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Veröffentlicht am 12.02.2021

Trennende, unsichtbare Mauern

Fast ein neues Leben
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„Einfacher war es, alles zu verstecken, was anders war. Deshalb versteckte ich meine Eltern, meine alte Sprache. Ich ahnte, dass ich mich selbst betrog.“ S. 62

In zwölf Episoden entfaltet Anna Prizkau ...

„Einfacher war es, alles zu verstecken, was anders war. Deshalb versteckte ich meine Eltern, meine alte Sprache. Ich ahnte, dass ich mich selbst betrog.“ S. 62

In zwölf Episoden entfaltet Anna Prizkau ein zusammenhängendes Leporello über das schambehaftete Gefühl, sich immer fremd zu fühlen – egal, wie sich die Protagonistin auch anstrengt, ihr altes Land, ihre alte Sprache zu verstecken und hinter sich zu lassen.

Die namenlose Ich-Erzählerin ist Tochter russischstämmiger Einwanderer und möchte unbedingt in Deutschland ‚dazugehören’ – doch sie stößt auf Widerstand, Anfeindung und Ignoranz, teils subtil, teils offensiv. Prizkau entwirft dabei eindringliche, aber keine aufdringlichen Kurzgeschichten, die nicht chronologisch angeordnet ein beklemmendes Bild von dem Heranwachsen der Erzählerin zeichnen: Schulzeit, Studium, Arbeitsamt, erste Berufserfahrungen, Familienbesuche im alten und neuen Land, Freundschaften, erste Beziehungen. Manches wirkt wie aus Erinnerungen zusammengewürfelt und bringt auch die naive Sicht eines Kindes mit ins Spiel – was umso beklemmender nachhallt.

Beobachtet die Autorin ihre Charaktere zwar recht distanziert aus der Ferne, gibt sie dennoch eine präzise Innenansicht von Einwanderungsland, Menschen und kulturellen Unterschieden ab. Feine, subtile Sprachbilder wechseln mit der Härte des Nichtankommens und der Herabwürdigung. Die psychische Krankheit der Mutter nach der Einwanderung hängt wie ein Damoklesschwert über den Erzählungen, in denen die Protagonistin mit allen Mitteln versucht, ihre Eltern und Herkunft zu verschweigen. Doch nicht nur sie spielt Verstecken – auch so manche Mitmenschen tun dies, indem sie alte Naziverstrickungen der Familie, Essstörungen oder auch ihre Herkunft verleugnen – letztere werden von der Erzählerin nicht geschätzt, spiegeln sie doch ihr eigenes Verhalten wider. Und so enttarnt Prizkau sehr gekonnt menschliche Grundmuster, eingebettet in zwölf atmosphärischen, traurigschönen Erzählungen, die sich am Ende zu einem dichten Episodenroman zusammenfügen. Auch durch den Kniff, nicht alles auszuerzählen und eher eine knappe Sprache zu verwenden: Das Schöne und Wesentliche schwelt im Ungeschriebenen. Positiv hervorzuheben ist auch, dass die Erzählungen universell für jede Einwanderergruppe aus jedem „alten Land“ stehen kann und verschiedene Milieus anspricht.

Auf trennende, unsichtbare Grenzen der Zurückweisung und des Fremdseins stößt die Protagonistin im „neuen Land“ immer wieder – und doch wirkt sie sehr kraftvoll, was dem Buch eine große Hoffnung zwischen all der Traurigkeit und Verlorenheit verleiht.

Ein wichtiges, poetisches und melancholisches Werk – ohne Sentimentalität und Ausschmücken, aber mit großer Wucht.

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Veröffentlicht am 12.02.2021

Ein Leben für die Gerechtigkeit

Annette, ein Heldinnenepos
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Ein ungewöhnlich experimentierfreudiger und gelungener Roman über eine noch außergewöhnlichere Frau – Anne Weber hat der Lebensgeschichte der französischen Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir ein geschriebenes ...

Ein ungewöhnlich experimentierfreudiger und gelungener Roman über eine noch außergewöhnlichere Frau – Anne Weber hat der Lebensgeschichte der französischen Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir ein geschriebenes Denkmal voller Originalität und sprachlich einzigartiger Finessen gewidmet; ein fast schon gesungenes, modernes und rhythmisches Epos ohne Mystifizierung oder politisch-moralischem Zeigefinger und mit viel subtilem Humor sowie umwerfenden Sprachbildern.

Mit 16 tritt die in einem bretonischen Fischerdörfchen geborene Anne, genannt Annette, in die Résistance ein, versteckt und rettet jüdische Kinder vor den Nationalsozialisten in Frankreich, wird Kommunistin und in den 50er-Jahren Kofferträgerin der algerischen Befreiungsbewegung FLN. Getrieben im Einsatz für eine gerechte, freie und gleiche Welt, muss die gelernte Neurophysiologin und Ehefrau auch ihre drei Kinder hinter sich lassen – sie wird zu einer 10-jährigen Gefängnisstrafe verurteilt und lebt nach der Flucht im Exil.

