. Von da an, kam zwischen die Mutter und den August eine eigenartige Distanz und fast sehnte sich August wieder nach seinem Vater, damit er von der Mutter getröstet werden konnte.

Fazit: Die Autorin zeigt uns zerstörerischste Familienumstände in der jeder, eigene Unzulänglichkeiten zu kompensieren versucht. Der Vater lässt seinen Frust an seinem Sohn aus, die Mutter missbraucht und manipuliert den Sohn, um von ihm wahrgenommen zu werden und um sich nach den väterlichen Attacken besser zu fühlen, weil sie nichts unternommen hat. Das gesamte Klima ist rau, herzlos und Mittel zum Zweck. Die Sprachmelodie ist etwas altbacken, deshalb kann ich die Zeit nicht einschätzen, in der die Geschichte spielt. Und obwohl Valerie Fritsch einen großartigen Schreibstil hat, konnte sie mich nicht abholen. Die ganze Erzählung hat mich außen vorgelassen. Ich habe mich nicht eingeladen gefühlt, als sei es nicht für mich erzählt. Wohl habe ich den Kopf geschüttelt, an vielen Stellen, weil die Eltern ihrem Kind das ganze Leben versauen. Auch finde ich das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom arg gut gezeigt. Und doch hat das Buch mein Herz nicht erreicht.

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Veröffentlicht am 22.05.2024

Ein wunderbar bewegendes Buch

Auf Erden
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Katharina holte sie vom Krankenhaus ab, in dem ihr Vater lag. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz, stellte die Lehne nach hinten und starrte in den Sternenhimmel. Katharina fragte , wohin sie wollte? ...

Katharina holte sie vom Krankenhaus ab, in dem ihr Vater lag. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz, stellte die Lehne nach hinten und starrte in den Sternenhimmel. Katharina fragte , wohin sie wollte? „Fahr einfach, meinetwegen im Kreis bis der Tank leer ist“: Katharina fuhr mit dem Mietwagen, der klapperte und fauchte durch die Nacht und sie erinnerten sich an damals.

Sunny war zwei, als sie mit den Händen an das Krankenhausbett gefesselt war. Der Durst rieb wie Schmiergelpapier in ihrem Hals. Vater kam, löste die Fesseln, ließ sie trinken, hob sie hoch und trug sie nach Hause. Auf eigene Verantwortung riefen sie ihm hinterher.

Sunnys Vater kaufte Musikinstrumente, an die sie sich herantasteten und richtete ihr und ihren beiden Brüdern einen Proberaum unter seiner kleinen Tischlerwerkstatt ein.

Sunny traf Jessi zum ersten Mal in der Schulaula und sah verstohlen auf die feinen Narben an Jessis Handgelenken. Später fand sie heraus, dass sie von ihrem Vater geschlagen wurde, was sie mit einer übergroßen Sonnenbrille zu verbergen suchte.

Katharina, das war die ohne Vater, er war weggegangen als sie noch ganz klein war. Sunny sah ihren Kummer, wenn sie anderen Vätern mit ihren Kindern beim Spiel zusah.

Alma, die vierte im Bunde hatte sie einmal mit ihrem Vater in der Stadt getroffen. Er war klein, sprachlos und seine Augen blickten nervös umher. Es war Alma unangenehm, dass Sunny ihn so angestarrt hatte.

Sie waren vier Mädchen, die nichts trennen konnte, bis sie älter wurden, ihre Berufe, andere Freundinnen fanden und das Band poröser wurde.

Fazit: Ein schönes Porträt über Freundschaft, unterschiedliche Herkunftsfamilien, über gesunde (nicht toxische) Männlichkeit, Verlust und den Umgang mit Trauer. Obwohl Anne Kanis eine Ich-Erzählung geschaffen hat, so authentisch wie ein Memoir oder eine Biografie, ist ihre Geschichte fiktiv. Voller Sensibilität erzählt sie die Freundschaft von vier Freund
innen, die sich einige Lebensjahre begleiten und die so unterschiedlich sind wie ihre Väter. Obwohl die Autorin viele traurig stimmende Momente einbringt, macht sie auch Mut, darüber, wie das Leben immer weiter geht und wie wir Herausforderungen meistern, um geläutert und/oder bestärkt daraus hervorzugehen. Ich habe mich in den Charakter von Sunnys Vater verliebt und dieses wunderbar bewegende Buch sehr gerne gelesen.

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Veröffentlicht am 10.05.2024

Ein gelungenes Memoir

Die roten Stellen
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2004 wird der Fall Jane wieder aufgerollt. Sie starb 1969, im Alter von 23, in der Nähe der Universität, an der sie ihr erstes Studienjahr in Jura absolvierte. Man fand sie abgelegt auf einem Friedhof, ...

2004 wird der Fall Jane wieder aufgerollt. Sie starb 1969, im Alter von 23, in der Nähe der Universität, an der sie ihr erstes Studienjahr in Jura absolvierte. Man fand sie abgelegt auf einem Friedhof, zwei Einschusslöcher im Kopf, Strumpfhose um den Hals.

Seit Jane getötet wurde, entwickelte ihre damals 25 jährige Schwester diverse Ängste, die sich auch auf ihre Tochter Maggie übertrugen. Maggie ist Schriftstellerin und hat einen Gedichtband über ihre Tante geschrieben. Der Versuch Janes Schicksal aufzuarbeiten, ihr eine Stimme zu geben, führte bei ihr zu täglicher Analyse und nächtlichen Albträumen, in denen ihr oder ihrer Familie Gewalt angetan wurde und sie selbst gewalttätig war.

Während des Prozesses verspürt Maggie den heftigen Drang, die Prozessdetails aufzuzeichnen, bevor sie verschluckt werden, für immer in die Sprachlosigkeit verbannt.

Ein Ziel, das ich während des Schreibens hatte, war es, den Ereignissen des Mordprozesses, den Ereignissen meiner Kindheit, den Ereignissen vor Janes Ermordung und dem Akt des Schreibens zu gestatten, sich einen einzelnen gemeinsamen räumlichen und zeitlichen Moment zu teilen. S. 10

Während der Anhörung wurden die Tatortfotos von einem Gerichtsmediziner beschrieben, was Mutters Hände und Oberschenkel zum Zittern brachte. Der Wunsch Mutter möge der Situation mit breiter Brust begegnen war so groß, dass sie ihr Leid vergaß.

Fazit: Maggie Nelson schreibt über den Mord an ihrer Tante und über sich selbst. Dabei verarbeitet sie ihr Verhältnis zu ihrer Mutter und zu ihrer eigenen Schwester, die, ähnlich rebellisch, wie Jane war, während sie selbst immer unter dem Radar flog. Sie schreibt über den zu frühen Verlust ihres geliebten Vaters. Wie sie während ihrer Jugend Ruhe und Trost im Alkohol fand. Ihre Art zu schreiben ist großartig, ruhig beschreibt sie ihr Erleben während des Prozesses, die Geilheit der Presse, mit dem Leid ihrer Familie Quote zu machen. Die Frage, was eigentlich Gerechtigkeit bedeutet bewegt sie: Ergibt es irgendeinen Sinn, ein Leben gegen ein anderes aufwiegen zu wollen? Ist dieser Mann überhaupt schuldig. Wie verlässlich ist eine (so alte) DNA-Probe? Mit großer Sensibilität beschreibt sie, wie ihre Familie mit den Eindrücken umgeht. Es ist die gelungene Analyse, einer Frau, die die Ereignisse ihrer Familie und ihres eigenen Lebens angenommen hat, die ich sehr gerne gelesen habe.

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Veröffentlicht am 08.05.2024

Eine fein ausgearbeitete kleine Geschichte

Komm tanzen!
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Robbie und Cora geben eine ihrer legendären Partys. Sie haben sie alle eingeladen, ihre alten Verbündeten. Auch Lotte ist dabei, Coras jüngere Schweste. Sie steht abseits, lässt ihren Blick umherschweifen. ...

Robbie und Cora geben eine ihrer legendären Partys. Sie haben sie alle eingeladen, ihre alten Verbündeten. Auch Lotte ist dabei, Coras jüngere Schweste. Sie steht abseits, lässt ihren Blick umherschweifen. Schaut in den blaurosa dämmernden Abendhimmel, lässt das frische Grün der Birkenäste auf sich wirken, die im sanften Wind wehen. Ihr Blick ruht kurz auf dem See, der dabei freigegeben wird. Sie spürt das Gras und die frische Erde unter ihren nackten Füßen. Fragt sich, was sie hier machen, was sie sich von diesem Abend versprechen, aber nur kurz.

Robbie und Cora klammern sich mit aller Kraft an Momente wie diese, an ihre Freunde, das Feiern, an das Versprechen der Nacht, um der Hexe zu entkommen, die ihre ungeborenen Kinder nimmt.

Die schöne Claire sitzt am Klavier und lauscht Tom, der ein paar Takte anstimmt, man muss sie einfach lieben. Tom wegen seinem unerhört guten Aussehen und weil er ihr schon immer die größtmögliche Sicherheit gegeben hat und Claire wegen ihrer zarten Stärke, die sie dazu bewegt, ihr Schicksal anzunehmen und das beste daraus zu machen.

Unten sieht sie Bulle im Schlüppi ins Wasser rennen. Lachen brandet auf. Lotte denkt an die Schildhornsage:

Wer sich an den Schätzen der Nixe vergreift, den holt sie sich. S. 7

Fazit: Eine fein ausgearbeitete kleine Geschichte, die mich in ihren Bann gezogen hat. Lucia Jay von Seldeneck hat mit großer Erzählkunst interessante Charaktere gezeichnet. Ihre Beobachtungsgabe lässt sie in aller Ruhe in diese sinnliche Geschichte einfließen. Die Autorin lässt die Protagonistin Lotte, die jüngste Vergangenheit aufarbeiten, dabei erzählt sie mir von den einzelnen Menschen, die sie umgeben und welche alltäglichen Schwierigkeiten diese fast verzweifeln lassen. Zum Ende hin kippt die Partystimmung in rauschhaften Übermut. Eine Katastrophe bahnt sich an und gibt der Geschichte ein rasantes Tempo. Eine klare Leseempfehlung.

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