Anne Weber erzählt Annettes bewegende und spannende Biografie mit großartiger Erzählkunst abseits des Gängigen in melodischen Versen und mit vielen sprachlichen Spielereien auf hohem Niveau – und Sprecherin Christina Puciata setzt der großen Kunst mit ihrer Intonation und dem präzisen Einsatz ihrer zauberhaften Stimme noch eins drauf. Es ist ein Vergnügen, den Lebenspassagen Annettes, eingebettet in großen historischen Weltereignissen in Versform zu lauschen – Puciata spricht als Eposerzählerin die Zuhörer gewitzt an und nimmt sie sogartig mit auf eine biografische Reise, jeder Vers, französischer Ausdruck oder eingeschobene Zitate von Camus treffsicher betont. Grausame Gräueltaten gewinnen durch eine feine, subtile Ironie an Distanziertheit und in den kleinen Pausen kann der Hörer in Annettes Innenleben, Gedankenwelt und Zwiegespräche voller Poesie tauchen.

Anne Weber hat mit „Annette, ein Heldinnenepos“ trotz heldenhafter und entschlossener Taten keine Hagiografie geschaffen, sondern den außergewöhnlichen Lebensweg einer Frau erzählt, der auch Freiraum zum kritischen Hinterfragen lässt - zahlreiche unschuldige Opfer gehen beispielsweise auf das Konto der FLN.

Ein hochwertiger Hörgenuss mit ergreifender Stimme und Sprache - von Anfang bis zum Ende!

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Veröffentlicht am 03.06.2025

Die Abgehängten

Der Kaiser der Freude
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Nach seinem weltreich erfolgreichen Debütroman „Auf Erden sind wir kurz grandios“ veröffentlichte Ocean Vuong ein Gedichtband – nun hat er seinen zweiten Roman „Der Kaiser der Freude“ geschrieben, in dem ...

Nach seinem weltreich erfolgreichen Debütroman „Auf Erden sind wir kurz grandios“ veröffentlichte Ocean Vuong ein Gedichtband – nun hat er seinen zweiten Roman „Der Kaiser der Freude“ geschrieben, in dem er seinen jungen Protagonisten Hai zwischen Hoffnung, Tristesse und menschlichen Zusammenhalt in einer trostlosen US-Provinzstadt pendeln lässt.

Der junge Studienabbrecher mit vietnamesischen Wurzeln Hai will sich eigentlich von einer Brücke in der fiktiven Kleinstadt East Gladness in Connecticut stürzen – da halten ihn die Rufe der 82-jährigen Grazina auf. Sie ist vor längerer Zeit aus Litauen eingewandert, an Demenz erkrankt, braucht allerhand Medikamente und sucht in ihrem Haus Unterstützung im täglichen Ablauf. Kurzerhand bilden die beiden ein Gespann und Hai zieht ein – seiner Mutter gaukelt er am Telefon vor, noch zu studieren, aber er sucht sich einen Job im nahegelegenen Schnellrestaurant. Dort trifft er auf weitere von der Gesellschaft „abgehängten“ Menschen, die zwar alle vom Leben gebeutelt sind und ihre Schrullen haben, aber gemeinsam ein stützendes Team bilden. Bei Grazina kommen nachts die Geister der Vergangenheit halluzinatorisch zutage, die sich mit ihrer Demenzkrankheit vermischen – hier versucht Hai zu beruhigen und gemeinsam bilden sie ein Gespann, das Halt im Gegenüber und im Geschichten erzählen findet. Denn auch Hai kämpft mit den Traumen seiner Vergangenheit, die von Opioidsucht und dem Verlust eines nahen Freundes geprägt ist – bewegende Rückblenden bringen ihn zudem in sein Heimatland zu der schizophrenen Großmutter.

Ocean Vuong ist sehr sprachgewandt und lyrisch – einzigartige Metaphern, in denen sich die Natur und die Stadt gleichsam spiegelt, treffen auf menschliche Zerrissenheit. Dass die Geschichte nicht ins Kitschige überdriftet, meistert der Autor mit seinem klugen Humor und seiner einfühlsamen Poesie – gekonnt navigiert er durch tiefe Traurigkeit und absurd-komischen Erlebnissen. Auf knapp über 500 Seiten hat Ocean Vuong einen sehr lesenswerten Bildungsroman entworfen, der neben der facettenreichen Selbstfindung des Protagonisten im Außen zahlreiche Themen aufgreift: die Opioidkrise in den USA, der harte Arbeitsmarkt im Kapitalismus, Einwanderung in die USA, industrielle Tierschlachtung, Mental Health, Queerness, Kriegstraumata, Abnabelung von der Familie, ohne die Wurzeln zu verlieren.

Zwischen viel Hoffnungslosigkeit in prekären Verhältnissen leuchtet immer wieder die Freude über das Leben in diesem empfehlenswerten Roman – und Ocean Vuong jongliert bravourös und mit viel Erzählfreude durch die scharf beobachtenden Augen seines Protagonisten durch diese Höhen und Tiefen in der amerikanischen Provinzstadt.

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Veröffentlicht am 15.11.2024

Die verletzte Frau

Unversehrt. Frauen und Schmerz
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Die Journalistin Eva Biringer gibt in ihrem essayistischen Sachbuch „Unversehrt“ den Schmerz ihrer Großmutter, ihrem eigenen, aber vor allem den Frauen an sich eine profund recherchierte und bewegende ...

Die Journalistin Eva Biringer gibt in ihrem essayistischen Sachbuch „Unversehrt“ den Schmerz ihrer Großmutter, ihrem eigenen, aber vor allem den Frauen an sich eine profund recherchierte und bewegende Stimme zum Thema Schmerz – dabei wird beim eindringlichen Lesen klar, dass die Geschichte des weiblichen Schmerzes bis heute von vielen Verletzungen und patriarchalischem Übergehen geprägt ist. Unversehrt und ernst genommen bleiben die wenigsten Frauen – eher werden sie in die psychosomatische (früher gar hysterische) Schublade gesteckt, bevor eventuell nach vielen Jahren eine weiterführende, ärztliche Diagnostik erfolgt.

Mit der persönlichen Geschichte der schmerzgeplagten und mit Benzodiazepinen ruhig gestellten Großmutter beginnt das packende Buch und sie dient auch als roter Faden – daneben spannt Eva Biringer einen weiten, lehrreichen Bogen um die Betrachtung des Phänomens Schmerz aus gesellschaftlicher, kultureller, wissenschaftlicher Sicht und sogar im kunsthistorischen Kontext: Von der leidenden Maria Mutter Gottes bis hin zur Performancekünstlerin Marina Abramović.

Strukturiert und klar im sprachlichen Ausdruck arbeitet die Autorin mit vielen Quellen, Studien und Verweisen auf andere Autor*innen, welche am Ende im umfangreichen Anhang aufgelistet werden. So dienen beispielsweise die essayistischen Schriftstellerinnen Elinor Cleghorn und Leslie Jamison als Vorbilder und Verfasser wichtiger Werke in diesen Themengebieten.

Die Vielzahl an Betrachtungsweisen, Themen und Reflexionen packt Biringer in eine flüssig-unterhaltsame Sprache – stellenweise ist diese wütend, humorvoll oder einfach analystisch, aber immer intensiv, feministisch und scharfsinnig.

„Unversehrt“ ist eine kluge, gesellschaftskritische Analyse und macht am Ende nachdenklich bis wütend. Überfällig und sehr lesenswert!

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Veröffentlicht am 04.07.2024

Landkarte des Lebens

Mitte des Lebens
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Die Schweizer Autorin und Philosophin Barbara Bleisch ergründet in ihrem klugen Sachbuch „Mitte des Lebens“ die verschiedenen Facetten und Richtungen in der Lebensmitte eines Menschen. Dabei ist kein Ratgeberbuch ...

Die Schweizer Autorin und Philosophin Barbara Bleisch ergründet in ihrem klugen Sachbuch „Mitte des Lebens“ die verschiedenen Facetten und Richtungen in der Lebensmitte eines Menschen. Dabei ist kein Ratgeberbuch entstanden, sondern eine pointierte philosophische Betrachtung, welche Wegegabelungen, Krisen und Chancen auftreten können.

Dabei betrachtet Bleisch das Leben als eine Art Topografie, eine Landschaftskarte mit Hochplateaus oder Tälern, abgeschnittenen Wegen und Pfade, die noch eingeschlagen werden können. Unterteilt in sieben Kapiteln nähert sich die Autorin tiefgründig und essayistisch verschiedenen Turbulenzen, existenziellen Fragen und Neuausrichtungen in der Lebensmitte: Die Einsicht, dass die Hälfte des Lebens vorbei ist und die eigene Sterblichkeit bewusster werden kann, die Rückschau, die manchmal in Reue und Bedauern, aber auch Dankbarkeit ausfallen kann und dass alles von einer Ambivalenz umwoben ist und die Frage, ob der eingeschlagene Weg passt oder eine andere Ausrichtung besser zur Biografie und neuer Lebensfülle passt.

Pointiert und garniert mit vielen (im langen Anhang erläuterten) Zitaten sowie Schicksalen bekannter Dichter, Denker und Autoren gelingt es Bleisch, dass ihr packendes Buch über die mittlere Lebensphase nie langweilig wird, sondern immer weitere erhellend-spannende Reflexionen spannt, die zum Nachdenken animieren. Ein empfehlenswertes Buch, das immer wieder aufgeschlagen werden kann, um in Bleischs faszinierender Kartografie der mittleren Jahre abzutauchen und für sich selbst den aktuellen Standort in der Landkarte des Lebens zu ergründen.

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